§ 18. Weshalb es nichts Unvermitteltes geben kann

Ein Unvermitteltes, ein Ding an sich, lässt sich nicht vorstellen, und zwar bis zu dem Punkt, an dem es schwierig wird, sich ein solches überhaupt zu denken. Denn geht man zurück bis zu den ersten und letzten Dingen, so erscheint bloß noch so etwas wie Geist und erscheint bloß so noch etwas wie Welt, aber sie erscheinen nicht als Größen, die unabhängig voneinander existierten, sondern sie sind zuallererst durch das sonderbare Verhältnis gegeben, das sie zueinander eingehen und das eines der Vermittlung ist, wodurch der Geist unter der Bedingung der Welt, die Welt unter der Bedingung des Geistes erscheint, ohne dass diese Vermittlung selbst gänzlich begreiflich werden könnte.

§ 19. Das Medium, als Leben vorgestellt. Das Leben, als Medium vorgestellt

Dass ich bewusst die Grenzen der Wissenschaften verwische und Dinge zusammenbringe, die nicht zusammengehören, dass ich es als notwendig erachte, vom Allgemeinen und Besonderen, von Geist und Welt zu sprechen, um eine Kunstform zu begreifen, all dies ist Ausdruck eines Denkens, das den Paradigmenwechsel bereits vollzogen hat, der sich mit dem Hervortreten einer Kunstform aufdrängt, welche die allgemeine Form des Lebens annimmt. Die Grenze zwischen dem Begriff des Mediums als dem Künstlichen und Besonderen und dem Begriff des Lebens als dem Natürlichen und Allgemeinen wird sich infolge dieser Entwicklung zwar nicht vollkommen auflösen, aber sie muss begrifflich neu bestimmt werden. Wodurch aber bestimmt sich eine neue Grenze? Eine neue Grenze bestimmt sich dadurch, dass das Medium unter den Bedingungen des Lebens, das Leben unter den Bedingungen des Mediums erscheint, infolgedessen das Medium ein Stück weit als Leben, mithin als ein Natürliches und Allgemeines, das Leben ein Stück weit als Medium, mithin als ein Künstliches und Besonderes, begreiflich wird.

§ 20. Die zwei Fragen einer Formwissenschaft als Fragen nach dem Schein

Dies bedeutet nicht, dass die klassische Frage der Formwissenschaft nach der Differenz von Medium und Leben nicht mehr von Bedeutung ist, denn die Erfahrungen, welche die neue Kunstform bietet, unterscheidet sich in mancherlei Hinsicht von den Erfahrungen des Lebens, auch deshalb, weil sie bloß die Form des Lebens nachahmt und selbst diese unvollständig. Es bedeutet lediglich, dass das Fragen nicht mehr allein in dieser Differenz aufgeht und dass ein Begreifen dessen nottut, worin die allgemeine Form des Lebens als eine Form und nicht als etwas schlicht Gegebenes, Unvermitteltes besteht. Diese Frage fragt nicht nach der Differenz von Medium und Leben, sie fragt nach der Eigengesetzlichkeit des Lebens als einer Vermittlung von Geist und Welt. Beide Fragen haben zum Ziel, hinter den Schein zu gelangen, wobei solcher dadurch zustande kommt, dass die Eigengesetzlichkeit unter weitere, ihr wesensfremde Gesetze tritt, folglich unter veränderten Bedingungen erscheint. Nicht von ungefähr war das formwissenschaftliche Fragen einer Medienwissenschaft oft allein dadurch motiviert, Mechanismen der Suggestion aufzudecken. Dass die Zehnte Kunstform die allgemeine Form des Lebens annimmt, bedeutet nicht, dass sie gegen Missbrauch gefeit ist. Gerade das Gegenteil ist der Fall, und zwar deshalb, weil die allgemeine Form des Lebens die Anmutung eines Natürlichen und Allgemeinen besitzt, sie wird unsichtbar, wodurch sie ein größtmögliches Maß an Suggestionskraft entwickelt. Hieraus lässt sich folgern, dass die Frage nach dem Schein sich für kein Medium mit so viel Nachdruck stellt wie für ein Medium, das die allgemeine Form des Lebens annimmt. Diese Frage aber fragt nach der Eigengesetzlichkeit des Lebens.

§ 21. Die Wende zum Leben

Was für das Medium gilt, dass es im doppelten Sinne nur in Abhebung von demjenigen überhaupt zu denken ist, dem es zugrunde liegt, dem Leben nämlich, in das es, wie alles andere auch, eingelassen ist, das gilt auch von Kunstwerken. Kunstwerke sind Erscheinungen, die nur dadurch begreiflich werden können, dass man deren Verhältnis zu einer allgemeinen Form des Lebens untersucht. Die paradigmatische Auffassung eines solchen Verhältnisses bestand bisher weitgehend darin, dass man die Eigenständigkeit von Kunstwerken betonte, also den Umstand, dass diese ihre eigene Form von Realität erzeugen. Eine solche Auffassung ist zwar richtig, allerdings gilt dasselbe auch von deren Gegenteil, denken wir im Einklang mit der Dialektik von Natur und Kunst: dass Kunstwerke mitnichten eigenständig sind, sondern nur vermöge dessen ihre eigene Realität erzeugen, als solche auf eine Realität verweisen, die bereits existiert. Die Wende zum Leben zu vollziehen bedeutet, dem Bewusstsein Raum zu verschaffen, dass dasjenige, worin alles, was Gegenstand werden kann, notwendig eingelassen ist, solchem nicht als ein Unvermitteltes, mithin Reines und schlicht Gegebenes zugrunde liegt, sondern selbst eine Form besitzt, wodurch das Leben in der Folge als ein Medium vorstellig wird, das allem, was innerhalb dessen erscheint, all seinem Inhalt eine, nämlich seine ureigene Form aufprägt. Der Vorstellung einer allgemeinen Form des Lebens liegt der Gedanke zugrunde, dass solch eine Form sich zeigen und beschreiben lassen muss.

§ 22. Eine Umkehrung der Perspektive

Somit wird alles, was erscheint, vom Leben her gedacht. Solch eine Umkehrung der Perspektive hat weitreichende Konsequenzen, besonders für Wissenschaften, die sich mit Artefakten befassen, etwa einer Bildwissenschaft, welche das Bild und die Bildbetrachtung noch heute wie etwas behandelt, das einen von der Welt und der allgemeinen Form des Lebens gänzlich unabhängigen Charakter besitzt, als hätte das Bild vor der Welt und die Betrachtung des Bildes vor der Betrachtung der Welt, vor dem Blick in die Welt existiert. Das Bild kann nur im Hinblick auf die Welt und die Betrachtung des Bildes nur im Hinblick auf jenen Urblick begreiflich werden. Denn das Bild liegt nicht der Welt, die Welt liegt dem Bild zugrunde und die Betrachtung des Bildes liegt nicht dem Leben, das Leben liegt der Betrachtung des Bildes zugrunde.