Die Wiederentdeckung der Welt

§ 45. Zu dem Umfang der Verhältnisform des Lebens

Worin besteht der Charakter des Lebens als einer Verhältnisform? Der Umfang einer Verhältnisform ist definiert durch seine Bedingungen, folglich ist der Umfang der Verhältnisform des Lebens durch Geist und Welt bestimmt, welche als erste und letzte Bedingungen die Grundlage aller Verhältnisformen bilden. Das Leben nimmt als Verhältnisform den größtmöglichen Umfang an und ist als die Form des Allgemeinen schlechthin Maßstab für alle anderen Verhältnisformen, die sich innerhalb ihrer eröffnen. Doch wie steht es um die Gestalt dieser Verhältnisform?

§ 46. Zu der Gestalt der Verhältnisform des Lebens

Die dominierende Verhältnisqualität ist diejenige des Wirklichen. Diese bildet die Grundlage der Verhältnisqualität des Sinnlichen, während sowohl das Wirkliche als auch das Sinnliche in der Einheit der Welt die Grundlage bilden für die Verhältnisqualität des Geistigen. Man könnte sagen, dass das Verhältnis, das diese drei Verhältnisqualitäten in der übergeordneten Einheit des Lebens zueinander eingehen, seiner logischen Form nach die Gestalt einer Verschachtelung annimmt.

§ 47. Die ontologische Natur des Vorrangs

Solcher Gestalt zufolge besitzt das Wirkliche gegenüber dem Sinnlichen und Geistigen und das Wirkliche und Sinnliche gegenüber dem Geistigen einen Vorrang, wodurch für das Leben eine Art Rangfolge dieser Verhältnisqualitäten vorgestellt werden kann. Diese Rangfolge aber ist nicht struktureller, sondern ontologischer Natur. Das in der Welt gründende Wirkliche und Sinnliche und das im Geist gründende Geistige sind strukturell gesehen gleichwertige Zugänge zum Leben, gleichwohl existiert für das Leben, unter einem ontologischem Gesichtspunkt, eine Rangfolge dieser Verhältnisqualitäten. Dies zeigt sich beispielsweise in der Entwicklung eines Menschenlebens, dass es zunächst im Wirklichen und Sinnlichen aufgeht und erst mit der Zeit seine vollen Verstandeskräfte herausbildet. Ich habe in der fünften Betrachtung begründet, weshalb ich den Ausdruck des Wirklichen verwende: einmal, weil mit dem Umstand, dass etwas wirkt und wirken lässt, die Natur dieses fundamentalsten Phänomens getroffen ist, einmal, weil es dessen ontologischen Rang deutlich werden lässt. Das Wirkliche und das Sinnliche sind die Grundlagen des Realen, weshalb man vom Wahnsinn auch als einer Umkehrung des Verhältnisses von Geist und Welt sprechen könnte, bei welcher der Geist in reiner Selbstbespiegelung zur Grundlage des nunmehr Irrealen wird.

§ 48. Weshalb ich vom Leben spreche

Das Verhältnis, das wir zur Welt haben, ist durch das Wirkliche, mithin Handlung dominiert, und zwar allein schon aufgrund des Umstands, dass wir uns in einem Körper befinden. Deshalb spreche ich nicht von der Existenz oder dem Dasein, sondern vom Leben. Nicht bloß, weil das Leben als Vermittlung von Geist und Welt etwas darstellt, das wesentlich Vollzug ist. Zu leben heißt zunächst einmal, dass man des Wirklichen teilhaftig ist, des Wirklichen teilhaftig zu sein aber heißt, dass man handelt.

§ 49. Die zwei Formen der Auflösung des Dialektischen. Gabe und Empfängnis. Der Stein der Weisen

Zwei Gefahren drohen dem Leben als eine den Gesetzen des Dialektischen unterstehende Vermittlung von Geist und Welt: dass eine dieser Größen sich vollkommen durchsetzt und dass diese Größen in einem vollkommenen Gleichgewicht stehen. Deshalb gründet die Natur des Dialektischen in einer zweifachen Bewegung, die kein Ende kennt und sicherstellt, dass einmal Ersteres, einmal Letzteres dominiere. Dass ein vollkommenes Gleichgewicht dieser Größen ebenso gefährlich ist wie die vollkommene Durchsetzung einer dieser Größen, zeigt sich, wenn man sich mit der Natur der Bestimmung eines Seienden als dem Versuch befasst, jenes, wodurch ein Seiendes bestimmt ist, zu bestimmen. Eine solche Bestimmung besteht darin, etwas zu geben und etwas zu empfangen. Aber dasjenige, was man gibt, beruht immer schon auf etwas, das man empfangen hat, und dasjenige, was man empfängt, beruht immer schon auf etwas, das man bereits gegeben hat, so dass Gabe nicht schlechthin Gabe und Empfängnis nicht schlechthin Empfängnis ist, so dass man am Ende nicht einmal mehr sagen kann, was Gabe und was Empfängnis ist. Wir stürzen einem Grund entgegen und was uns dabei befällt, ist der Schrecken. Alle Fragen der Philosophie münden letzten Endes in diesen Grund: die Frage, ob Raum und Zeit im Geist oder in der Welt gründen oder die Frage nach jenem geheimnisumwitterten Ort, an welchem der Geist in Welt und die Welt in Geist übergeht. Letztere Frage ist die Frage nach dem Stein der Weisen, die Frage aller Fragen, deren Beantwortung deshalb unmöglich ist, weil Geist und Welt dort in eine undurchdringliche Einheit übergehen.