§ 65. Der Vorrang einer Verhältnisqualität als Bedingung für die Dichte einer Verhältnisform

Ahmt eine Kunstform die Verhältnisform des Lebens nach, so ahmt sie dasjenige nach, was ich die allgemeine Form des Lebens nenne. Solches muss sie jedoch keineswegs. Das Wesen der Kunst gründet seit jeher in der Freiheit, sich von dieser ersten und letzten Verhältnisform zu lösen, indem sie sich der Möglichkeit bedient, deren Gestalt und Umfang neu zu definieren und auf diese Weise zu unentdeckten Verhältnisformen eigenständigen Charakters zu gelangen. So hat sich die Musik von der allgemeinen Form des Lebens allein schon dadurch gelöst, dass sie den Schwerpunkt auf eine andere Verhältnisqualität, diejenige des Sinnlichen, gelegt hat. In ihr wird eine andere Verhältnisqualität als die des Wirklichen dominant, was dafür spricht, dass der Vorrang einer Verhältnisqualität innerhalb einer Verhältnisform eine notwendige Bedingung dafür ist, dass die Verhältnisform eine Dichte entwickelt. So gesehen konzentrieren sich Kunstformen stets auf eine Verhältnisqualität, wodurch sie in der Lage sind, deren Eigenheiten herauszuarbeiten.

§ 66. Allgemeine und besondere Form des Lebens. Alle Verhältnisformen sind eine Form des Lebens

Alle Verhältnisformen sind eine Form des Lebens. Gleichwohl sind auch jene Verhältnisformen, die sich von der allgemeinen Form des Lebens abheben und einer besonderen Form des Lebens zustreben, wie alle Verhältnisformen, letztlich Formen des Lebens, und zwar deshalb, weil die allgemeine Form des Lebens als das Fundament aller übrigen besonderen Formen in solchen lebendig bleibt und in sie hineinwirkt. Vernehmen wir Musik und gehen eine Verhältnisform zu dieser ein, so abstrahieren wir lediglich von der allgemeinen Form des Lebens, wir treten nicht aus ihr heraus.

§ 67. Die Rückbesinnung auf das Leben in der Kunst und Philosophie

Die großen Bewegungen in der Kunst und Philosophie ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts könnte man vor dem Hintergrund dessen betrachten, dass sie Antworten auf jene Herausforderungen zu geben versuchen, die sich mit dem Hervortreten der technischen Medien und deren Vermögen, die allgemeine Form des Lebens nachzuahmen, gestellt haben. Die Kunst fand zwei solcher Antworten oder Wege. Der erste Weg führte von der allgemeinen Lebensform fort. So reagierte die Malerei auf die Fotografie zunächst damit, dass sie sich von der allgemeinen Form des Lebens loszulösen versuchte nd zu einer eigenständigeren Formsprache fand, die mit der Auflösung des Figurativen einherging und in die abstrakte Malerei und die Konzeptkunst mündete. Der andere Weg bestand in einer Rückbesinnung auf das Leben und führte zur allgemeinen Form des Lebens hin, und zwar zu jenen Qualitäten derselben, die durch die technischen Medien noch nicht reproduzierbar geworden sind. Dieser Weg brachte die Aktionskunst hervor, die den Leib sowohl des Künstlers als auch des Rezipienten stärker in den Bestimmungsvollzug einbezog und hierdurch den Handlungscharakter der Kunst betonte. Diese Bewegung mündete im Situationismus, der die Kunst im Leben aufzulösen trachtete. In der Philosophie entdeckte man die allgemeine Form des Lebens in Gestalt der Existenz- und Leibphilosophie. Damit haben sowohl die Kunst als auch die Philosophie, angeregt durch die technischen Medien, neue Wege gefunden, ihre eigenen Grundlagen zu reflektieren.

§ 68. Das Leben als die Gesamtheit all dessen, was getan, gefühlt und gedacht werden kann

Obgleich das Leben, wie jede andere Verhältnisform auch, einen Charakter besitzt, so liefert sie doch die Grundlage für den Charakter jeder anderen Verhältnisform innerhalb seiner selbst. Sie ist die umfassende Verhältnisform, von der jede übrige bloß ein Fragment zu realisieren vermag. Das Leben wird folglich als die Gesamtheit überhaupt all dessen vorgestellt, was getan, gefühlt und gedacht werden kann.

§ 69. Zu der Unendlichkeit, an die Kunstwerke rühren

Mit der Wucht, mit der das Meer durch einen Riss in ein Gefäß dringt, das auf seinem tiefsten Grund liegt, mit derselben Gewalt drückt das Leben sich in das Kunstwerk hinein. Denn die Unendlichkeit, die uns in einem Kunstwerk begegnet, ist nichts anderes als das Leben, an das es rührt. Deshalb ist es eine irreführende Vorstellung, dass ein Künstler oder selbst ein Philosoph sein eigenes Werk zur Gänze verstehen oder über dasselbe vollständig Rechenschaft ablegen könne. Wäre es möglich, Kant zum Leben zu erwecken, so dass er leibhaftig und seiner vollen Geisteskraft teilhaftig vor uns erscheinen würde, um von ihm die endgültigen Antworten auf all jene Fragen zu erhalten, welche die Philosophie seit Menschengedenken umtreibt, so würde er wohl nichts anderes tun, als auf sein Werk zu verweisen. Es besteht sogar die Möglichkeit, dass ein Künstler oder Philosoph seinem Werk Unrecht tut, wenn er sich dazu herablässt, es für andere zu deuten, ja selbst die Absichten, die er mit dessen Erschaffung verfolgte, können für dasselbe ganz unerheblich sein. Das Werk muss für sich selbst sprechen, denn im Werk hat das Leben einen Abdruck hinterlassen.