§ 69. Zu der Unendlichkeit, an die Kunstwerke rühren

Mit der Wucht, mit der das Meer durch einen Riss in ein Gefäß dringt, das auf seinem tiefsten Grund liegt, mit derselben Gewalt drückt das Leben sich in das Kunstwerk hinein. Denn die Unendlichkeit, die uns in einem Kunstwerk begegnet, ist nichts anderes als das Leben, an das es rührt. Deshalb ist es eine irreführende Vorstellung, dass ein Künstler oder selbst ein Philosoph sein eigenes Werk zur Gänze verstehen oder über dasselbe vollständig Rechenschaft ablegen könne. Wäre es möglich, Kant zum Leben zu erwecken, so dass er leibhaftig und seiner vollen Geisteskraft teilhaftig vor uns erscheinen würde, um von ihm die endgültigen Antworten auf all jene Fragen zu erhalten, welche die Philosophie seit Menschengedenken umtreibt, so würde er wohl nichts anderes tun, als auf sein Werk zu verweisen. Es besteht sogar die Möglichkeit, dass ein Künstler oder Philosoph seinem Werk Unrecht tut, wenn er sich dazu herablässt, es für andere zu deuten, ja selbst die Absichten, die er mit dessen Erschaffung verfolgte, können für dasselbe ganz unerheblich sein. Das Werk muss für sich selbst sprechen, denn im Werk hat das Leben einen Abdruck hinterlassen.