§ 137. Die Dimension des Guten

Die Frage nach dem Einfluss, den die Kunst auf das Leben hat, ist keinesfalls neu, aber diese Frage und der in dieser Frage laut gewordene Anspruch, die Kunst solle in einer Weise wirken, die dem Leben zuträglich sei, stellt sich für keine andere Kunstform mit solch einem Nachdruck wie für die Zehnte Kunstform, und zwar deshalb, weil die Zehnte Kunstform die allgemeine Form des Lebens selbst annimmt. Dadurch besteht die Gefahr, dass sie in einen Wettstreit mit dem Leben tritt, das als solches nicht den Vorzug hat, in demselben Maße einer gestalterischen Ordnung unterworfen zu sein. Was sich infolgedessen auftut, ist der Abgrund einer Lebensflucht. Im dritten Teil soll versucht werden, die Form der Zehnten Kunstform, die als allgemeine Form des Lebens bestimmt wurde, als etwas zu denken, das für das Leben in gleichem Maße einen Wert besitzt wie die Form bestehender Kunstformen. Gelingt dies, so tritt mit der allgemeinen Form des Lebens ein und ihr Gutes hervor. Damit soll zugleich eine Antwort auf die Fragen einer kulturpessimistischen Perspektive gegeben werden.

§ 138. Inwiefern der dritte Teil einen Vorrang besitzt

Erst mit den Betrachtungen des dritten Teils kann deutlich werden, was ein Entwurf der Zehnten Kunstform letzten Endes bezweckt, ja worin dessen eigentliche Bedeutung liegt. Wie bereits gesagt, hat der erste Teil insofern einen Vorrang vor dem zweiten und dritten Teil, als er deren Fundament bildet. Denn erst wenn die Form der Zehnten Kunstform bestimmt ist, kann die zweite und dritte Frage einsetzen, die nach dem Schönen und nach dem Guten dieser Form fragt. Aber mit gleichem Recht kann man sagen, dass der dritte Teil einen Vorrang vor dem ersten und zweiten Teil besitzt, weil alle Betrachtungen zu diesem hinführen als ihrem letzten Ziel. Denn worum es letztlich geht, ist das Leben. Alles, was der Mensch tut, ist in das Leben eingelassen, dergestalt, dass alle Wege, ja selbst der Weg der Theorie, im Sinne der Abhebung (§ 16), vom Leben wegführend, zum Leben hinführt. Deshalb kann es der Theorie letztlich um nichts anderes gehen, als dass das Leben sich zum Guten hin entfalte. Dieses letzte Ziel eines Entwurfs der Zehnten Kunstform und jenes, worin das Gute einer Zehnten Kunstform hervortritt, nenne ich die Wiederentdeckung der Welt.

§ 139. Jeder der drei Fragen liegt die erste und letzte Frage nach der Dialektik von Natur und Kunst zugrunde

Mit der Trias der Begriffe des Mediums, des Lebens und der Kunst ist das gesamte Feld der Fragen abgesteckt, die sich für einen Entwurf der Zehnten Kunstform stellen, dergestalt, dass jede Frage sich einem Verhältnis dieser Begriffe zuordnen lässt. Dass jede Frage einem Verhältnis dieser Begriffe entspringt, zeugt davon, dass diese Verhältnisse problematisch geworden sind. Dass diese Verhältnisse problematisch geworden sind, zeugt davon, dass die ihnen zugrundeliegenden Begriffe in Bewegung geraten sind. Dass diese Begriffe in Bewegung geraten sind, ist auf den Computer zurückzuführen. Der Computer ermöglicht eine Verhältnisform, welche die allgemeine Form des Lebens annimmt. Hierdurch gerät das Natürliche mehr als je zuvor unter die Bedingungen des Künstlichen, ja es scheint fast, als würde die Kunst nicht mehr innerhalb der Natur, sondern die Natur innerhalb der Kunst erscheinen. Folglich gründen alle Fragen, die sich mit dem Hervortreten einer Zehnten Kunstform stellen, in einer einzigen, einer ersten und letzten Frage, die sich mit jeder neuen Form von Artefakt von Neuem und besonders heute mit einem Artefakt, das die Form der Welt selbst angenommen hat, in geradezu paradigmatischer Weise stellt: der Frage nach der Dialektik von Natur und Kunst.

§ 140. Zur Schwierigkeit eines theoretischen Unterfangens solchen Umfangs

Der Bewegung dieser Begriffe ist damit beizukommen, dass ihr Verhältnis neu bestimmt wird. Diese Neubestimmung setzt eine Theorie des Mediums, des Lebens und der Kunst voraus, aber zugleich geht eine Theorie des Mediums, des Lebens und der Kunst aus solcher Neubestimmung erst hervor. Die Schwierigkeit eines solch umfassenden theoretischen Unterfangens gründet gleichermaßen in der allgemeinen Natur der ihm zugrundeliegenden Begriffe. Diese Schwierigkeit tritt bereits beim Versuch hervor, einen solchen Gedankenbau aufzurichten. Da alles alles zu bedingen scheint, kann weder ein rechter Anfang noch ein rechtes Ende gefunden werden, am wenigsten jedoch ein natürliches Nacheinander der Gedanken. Wir haben es mit einer Zirkularität zu tun, der man mit einer gewöhnlichen Erzählung nicht Herr werden kann.

§ 141. Die Betrachtung

Es erscheint mir daher klüger, der Form einzelner Betrachtungen Vorzug zu geben, in der Hoffnung, dass diese in der Gesamtschau ein zusammenhängendes Bild ergeben. Die Betrachtung trägt Geist und Welt als den beiden Wirkungsgrößen des Lebens Rechnung, denn sie begreift Wahrnehmung und Denken als etwas, das zusammengehört. Eine Betrachtung ist sich zudem ihrer selbst bewusst, und zwar insofern, als sie weiß, dass sie Betrachtung ist, dass ihr ein Betrachter zugrunde liegt, dass sie Verhältnisform und nicht Schau eines Objektiven ist. Sie versteht sich ferner als etwas, das vorläufig und Teil einer Bewegung ist, die zu keinem Ende kommen kann. Ohne künstliche Scheu stellt sie Regeln auf, um nach diesen Regeln zu spielen, denn sie weiß, dass Philosophie letztlich darin zu sich findet.