§ 143. Zwei Formen der Schlichtung des Streits der Bestimmungskräfte

Es ist nicht möglich, dass zwei Bestimmungskräfte denselben Gegenstand zugleich auf unterschiedliche Weise bestimmen. Diese Formulierung des Bestimmungsparadoxes erhellt nicht bloß die Natur des Streits der Bestimmungskräfte, sie zeigt auch Möglichkeiten zu dessen Schlichtung auf. Eine erste Form dieser Schlichtung besteht darin, die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass die Bestimmungskräfte denselben Gegenstand bestimmen wollen, z.B. dadurch, dass die Bestimmungsmacht des Kunstwerks sich weitgehend auf die allgemeinen Gesetze der Welt beschränken, oder dadurch, dass man den Anspruch auf die Bestimmungsmacht des Rezipienten auf geschickte Weise steuert. Eine zweite, ungewöhnliche Form von Schlichtung, um die es mir in diesen letzten Betrachtungen gehen soll, besteht darin, die Bestimmungskräfte dazu zu bringen, denselben Gegenstand auf dieselbe Weise zu bestimmen.

§ 144. Entgegengesetzte Bestimmungszwecke als Ursache des Bestimmungsparadoxes

Dem Wirken einer Bestimmungskraft können Zwecke zugrunde liegen. Um ein Bestimmungsparadox zu verstehen, ist es folglich ratsam, die Bestimmungszwecke der am Bestimmungsvollzug teilhabenden Bestimmungskräfte zu untersuchen. Dass ein Bestimmungsparadox besonders stark hervortritt, kann folglich auch darauf zurückzuführen sein, dass beim Bestimmungsvollzug Bestimmungskräfte am Werk sind, deren Bestimmungszwecke im Widerspruch zueinander stehen.

§ 145. Willkür und Formwille

Man könnte statt von Zwecken auch von Formen des Willens sprechen. Die Form, den der Wille des Computerspielers annimmt, ist diejenige der Willkür. Mit dem Begriff der Willkür ist in Wahrheit das Gegenteil einer Form des Willens bezeichnet: ein allein dem Lustprinzip verpflichtetes, im gegenwärtigen Augenblick gefangenes Umherschweifen des Willens, das einmal diese, einmal jene, aber keine beständige Form annimmt. Das Eigenständige des Computerspiels als einer eigenständigen Form von Spiel besteht in der Erweiterung seiner Strukturelemente. Deshalb könnte man auch von einem verwilderten Spieltrieb sprechen, der sich im Raum seiner neugewonnenen Möglichkeiten verloren hat. Eine ganz andere Form nimmt der Wille des Künstlers an. Dieser Wille ist ganz der Formgebung verpflichtet, weshalb ich diesen Formwillen nenne.

§ 146. Ein Körper, zwei Seelen

Anders als beim Bestimmungsvollzug des Kunstwerks haben am Bestimmungsvollzug des Computerspiels Bestimmungskräfte mit zuweilen entgegengesetzten Bestimmungszwecken teil: Als berge der Körper des Bestimmungsvollzugs zwei Seelen, die dessen Einheit infrage stellen, bestimmt die eine Bestimmungskraft, damit aus der Bestimmung Lust entstehe, bestimmt die andere Bestimmungskraft, damit aus der Bestimmung Form entstehe. Diesem Widerspruch hat man dadurch beizukommen versucht, dass man die Bestimmungsmacht des Rezipienten eingeschränkt hat. Aber selbst dann ist selbiger in der Lage, die vom Künstler intendierte Form des Bestimmungsvollzugs zu sabotieren.

§ 147. Die Entstehung eines Handwerks der Entdeckung als das Gute der Kunst

Dass es einen widerspenstigen Computerspieler gibt, aber keinen widerspenstigen Leser, Betrachter oder Hörer, zumindest nicht in dem oben beschriebenen Sinne, liegt daran, dass für die Zehnte Kunstform erst noch im Entstehen begriffen ist, was ich das Handwerk der Entdeckung nenne. Das Lesen eines Buches, das Betrachten eines Bildes und das Hören von Musik, all diese Bestimmungsvollzüge beruhen auf einem Handwerk, dessen Meisterschaft keine Grenzen gesetzt sind. Die Kunst ermöglicht dem Menschen, dieses Handwerk zu lernen, und darin besteht insofern ihr Gutes, als solch ein Handwerk etwas ist, das im Ganzen des Lebens aufgehend auf selbiges zurückwirkt.