§ 128. Weshalb das Lebenswerk kein Kunstwerk ist

Dies ist auch bei der Zehnten Kunstform der Fall, denn selbst wenn sich der Geist in Gestalt eines Lebenswerks materialisiert, die Bedeutung dieser Materialisation liegt in der hierbei gewonnenen Erfahrung des Geistes, die eine rätselhafte Tiefe offenbart, in der ihr eigentlicher Wert besteht. Das Lebenswerk kann aber auch aus deshalb nicht als Kunstwerk gelten, weil der Künstler stets auf einer ontologisch höheren Ebene als das Kunstwerk operieren muss. Gerät er auf dieselbe Ebene und damit in sein eigenes Kunstwerk hinein, so verliert er damit notwendig einen bedeutenden Teil jener Bestimmungsmacht, die ihm als Künstler zukommt. So gesehen ist der Künstler für das Kunstwerk, was ein Gott für die Welt ist. Der Mensch hat keinen Einfluss auf die Welt als ein System der Gesetze und zuweilen nicht einmal auf sein Schicksal.

§ 129. Die Welt als Kunstwerk

Auch dem Künstler kommt immer noch dieselbe Aufgabe in demselben Maße zu: Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass man entdecke. Diese sind Ergebnis einer großen Zahl kritischer Bestimmungen, denn ein Kunstwerk ist nichts anderes als die Einheit eben solcher Bestimmungen, sofern solche den Zweck haben, Voraussetzungen für die Entdeckung eines Wahren, Schönen oder Guten zu schaffen. So gesehen zeichnet sich der Künstler durch seine Befähigung aus, diese Bestimmungen zu vollziehen. Dass dem Demiurgen dieselbe Aufgabe in demselben Umfang zukommt, bedeutet nun, dass die Zahl und der Anspruch gestalterischer Bestimmungen, der ein solches weltgewordenes Kunstwerk bedarf, nicht kleiner geworden sind. Was der Demiurg erschafft, ist eine gegebene Welt als die Einheit eines Wirklichen und Sinnlichen. Er schafft also nicht bloß die Gesetze einer Welt, sondern hat zugleich für deren sinnlich vermittelte Gestalt zu sorgen, eine Weltarchitektur. Der Erzählung kommt in einem solchen Kunstwerk ein neuer Ort zu. Sie würde zu einem abstrakten Strukturprinzip, das für ein bestimmtes Gefüge von Raum und Zeit und für ein Universum geordneter Umstände sorgt.

§ 130. Zwischen Medium und Leben. Der erste und erkenntnistheoretische Teil eines Entwurfs der Zehnten Kunstform. Die Dimension des Wahren

Die erste Frage, mit welcher sich der Entwurf einer Zehnten Kunstform zu befassen hat, lautet: Inwiefern vermag die Form, welche dem begrifflichen Entwurf einer Zehnten Kunstform zugrunde liegt, der Form ihres Mediums, mithin der Form eines Allgemeinen zu entsprechen? Ist die allgemeine Form des Lebens dasjenige, wodurch und wozu die Zehnte Kunstform bestimmt ist, so tritt durch dieselbe als ihr Wesen ein und ihr Wahres hervor. Aber dadurch, dass ein Medium die allgemeine Form des Lebens annimmt, muss das Verhältnis zwischen dem Begriff des Mediums und dem Begriff des Lebens neu bestimmt werden, infolgedessen das Medium ein Stück weit als Leben, mithin als ein Natürliches und Allgemeines, das Leben ein Stück weit als Medium, mithin als ein Künstliches und Besonderes, begreiflich wird. Mit dem Hervortreten einer Zehnten Kunstform geraten diese beiden Begriffe in Bewegung. Diese Bewegung festzuhalten und das Verhältnis dieser Begriffe neu zu bestimmen ist Aufgabe einer neuen Erkenntnistheorie. Damit ist das Feld, das die erste Frage eröffnet und das den ersten Teil eines Entwurfs der Zehnten Kunstform bildet, hinreichend abgesteckt.

§ 132. Der zweite und ästhetische Teil eines Entwurfs der Zehnten Kunstform und die ihm zugrundeliegende Methode. Das Handeln und Erleben als die genuine Form von Erfahrung, welche die Zehnte Kunstform ermöglicht

Während die Aufgabe des ersten Teils darin besteht, die Form der Zehnten Kunstform in abstracto zu bestimmen und diese Bestimmung zu begründen, besteht die Aufgabe des zweiten Teils darin, diese Form in concreto zu denken. Somit gewinnt jene Form erst vermöge des zweiten Teils Gestalt. Worin der zweite Teil eines Entwurfs der Zehnten Kunstform gipfelt, ist eine Ästhetik, eine Ästhetik der allgemeinen Form des Lebens. Diese orientiert sich in der Herangehensweise an ihren Gegenstand an der klassischen Definitionsregel genus proximum et differentia specifica, wonach die Beschaffenheit eines Seienden am besten dadurch begreiflich wird, dass man seine nächstliegende Gattung einerseits, seine ihm eigene Art andererseits beschreibt. Die Ästhetik arbeitet folglich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Zehnten Kunstform und den traditionellen Kunstformen heraus, aber zunächst einmal durch Beschreibung und weniger durch Begriffe. Die These wird lauten, dass das Genuine einer Ästhetik der allgemeinen Form des Lebens im Handeln und Erleben besteht, den Dimensionen des Wirklichen und Sinnlichen entsprechend, die im Welthaften gründen.