§ 122. Dem Begriff der Freiheit liegt die Dialektik von Bestimmtheit und Unbestimmtheit zugrunde. Furcht und Angst als Erscheinungsformen des Schreckens

Es versteht sich von selbst, dass der Geist auch innerhalb einer solchen Welt nicht vollkommen frei ist, denn seine Bestimmungsmacht endet an den Gesetzen der Welt als jenen Bestimmungen des Demiurgen, die gleichsam hinter der Welt zurückgetreten sind. So zeigt sich, dass der Begriff der Bestimmungsmacht oder derjenige der Freiheit auf einer Dialektik, der Dialektik von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, fußt. Denn Freiheit entfaltet sich wie alles andere innerhalb eines dialektisch organisierten Raums, der die Form eines Dazwischen annimmt und deshalb von nichts einen Begriff hat, das schlechthin gegeben wäre. Freiheit setzt voraus, dass man an einem Bestimmungsvollzug teilhat, das durch ein anderes, die Welt und seine Gesetze, mitbestimmt wird. Ist die Welt im Begriff, die Bestimmungsmacht an sich zu reißen, so grenzt der Bestimmungsvollzug für uns an die Bestimmtheit, die Freiheit verringert sich bis zu dem Punkt, an dem sie sich ganz aufzulösen beginnt. Was uns infolgedessen befällt, ist Furcht, denn die Furcht ist das, was erscheint, wenn wir vollkommen durch die Welt bestimmt zu sein scheinen, so dass wir in der Welt gleichsam untergehen und aufhören zu existieren. Sind wir im Begriff, die Bestimmungsmacht an uns zu reißen, so grenzt der Bestimmungsvollzug für uns an die Unbestimmtheit, die Freiheit vergrößert sich bis zu dem Punkt, an dem sie sich ganz aufzulösen beginnt. Was uns infolgedessen befällt, ist Angst, denn die Angst ist das, was erscheint, wenn die Welt vollkommen durch uns bestimmt zu sein scheint, so dass die Welt gleichsam in uns untergeht und aufhört zu existieren. In beiden Fällen geraten wir an eine Grenze, in beiden Fällen werden wir eines uns schlechthin Unteilhaftigen gewahr, weshalb Furcht und Angst Erscheinungsformen des Schreckens sind.

§ 123. Inwiefern die allgemeine Form des Lebens das Bestimmungsparadox in sich aufzunehmen vermag

Bei der Zehnten Kunstform geht es um die Bestimmung einer gegebenen Welt und damit um jene Form von Freiheit, die man Handlungsfreiheit nennt. Die allgemeine Form des Lebens ist nun insofern in der Lage, das Bestimmungsparadox in sich aufzunehmen, als solches innerhalb selbiger nicht mehr als ein Problem hervortritt, sondern als ein tragendes Element derselben. Denn die Freiheit oder Bestimmungsmacht kann nicht als etwas vorgestellt werden, das schlechthin gegeben wäre. Sie ist vielmehr dasjenige, was in einem Bestimmungsvollzug mit der Welt stets von neuem ausgehandelt wird. Diese Aushandlung ist das dynamische Element, gleichsam die Lebensader der Zehnten Kunstform.

§ 124. Die Komplizenschaft des Rezipienten. Die Welt und das Kunstwerk sind so gearbeitet, dass sie zu dem Geist hin, der sie durchdringt, auf sonderbare Weise geöffnet sind

Dadurch, dass eine Zehnte Kunstform in Erscheinung tritt, infolgedessen der Künstler zu einem Demiurgen und der Rezipient zu einem Handlungsträger innerhalb eines weltgewordenen Kunstwerks wird, ist die klassische Rollenverteilung von Künstler und Rezipienten nicht infrage gestellt, sie bedarf lediglich einer erneuten begrifflichen Prüfung. Es gibt zweifellos einen Unterschied zwischen demjenigen, der ein Kunstwerk hervorbringt, und demjenigen, der zu einem Kunstwerk ins Verhältnis tritt, aber dieser Unterschied ist nicht darin zu finden, dass der eine aktiv und der andere passiv ist. Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass es genauso schwierig ist, ein gutes Buch zu lesen, wie es zu schreiben. Der Rezipient ist nie ein bloßer Rezipient gewesen, sondern stets und notwendig ein Komplize des Künstlers im strengsten Sinne des Wortes. Wie die Welt durch ihre Beschaffenheit auf sonderbare Weise dem Geist entgegenkommt und dieser durch seine Beschaffenheit der Welt, dergestalt, dass beide in der untrennbaren Einheit des Lebens zueinander ins Verhältnis treten können, so kommt das Kunstwerk dem Geist und der Geist dem Kunstwerk entgegen und in der hieraus entstehenden Einheit des Bestimmungsvollzugs als eines Wechselspiels von Gabe und Empfängnis findet die Kunst zu sich.

§ 126. Der Künstler als Arrangeur einer ästhetischen Form des Lebens

Jede Entdeckung ist Vollzug und jeder Vollzug ist dadurch Vollzug, dass ihm das Leben als dasjenige zugrunde liegt, was schlechthin Vollzug ist. Deshalb ist jeder Vollzug eine Form des Lebens, aber auch die Kunst ist Vollzug und daher ebenfalls eine Form des Lebens, und zwar eine der Schönheit verpflichtete ästhetische Form des Lebens. Diese besteht in der Entdeckung, darin, dass man den Möglichkeitsraum der Verhältnisformen durchmisst, den Geist und Welt eröffnen, dass man des Lebens teilhaftig wird in noch unentdeckten Bestimmungsvollzügen des Geistigen, Sinnlichen und Wirklichen. Der Künstler kann folglich als der Arrangeur einer ästhetischen Form des Lebens aufgefasst werden, die man Kunst nennt.