§ 93. Bestimmung und Entfaltung der Zehnten Kunstform

Wie nie zuvor wird sich zeigen, dass Philosophie und Kunst Erscheinungsformen ein und desselben höchsten Strebens sind, der Entdeckung des Wahren, Schönen und Guten, wobei sie sich allein darin unterscheiden, welchen Weg sie dabei einschlagen. An der Bestimmung eines Seienden teilzuhaben bedeutet, in abstracto zugleich an dessen Wodurch und Wozu teilzuhaben, an der Entfaltung eines Seienden teilzuhaben bedeutet, in concreto zugleich an dessen Wodurch und Wozu teilzuhaben. Sich an einer Bestimmung der Zehnten Kunstform zu versuchen ist nicht weniger notwendig, als sich an dessen Entfaltung zu versuchen. Gleichermaßen ist das Glück, an der Bestimmung der Zehnten Kunstform teilzuhaben, nicht weniger groß als das Glück, an dessen Entfaltung teilzuhaben. Der Versuch einer Bestimmung der Zehnten Kunstform kann außer nach dessen genauem Gegenteil nach nichts mehr trachten als danach, einen Leitstern abzugeben, der den abenteuernden Grenzgängern auf jenen dunklen Pfaden vorausleuchtet, auf welchen sich die Entfaltung der Zehnten Kunstform vollzieht. Darin zeigt sich nichts weiter als der gerechte Wunsch, dass die Bestimmung an der Entfaltung, die Entfaltung an der Bestimmung teilhabe.

§ 94. Die drei Fragen, welche der Entwurf einer Zehnten Kunstform beantworten muss

Die Kriterien jenes Entwurfs lassen sich zu drei Fragen umformulieren. Die erste Frage, die Dimension des Wahren umgreifend, lautet: Inwiefern vermag die Form, welche dem begrifflichen Entwurf einer Zehnten Kunstform zugrunde liegt, der Form ihres Mediums, mithin der Form eines Allgemeinen zu entsprechen? Die zweite Frage, die Dimension des Schönen umgreifend, lautet: Inwiefern vermag die Form, welche dem begrifflichen Entwurf einer Zehnten Kunstform zugrunde liegt, eine Grundlage abzugeben für die Kunst? Die dritte Frage, die Dimension des Guten umgreifend, lautet: Inwiefern vermag die Form, welche dem begrifflichen Entwurf einer Zehnten Kunstform zugrunde liegt, von Wert zu sein für das Leben?

§ 95. Inhaltliche und formale Kriterien dieser Fragen. Die Gliederung des Entwurfs in drei Teile

Diese Fragen formulieren inhaltliche Kriterien für die Einzeluntersuchungen, die den Entwurf einer Zehnten Kunstform in drei Teile gliedern. Zugleich formuliert das System dieser Fragen ein formales Kriterium für den Entwurf als Ganzes. Denn auf die Fragen im Einzelnen müssen nicht bloß überzeugende Antworten gefunden werden, diese Antworten bedürfen als Ganzes einer inneren Geschlossenheit. Die Fragen stehen nämlich nicht für sich allein, sie bilden eine Einheit, weshalb auch die Antworten zu einer solchen Einheit, einer solchen inneren Geschlossenheit finden müssen, um den Anforderungen der Untersuchung zu genügen.

§ 96. Die Auffassung dieser Betrachtungen ist, dass die Bestimmung der Zehnten Kunstform in der allgemeinen Form des Lebens zu finden ist

In der allgemeinen Form des Lebens sehe ich jene Form der Zehnten Kunstform verwirklicht, vermöge welcher zugleich ein und ihr Wahres, Schönes und Gutes hervortritt. Aber damit sind jene Fragen nicht beantwortet und der Entwurf einer Zehnten Kunstform nicht abgeschlossen, denn sie fragen ja, inwiefern durch eine Formbestimmung ein und ihr Wahres, Schönes und Gutes hervortrete.

§ 97. Die Beantwortung der ersten Frage als Beantwortung jener Fragen, die das Bestimmungsparadox aufwirft

Inwiefern vermag die Form, welche ich dem begrifflichen Entwurf einer Zehnten Kunstform zugrunde lege, die allgemeine Form des Lebens der Form ihres Mediums, mithin der Form eines Allgemeinen zu entsprechen? Auf diese Frage habe ich eine vorläufige Antwort gegeben. Die allgemeine Form des Lebens entspricht ihrem Medium insofern, als sie die Form eines Allgemeinen schlechthin annimmt. Es existiert eine weitere Reihe von Argumenten, aber das Bedeutendste besteht darin, dass die allgemeine Form des Lebens einen Lösungsansatz für jenes Bestimmungsparadox bereithält, das sich in abstracto auf der Ebene der Begriffe, wie auch in concreto auf der Ebene der Erscheinungen manifestiert. Eine Antwort auf die erste Frage zu finden, heißt folglich auch, eine Antwort zu finden auf die Fragen, welche das Bestimmungsparadox aufwirft.