Unglaublich, aber wahr: Seit der Enthüllung von Google Glass sind zehn Jahre vergangen.
Das ist eine sehr lange Zeit in der Tech-Industrie und wirft die Frage auf, was sich technologisch seither in diesem Bereich getan hat. Auf den ersten Blick nicht viel: Es gibt noch immer keine Display-Brille, mit der Menschen auf die Straße gehen würden. Die größten Fortschritte gab es aufseiten der Software: Schnittstellen wie ARKit und ARCore brachten Augmented Reality auf Milliarden von Smartphones und wurden über die Jahre immer besser. Smartphone-AR ist dennoch eine Nische geblieben. Auf Gesichtsfiltern und dem One-Hit-Wunder Pokémon Go kann man keine nachhaltige Industrie bauen.
Das Smartphone kann nur eine technische Brücke sein zur vollwertigen AR-Brille, aber gerade die ist noch immer Science-Fiction. AR-Headsets wie Hololens und Magic Leap bringen zwar die wichtigsten AR-Features mit, aber sind zu wuchtig für den Alltag, während die Kamera- und Audiobrille Ray-Ban Stories zwar gut aussieht, aber nicht mal ein Display hat. Der Grund ist einfach: Die für schlanke, aber leistungsfähige AR-Brillen benötigte Technologie existiert noch nicht.
Es war Magic Leap, das in den letzten Jahren am meisten Schlagzeilen machte. An keinem anderen Unternehmen lässt sich die Entwicklung der AR-Industrie, deren Hochmut und Fall, so gut ablesen. Das Start-up gab vor, an einer revolutionären AR-Brille zu arbeiten und bis heute flossen sage und schreibe 3,5 Milliarden US-Dollar in das Unternehmen. Nach Jahren strengster Geheimhaltung und ausufernden Hypes – Magic Leaps AR-Brille wurde zeitweise als potenzieller Smartphone-Killer gehandelt – kam ein Produkt auf den Markt, das Augmented Reality technisch kaum voran und Magic Leap an den Rand des Bankrotts brachte.
Der Grund: Die „Wunderwaffe“ des Start-ups versagte. Die Display-Technologie, die Investoren Jahre zuvor beeindruckte, konnte Magic Leap nicht so weit miniaturisieren, dass sie in einer Brille Platz fand. In der Not setzte das Start-up auf eine althergebrachte Display-Technik, sogenannte Wellenleiter, mit allen ihren Unzulänglichkeiten. Aus der Revolution wurde ein Evolution, aus dem Sprung ein kleiner Schritt.
Die Magic Leap One: Futuristisch, aber nicht alltagstauglich. | Bild: Magic Leap
Magic Leap lebt dank Investoren weiter und bringt dieses Jahr ein neues AR-Headset heraus: die Magic Leap 2. Von dem Ziel, Hardware für Endverbraucher herzustellen, ist das Start-up realistischerweise abgerückt. Magic Leap 2 wird nur an Unternehmen verkauft. Der AR-Hype hat seither merklich gelitten und ist zunehmender Skepsis gewichen. Viel Zeit, Geld und Talent floss in die Technik, doch die Hardware hat sich nur marginal verbessert. Zu teuer, zu wuchtig, zu eingeschränkt sind die AR-Headsets, als dass sie für Endverbraucher interessant werden könnten.
Weil die Killer-Hardware fehlt, fehlen auch die Killer-Apps: Augmented Reality sucht weiter nach einem Problem, das es lösen kann. Ihr haftet der Ruf eines Gimmicks und einer ewigen Zukunftstechnologie an. Manche Experten meinen, dass eine fortschrittliche und zugleich alltagstaugliche AR-Brille niemals gebaut werden kann. Andere pochen auf mehr Entwicklungszeit. In fünf bis zehn Jahren könnte es klappen, heißt es aus Industriekreisen. Der iPhone-Moment der Augmented Reality wird kontinuierlich nach hinten verlegt.
Die großen Techkonzerne forschen indes weiter, in der Hoffnung auf das „nächste große Ding“. Tim Cook sieht in der AR-Brille sein mögliches Vermächtnis, während Mark Zuckerberg gar die Zukunft seines Unternehmens auf sie wettet. Doch auch Google, Microsoft und Amazon arbeiten laut Gerüchten und Stellenausschreibungen (wieder) an entsprechenden Geräten.
Apple und Meta investieren nach derzeitigem Kenntnisstand noch am stärksten in Forschung und Entwicklung, wobei Metas Investitionen beispiellos sind: Mehr als zehn Milliarden US-Dollar flossen allein im letzten Jahr in die Reality Labs, Metas VR- und AR-Abteilung, und in Zukunft sollen es noch mehr werden. Das Unternehmen entwickelt mehrere AR-Produkte und plant bis zu drei Hardware-Generationen in die Zukunft. Zuckerberg sieht in Virtual Reality und Augmented Reality eine neue Computerplattform, mit der sich Meta aus Apples und Googles Smartphone-Ökosystemen befreien könnte. Eine riskante, aber notwendige Wette auf die langfristige Zukunft des Unternehmens.
Vor kurzem legte ein Leak die Hardware-Roadmap des Unternehmens offen. Meta will demnach 2024 zwei AR-taugliche Geräte auf den Markt bringen: eine technisch einfachere Datenbrille (Codename: Hypernova) und eine vollwertige, aber alltagstaugliche AR-Brille (Project Nazare), die den Kern von Zuckerbergs Metaverse-Vision bildet. Die erste Version von Project Nazare richtet sich an Entwickler und Enthusiasten. Eine leichtere und fortschrittlichere Version soll 2026 kommen, gefolgt von einer dritten Version im Jahre 2028.
So könnte Augmented Reality durch die Gläser von Project Nazare aussehen. | Bild: Meta
Diese Roadmap ist ehrgeizig und zeigt, dass Meta möglichst bald in den Markt einsteigen will. Das ist verständlich: Nach acht Jahren Forschung und Entwicklung, benötigt Meta endlich greifbare Erfolge. Den Quellen zufolge will Meta bis Ende der 20er-Jahre Millionen alltagstauglicher Techbrillen verkaufen, doch ein Durchbruch könnte „Jahrzehnte beanspruchen“.
Ob Zuckerberg so lange investieren will, ist fraglich. Schon heute herrscht ein großer Druck auf Meta seitens Investoren und die Reality Labs sind ein immenses Verlustgeschäft. Zuckerberg wird beweisen müssen, dass sich mit AR-Brillen Geld verdienen lässt. Ob Metas Pläne aufgehen, dürfte sich daher in den nächsten Jahren entscheiden. Ich denke, dass 2026 das bislang wichtigste Jahr der Augmented Reality werden wird, gesetzt, dass die zweite Version von Project Nazare in diesem Jahr erscheint und sich an Endverbraucher richtet.
Project Nazare ist Metas Leuchtturmprojekt. Sollten die vergangenen Jahre, Mittel und Talente der Reality Labs nicht reichen, um eine alltagstaugliche AR-Brille zu bauen oder diese keinen Anklang finden, dann könnte dies das vorläufige Ende der AR-Welle bedeuten, die Google Glass vor zehn Jahren anstieß.
Dass die zu nehmenden Hürden gewaltig sind, weiß die Industrie. „Es gibt keine Kombination existierender Technologien, die alle nötigen Bedingungen erfüllt. Die Gesetze der Physik könnten verhindern, dass wir jemals brauchbare AR-Brillen bauen“, sagte Metas AR- und AR-Visionär und Forschungschef Michael Abrash 2017. „Aber wenn es möglich ist, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass sie innerhalb der nächsten zehn Jahre erscheinen.“
Kann Meta ein Produkt abliefern, das gut genug ist für Verbraucher? Die bisherigen Gerüchte schüren Zweifel: Meta soll noch keinen funktionsfähigen, tragbaren Prototyp haben und zudem auf die mehr oder wenige gleiche Display-Technik wie Magic Leap und Konsorten setzen. Project Nazare wird allem Anschein nach mehr vom Gleichen, nur in besser bieten und keine grundlegenden technologischen Durchbrüche.
Natürlich kann alles auch ganz anders kommen: Womöglich verschiebt sich der Marktstart wie so oft um Jahre, vielleicht kommt Apple oder ein anderer Mitbewerber mit etwas Besserem um die Ecke oder vielleicht investieren Meta und Konsorten weiterhin in Augmented Reality und schaffen den Durchbruch zu einem (sehr viel) späteren Zeitpunkt.
Eines ist klar: Die Uhr tickt für Augmented Reality. Dürfte in den nächsten Jahren kein signifikanter Fortschritt in puncto Technik und Marktwachstum erzielt werden, könnte die Technologie für längere Zeit wieder von der Bildfläche verschwinden.
Dieser Beitrag erschien am 9. Mai 2022 bei MIXED. Im Juni 2022 wurde bekannt, dass Project Nazare erst 2026 statt wie geplant 2024 kommerzialisiert werden solle.