Smart Glasses: Wann kommt der Durchbruch?

In einer nicht allzu fernen Zukunft werden Brillen smart. Sie werden aussehen wie herkömmliche Brillen, aber alles können, was Smartphones tun. Und mehr: Sie erfassen die Welt, überlagern sie mit digitaler Information, lotsen Brillenträger mit digitaler Navigation im Sichtfeld zielsicher ans richtige Supermarktregal, verwandeln das Wohnzimmer in ein 3D-Videospiel oder beamen Freunde als Hologramme an die Küchenzeile.

Das jedenfalls ist die Vision von Facebook-Chef Mark Zuckerberg: eine Augmented-Reality-Brille, die die Umgebung wahrnimmt und nach Belieben digital erweitert. Dass dieser tollkühne Zukunftsentwurf gerade jetzt so viele Techkonzerne umtreibt, ist kein Zufall: Die größte und wichtigste Computerplattform der Gegenwart, das Smartphone, ist ausgereizt und fertig entwickelt, der Markt gesättigt. Was also verkaufen?

Das Silicon Valley sucht nach dem nächsten großen Ding, und Augmented Reality gehört zu den vielversprechendsten Kandidaten. Facebook investiert kräftig: Mehrere tausend Fachkräfte forschen an den technischen Grundlagen von AR-Brillen und entwickeln neue, intuitive Computer. Statt mit Maus, Tastatur oder Touchscreen bedient man sie mit Blicken, Worten, Gesten – ja selbst per Gedankenkraft. In diesem Jahr soll die erste smarte Brille des Technologiegiganten auf den Markt kommen, ausgerechnet in Kooperation mit EssilorLuxottica. Das lässt nicht nur die Augenoptikbranche aufhorchen, doch wird das den Durchbruch bringen? Werfen wir einen Blick zurück auf die Anfänge der Geschichte smarter Brillen.

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Mark Zuckerberg kündigt im September 2020 Smart Glasses an, die zusammen mit Ray Ban entwickelt werden. | Bild: Facebook / EssilorLuxottica

Alles begann im Jahr 2014, als Google Glass auf den US-Markt kam. Der tragbare Minicomputer hat eine Kamera integriert, ist an einem von vier wählbaren Brillenrahmen befestigt und projiziert eine schmale Nutzeroberfläche ins Sichtfeld, über die sich Google-Dienste wie die Internetsuche, Google Maps und Gmail nutzen, Anrufe tätigen oder Fotos und Videos machen lassen. Das Smartphone kann in der Tasche bleiben.

Bedient wird die Brille mit dem Google Assistant, also Sprachbefehlen und einem Touchpad, das sich an der Seite des Gehäuses befindet. Je nachdem, wie intensiv man Google Glass nutzt, reicht die Batterie nur wenige Stunden. Korrektionsgläser werden vom Augenoptiker geschliffen und eingesetzt. Ohne diese wiegt die Brille 36 Gramm.

Der Hype war riesig, doch das Gerät floppte. Google nahm Google Glass nach weniger als einem Jahr vom Markt. Für das Scheitern gab es zwei Gründe: das klobige Design und die Kamera, die als Bedrohung der Privatsphäre wahrgenommen wurde. Berichte aus dieser Zeit erzählen von Nutzern, die aus Restaurants geworfen und als „Glassholes“ beschimpft wurden.

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Mit Google Glass wagte sich Google früh vor – und scheiterte. | Bild: Google

Drei Jahre nach Marktstart brachte Google eine leicht verbesserte Version heraus, die auf Unternehmen zugeschnitten ist. Seither wird die smarte Brille professionell eingesetzt, etwa bei der Maschinenwartung und in der Logistik. So können Service-Techniker ihr Bild in die Zentrale übertragen und haben freihändig wichtige Checklisten im Blick. Das steigert die Produktivität. Diesen recht überschaubaren Markt teilt sich Google mit einer Reihe weiterer kleiner Hersteller wie Realwear und Vuzix.

Mit Microsoft HoloLens machte die AR-Brillentechnik 2016 einen Sprung nach vorne. HoloLens ist ein tragbarer Windows-Computer, hat Sensoren, die den Raum abtasten, wodurch der Brillenträger eine räumliche Vorstellung der Umgebung gewinnt, sowie ein hochentwickeltes Display, das detaillierte 3D-Grafik passgenau in den Raum projiziert. Zum Vergleich: Die Datenbrille Google Glass „besitzt“ keinerlei Raumverständnis und stellt Information nur statisch im Sichtfeld dar.

HoloLens hebt die Augmented-Reality-Erfahrung auf eine neue Stufe, indem sie hologrammartige 3D-Objekte in die Umgebung projiziert, mit denen man interagieren kann. Zum Beispiel kann der Brillenträger ein Möbelstück vor dem Kauf virtuell im Wohnzimmer aufstellen oder ein digitales Auto in der Einfahrt parken. Die Linse der HoloLens ist ein durchsichtiges Glas, das das Licht eines seitlich angebrachten Projektors ins Auge reflektiert. Herkömmliche Brillen können problemlos unter der HoloLens getragen werden.

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Viel Technik, aber auch viel Brille: Microsofts HoloLens 2. | Bild: Microsoft

So bahnbrechend Microsofts HoloLens auch ist, die AR-Brille ist kein Produkt für den Massenmarkt. Das wuchtige Design und der hohe Preis machen sie für Endverbraucher uninteressant. Microsoft verkauft HoloLens derzeit nur an Unternehmen. Hier dient sie der Schulung an detaillierten 3D-Modellen, wird für industrielles Prototyping eingesetzt oder unterstützt medizinische Eingriffe.

Hoffnungen auf einen grundlegenden Durchbruch schürte das Unternehmen Magic Leap, das vorgibt, eine revolutionäre, alltagstaugliche AR-Brille in Entwicklung zu haben, die das Smartphone ersetzen kann. Mit spektakulären Konzeptvideos lockte das mysteriöse Start-up viele Investoren. Circa 2,3 Milliarden US-Dollar Risikokapital häufte man zwischen 2014 und 2018 an, der Unternehmenswert wurde zeitweise auf mehr als sechs Milliarden geschätzt. Ende 2017 wurde die AR-Brille enthüllt und enttäuschte: Weder Technik noch Formfaktor erfüllten die Erwartungen eines technologischen Quantensprungs. Die Brille floppte. Dem Beispiel Googles und Microsofts folgend, schwenkte Magic Leap auf den einzig denkbaren Abnehmer seiner Produkte um: Unternehmen.

Das Scheitern von Magic Leap und Microsoft mit Google Glass steht beispielhaft für den realitätsfremden AR-Hype der letzten Jahre, als man glaubte, dass fortschrittliche Augmented Reality den Durchbruch für smarte Brillen bringen könnte. Doch die erforderliche Technologie ist längst noch nicht weit genug und derzeit unmöglich so klein zu kriegen, dass sie in eine herkömmliche Brille passt. Deshalb verlegt sich die Branche auf ein anderes Ziel: Die Entwicklung smarter Brillen mit minimaler Technik, die dafür möglichst wie herkömmliche Brillen aussehen. Echte Augmented Reality ist in diesem schlanken Design zwar nicht umsetzbar, dafür lockt ein größerer Markt.

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Die Kamerabrille Spectacles fand wenig Anklang. | Bild: Snap

Dem pragmatischen Ansatz folgen derzeit fast alle Anbieter smarter Brillen. Das erste Experiment dieser Art ist die Sonnenbrille Spectacles, die 2016 auf den Markt kam und sich an Nutzer des Messaging-Dienstes Snapchat richtet. Sie hat eine Kamera integriert, die 3D-Videos aus der Blickperspektive filmt und um AR-Effekte erweitert. Die Brille sieht cool aus, doch die integrierten Doppel-Kameras schrecken ab. Ein Spielzeug eben, das für ein paar Stunden Spaß macht. Hersteller Snap baut aber kontinuierlich an weiteren Modellen.

Einen Schritt weiter geht das Start-up North, das 2018 eine schicke Datenbrille ohne Kamera auf den Markt brachte. Die Focals ist eine Art Smartwatch für die Nase. Sie wird drahtlos mit dem Smartphone gekoppelt und projiziert Handy-Benachrichtigungen wie Uhrzeit, Wetter, Navigation oder News direkt ins Sichtfeld. Das Display und die restliche Elektronik finden in den überdurchschnittlich dicken Brillenbügeln Platz, sodass sich die Focals, anders als Google Glass, erst auf den zweiten Blick als smarte Brille zu erkennen gibt. Mit 72 Gramm ist sie jedoch doppelt so schwer und das ohne Korrektionsgläser. Bedient wird sie mit einem Fingerring oder über Sprachbefehle. Ist der Akku nach einem Tag aufgebraucht, kann man die Brille im AirPod-Stil im mitgelieferten Etui laden.

So richtig am Markt beweisen konnte sich Focals nicht: Im Sommer 2020 kaufte Google das Start-up und stoppte die Entwicklung der Focals 2, obwohl die erste Focals-Brille bei Tech-Kritikern gut ankam, sich aber dennoch nicht verkaufte.

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Ein spannendes Brillenprojekt, das Google beendete, bevor es überhaupt eine Chance am Markt bekam: North Focals. | Bild: North

Eine weitere interessante Brille aus der Kategorie „Smart, schlank, leicht“ ist die Echo Frames von Amazon, die im Dezember 2020 auf den US-Markt kam. Die Brille hat weder Kamera noch Display integriert und setzt zur Steuerung auf die KI-Assistentin Alexa. Nutzer können mit Sprachbefehlen Musik abspielen oder Smartphone-Benachrichtigungen durchsagen lassen. Die Technik steckt wie bei der Focals in den Brillenbügeln. Mit 31 Gramm ist die Echo Frames leichter als Google Glass. Sie hat jedoch das gleiche Problem wie alle Datenbrillen: Sie kommt in einem vorgegebenen Rahmendesign und passt deshalb längst nicht allen.

Minimalistisch in Sachen Technik wird auch Facebooks erste Datenbrille, die im Laufe des Jahres erscheinen soll. Sie wird kein Display bieten und wohl auch auf integrierte Kameras verzichten, der genaue Einsatzzweck ist daher noch unklar. Von großer Bedeutung aber ist die Partnerschaft mit EssilorLuxottica. Denn entwickelt wird eine smarte Ray-Ban. Das coole stylische Image der Kultmarke muss also auch bei diesem Modell erkennbar bleiben.

Ebenfalls 2021 debütieren soll die Nreal Light, eine AR-Sonnenbrille aus China, die Telekom und Vodafone für circa 500 Euro in Deutschland auf den Markt bringen wollen. Sie bietet ähnlich aufwendige Technik wie HoloLens und Magic Leap One, aber in einer erstaunlich kompakten Form. Da es kaum Anwendungen geschweige denn ein App-Ökosystem für die AR-Brille gibt, wird auch Nreal Light wohl nicht der große Wurf. Eine Nische könnte das Gerät als TV- oder Monitor-Brille für digitale Displays auftun, die man freischwebend in den Raum projiziert.

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Nreal Light packt viel in Technik ins Brillengestell und hat dennoch keine wirklich Killer-Anwendung. | Bild: Nreal

Entsprechend fieberhaft wartet die Branche auf Apples Einstieg in den Markt. Der Konzern ist neben Facebook der größte Investor in AR-Technologie und arbeitet seit Jahren an smarten Brillen. Ob und wann die Brille kommt und was sie kann, ist offen. Die Einführung soll zwischen 2021 und 2023 geplant sein. Apple hat von allen Herstellern am ehesten das Rüstzeug, Design und Funktion so zu verbinden, dass viele Menschen Lust bekommen auf eine smarte Brille.

Sicher ist: Smarte Brillen werden sich rascher entwickeln als bisher, aber keine Quantensprünge hinlegen. Die nächsten drei bis fünf Jahre werden entscheidend sein. Die technischen Herausforderungen in Bereichen wie Displaytechnik, Miniaturisierung, Energieverbrauch und Wärmeentwicklung sind nach wie vor immens, Durchbrüche nicht in Sicht. Sollten die Bemühungen der Techkonzerne keine Früchte tragen, bleiben smarte Brillen dann das, was sie heute schon sind: ein Nischenprodukt für Unternehmen und professionelle Anwender.

Von einer weiteren Ausdifferenzierung in Sparten wie Gaming und Sport kann man ausgehen. Vor allem der Einsatz von Smart Glasses für Profisportler ist vielversprechend. Auf der opti 2020 in München präsentierte Sportbrillenhersteller Julbo eine Datenbrille, bei der etwa Radfahrer und Triathleten z.B. Geschwindigkeit und Herzfrequenz kontrollieren können. Selbsttönende Reactic-Gläser sorgen für zusätzlichen Komfort. Ein anderes Beispiel ist die Vuzix Smart Swim für Profischwimmer, die Informationen zum Trainingsstand in Echtzeit abbildet und sogar das Anschauen von Filmen unter Wasser ermöglicht. Bei der CES 2020, der jährlich stattfindenden Consumer Electronics Show in Las Vegas, wurde die Sport-Datenbrille mit gleich zwei Innovationspreisen ausgezeichnet.

Damit smarte Brillen wie Smartphones im Alltag ankommen, müssen sie bequem und schick sein und einen klaren Mehrwert bieten. Zu den technischen und inhaltlichen Hürden kommen gesellschaftliche: AR-Brillen sind Datensammelmaschinen. Sie entfalten ihr technisches Potenzial nur, wenn sie möglichst viele Informationen über die Nutzer und die Umgebung sammeln. Der Datenschutzdiskurs ist daher von entscheidender Bedeutung für die Zukunft. Gerade dann, wenn ein Unternehmen wie Facebook zu den führenden Herstellern gehört.

Dieser Artikel erschien zuerst bei eyebizz in der Ausgabe 2.2021.

5 Jahre VR: Diese fünf Dinge hat die Branche erreicht

2016 wurde aus einem jahrzehntealten Tech-Versprechen Wirklichkeit: Man konnte in ein Geschäft gehen und sich eine VR-Brille kaufen, die gute Technik zu einem annehmbaren Preis bietet. Virtual Reality war keine exorbitant teure Technologie mehr, die Forschungseinrichtungen und dem Militär vorbehalten war. Die moderne VR-Zeitrechnung hatte begonnen.

Aus den Regalen gerissen wurden sie dennoch nicht, die Oculus Rift, HTC Vive und Playstation VR. Im Gegenteil. Groß war die Skepsis gegenüber der neuen Technologie, und für viele war sie immer noch zu umständlich und teuer für das, was sie letzten Endes bot: eine Handvoll VR-Spiele neben vieler Tech-Demos und kurzen Erfahrungen.

Doch in den letzten fünf Jahren hat sich viel getan. Virtual Reality ist weder in der Versenkung verschwunden, noch ist sie allgegenwärtig geworden. Sie hat still und heimlich die Grundlagen für kommende Erfolge gelegt und ist heute weitaus besser für die Zukunft aufgestellt als 2016. Diese fünf wichtigen Meilensteine auf dem Weg in den Mainstream hat Virtual Reality in den letzten fünf Jahren erreicht.

1. Kompakte, zugängliche und erschwingliche VR-Technik

Vorbei sind die Zeiten, in denen man Kabel durch die Wohnung verlegen und Sensoren an den Wänden installieren musste oder einen leistungsstarken Rechner brauchte, um Virtual Reality zu erfahren. Mit Oculus Quest erschien 2019 die erste autarke VR-Brille für Endverbraucher. Sie hat Sensoren und Recheneinheit integriert, kommt ohne Kabel aus und lässt sich ruckzuck einrichten. Damit vereinfachte die VR-Brille den Zugang zu Virtual Reality enorm.

Ende 2020 legte Facebook nach und brachte Oculus Quest 2 auf den Markt, die mehr Leistung für weniger Geld bietet: Der Einstieg in das neue Medium war noch nie so günstig. Mit einer Kombination aus autarkem Formfaktor, niedrigem Preis und kuratiertem App-Store schuf Facebook die Grundlagen für den Mainstream-Erfolg des VR-Gamings und erzielt damit erste Erfolge: Oculus Quest 2 verkauft sich als besser als alle anderen Oculus-Brille zusammen und erfolgreiche Entwickler können von ihren App-Verkäufen leben.

Mit kommenden Features wie optischem Handtracking, drahtlosem PC-VR-Streaming und einem hochwertigen AR-Modus  könnte die Technik in den kommenden Jahren noch attraktiver und zugänglicher werden für die Masse. Was die Industrie jetzt braucht, sind Hersteller, die Facebook Paroli bieten und für mehr Wettbewerb sorgen. Denn bislang ist Oculus Quest einzigartig.

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Keine Kabel, keine Zuspieler: Oculus Quest bietet totale Bewegungsfreiheit und unkompliziertes VR-Vergnügen zum kleinen Preis. | Bild: Facebook

2. Ein gereiftes Ökosystem

Die VR-Industrie hat eine passionierte und experimentierfreudige Entwicklergemeinschaft, die ungeachtet der Rückschläge der letzten Jahre weiter in die Technologie investiert hat. Aus der Begeisterung für das neue Medium gingen VR-Spiele wie Beat Saber, Superhot VR und Until You Fall hervor, die in der Form nur in Virtual Reality erfahrbar sind.

Daneben gibt es von Facebook, Sony und Valve entwickelte Meilensteine wie Lone Echo, Astro Bot Rescue Mission und Half-Life: Alyx, die teuren Produktionen etablierter Spieleplattformen in nichts nachstehen und Virtual Reality auf ein neues Qualitätsniveau gehoben haben.

Wer 2021 eine VR-Brille kauft, hat Zugriff auf ein breites Sortiment von VR-Spielen und kann sich hunderte Stunden gut unterhalten. Oder Fitness treiben und mit Freunden in virtuellen Welten abhängen: Dass Fitness- und Social-VR-Apps besonders beliebt sind, zeigt, dass Virtual Reality das Zeug hat, über Gaming hinauszuwachsen und sich weiter zu diversifizieren.

Dass das Ökosystem auch in wirtschaftlicher Hinsicht gewachsen ist, zeigt insbesondere Beat Saber. Der Kulttitel hat seit Erscheinen mehr als vier Millionen Exemplare verkauft. Auch andere Spiele sind erfolgreich: Allein im Quest Store haben knapp 70 Titel Millionenumsätze gemacht. Vor drei Jahren wäre das undenkbar gewesen.

Der Erfolg der Oculus Quest und die Ankündigung einer neuen Playstation-Brille, die 2022 erscheinen dürfte, werden dafür sorgen, dass der Strom toller VR-Spiele nicht versiegt.

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Half-Life: Alyx ist der vorläufige Höhepunkt, aber nicht der Endpunkt der VR-Spielentwicklung. | Bild: Valve

3. Das ABC der VR-Spielentwicklung steht

2016 war die VR-Entwicklung ein Wilder Westen. Richtlinien und bewährte Vorgehensweisen? Fehlanzeige.

Entwickler mussten durch Jahre des Ausprobierens herausfinden, was in Virtual Reality funktioniert und was nicht und wie man vermeidet, dass Spielern schlecht wird. Unnatürliche Interaktionen, fehlgegangene Interface-Experimente und unorthodoxe Tastenbelegungen konnten einem gehörig den Spielspaß verderben.

Manche Hersteller empfahlen Entwicklern, kurze Erfahrungen ohne künstliche Bewegung zu schaffen, denn niemand wusste, wie Spieler auf Virtual Reality reagieren. Heute gibt es Titel, die man stundenlang spielen kann und viele große Spiele setzen standardmäßig auf fließende Fortbewegung.

Es gibt Richtlinien für Zugänglichkeit und Leitfäden für künstliche Fortbewegung, die neue Entwickler an die Hand nehmen und Spiele erfahrener VR-Studios werden immer ausgefeilter. Wie weit das Spiel- und Interaktionsdesign mittlerweile gediehen ist, zeigt Half-Life: Alyx, das die besten Lehren aus den vergangenen Jahren VR-Entwicklung gezogen und die Messlatte für VR-Spiele in fast allen Belangen höher gelegt hat.

Keine Innovation mehr zu erwarten, wäre falsch. Aber die Grundlagen sind gelegt und Studios haben ein Fundus an Wissen aufgebaut, mit dem sie für die Zukunft gerüstet sind. Die Pioniertage der Virtual Reality sind vorbei.

Fliessende_Fortbewegung

Vor fünf Jahren verzichteten viele Spiele auf fließende Fortbewegung und setzten stattdessen auf Teleportation oder natürliche Bewegung. Mittlerweile wurden Strategien zur Verhinderung von VR-Übelkeit entwickelt und viele Titel erscheinen von Haus aus nur mit fließender Fortbewegung. | Bild: Facebook

4. Die Industrie entwickelt Standards

Seit 2016 entstanden zahlreiche Endgeräte, Schnittstellen und Plattformen, die untereinander kaum oder gar nicht kompatibel sind. Um möglichst viele Nutzer zu erreichen, mussten Entwickler ihre Software für jede erdenkliche Kombination anpassen – ein Albtraum.

Um diesem Chaos ein Ende zu setzen, setzten sich die wichtigsten Industriegrößen an einen Tisch und definierten eine einheitliche Schnittstelle: OpenXR soll sicherstellen, dass einmal programmierte VR-Spiele auf so vielen Endgeräten und Plattformen wie möglich laufen.

Das spart Zeit, Geld und Nerven und sorgt für eine optimale Verbreitung von Software, wovon am Ende auch Plattformbetreiber und Endverbraucher profitieren: Sie haben Zugriff auf mehr Inhalte.

Seit der Finalisierung der OpenXR-Spezifikation im Sommer 2019 schreitet die Umsetzung der Standards seitens der Industrie rasch voran. Microsoft, Facebook, Valve: Sie alle unterstützen OpenXR bereits.

Es dürfte noch eine Weile dauern, bis Endverbraucher die positiven Auswirkungen spüren. Doch darum geht es hier nicht: Dass ein Großteil der Industrievertreter zusammenkommt und konstruktiv zusammenarbeitet, zeugt von der Reife der Branche und einem gemeinsamen Willen, die VR-Industrie voranzubringen. Für die ist OpenXR ein großer Schritt nach vorne.

OpenXR

VR-Entwicklung vor und nach OpenXR. | Bild: Khronos Group

5. Virtual Reality verändert Gaming

Gaming und Schwitzen: Dieser Kombination begegnete man in der Geschichte der Videospiele eher selten. Seit Anbeginn der Industrie zocken Gamer hauptsächlich im Sitzen (oder Liegen).

Virtual Reality stellt dieses jahrzehntealte Bild der spielenden Couch-Kartoffel infrage. Physisch fordernde Spiele wie Beat Saber erfreuen sich gerade deshalb großer Beliebtheit, weil sie körperbetont sind und man könnte argumentieren, dass sie mittlerweile ein eigenes Spielgenre darstellen, weil sie Bewegung und Spielerlebnis auf einzigartige Weise kombinieren. Bewegung ist nicht Mittel zum Zweck, beispielsweise für Fitness oder Steuerung, sondern Teil der Erfahrung.

Das neue Bewegungs-Genre bietet aufregende neue Möglichkeiten, die im Rahmen des 2D-Gamings nicht wiederholbar sind. Virtual Reality gewinnt damit ein echtes Alleinstellungsmerkmal, das noch dazu auf großen Anklang trifft.

Titel mit Körpereinsatz sind zudem meist immersiver als Sitz- oder Stehspiele, weil sie den eigenen Körper besonders stark in die Spielerfahrung einbeziehen. So oder so: Bliebe körperbetontes Spielen der einzige Einfluss, den Virtual Reality auf die Gaming-Kultur und -Geschichte hätte, wäre dieser bereits jetzt signifikant.

Dieser Beitrag erschien am 28. März 2021 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

Supernatural

Supernatural ist eine erfolgreiche Fitness-App für Oculus Quest. | Bild: Within

Wie ein VR-Spiel Gaming neu definiert

Until You Fall ist ein wichtiges, zukunftsweisendes VR-Spiel, weil es Spiel- und Körpererfahrung auf besonders geschickte Weise verknüpft.

Hier geht es Dämonen mit mittelalterlichen Waffen zu Leibe: Von Langschwertern und Rapieren über Dolche und Äxte bis hin zu Keulen und Faustwaffen. Und jede Waffe führt und schwingt sich anders. Im Kampf folgt man abwechselnd vorgegebenen Angriffsmustern, pariert, weicht Hieben aus und improvisiert in den Lücken.

Das Besondere an Virtual Reality als Spielemedium ist, dass Bewegungen zu Spieleingaben werden: Der Körper wird zum Controller. Vor dem Hintergrund dieser Metapher sieht man leicht, weshalb es schwierig ist, ein gutes VR-Kampfspiel zu entwickeln. Man muss etwas so Analoges und Lebendiges wie den menschlichen Körper mit dem starren, klar definierten Regelwerk eines Spiels vermählen. Until You Fall meistert diese Aufgabe.

Der vom Spiel gelenkte Schlagabtausch ist so gut gemacht, dass Körper und Spiel zu einer Einheit verschmelzen. Das Spiel führt kunstvoll, während der Körper zum Medium der Spielerfahrung wird. Das Ergebnis fühlt sich an wie die nächste Stufe des Gamings.

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Wenn Körper und Spiel verschmelzen. | Bild: Schell Games

In Until You Fall lernt man mit dem Körper statt nur mit dem Kopf: Man verinnerlicht Bewegungsabläufe, lernt, Manöver vorauszusehen, übt sich in verschiedenen Kampftechniken und wird währenddessen immer schneller und gefährlicher. Den eigenen Fortschritt mitzuerleben, ist beeindruckend.

Heutige VR-Technik ist unvollständig: Mit der VR-Brille im Gesicht steht man mit einem Fuß in der Virtual Reality, mit dem anderen in der Wirklichkeit. Das ist eine der größten Einschränkungen der Technologie, die sich zum Beispiel darin äußert, dass man sich nicht frei durch virtuelle Welten bewegen kann. Zumindest nicht mit dem eigenen, physischen Körper.

Gute VR-Spiele tragen diesem Umstand nicht nur Rechnung, sie begreifen ihn als Stärke, indem sie den Körper kunstvoll in die Erfahrung einbeziehen und diesen Konflikt zwischen digitaler und physischer Wirklichkeit so gut aufheben, wie es nur geht.

Until You Fall tut das und noch mehr, denn es zeigt, dass sich videospieltypische Feedback-Schleifen unter Einbezug des Körpers gewinnbringend in die Virtual Reality übertragen lassen. In dieser Einheit von Videospielmechanik und physischer VR-Erfahrung sehe ich den bislang überzeugendsten Beweis für Virtual Reality als Spielemedium erbracht, das die Tradition der Videospiele in einer neuen, körperlichen Dimension fortsetzt.

Until You Fall ist längst nicht perfekt. Man muss das Spiel gut kennen, um mit ihm zu verschmelzen, das heißt: mit seinem Körper darin aufgehen, ohne sich von den Grenzen der physischen Welt eingeschränkt zu fühlen. Und selbst dann ist es oft lückenhaft in seinem Versuch, eine Harmonie von Spiel und Körper herbeizuführen, die wirkliche Welt und dessen physikalische Grenzen vergessen zu lassen.

In jenen Momenten, in denen es gelingt, glänzen Until You Fall und Virtual Reality. Das lässt in eine Zukunft blicken, in der die Spielmechaniken der Virtual Reality jenen klassischer Monitorspiele in nichts nachstehen, im Gegenteil, zu dem werden, was sie vielleicht schon immer sein sollten: eine durch und durch reale, weil körperliche Erfahrung.

Dieser Beitrag erschien am 27. Dezember 2020 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

„Paper Beast“ – Traumhaft schöne Virtual Reality

Viele VR-Entwickler wollen die uns bekannte Welt abbilden und das möglichst realistisch. Doch weshalb eigentlich? Virtual Reality ist zu weit mehr in der Lage. Der französische Spieldesigner Éric Chahi beweist das mit Paper Beast. Zugegeben, ich kenne Chahis frühere Werke wie Another World, Heart of Darkness und From Dust nicht. Aber ich weiß, dass er das Gleiche für Videospiele ist wie Autorenfilmer fürs Kino: Er schafft eigenwillige Kunstwerke mit starker Handschrift. Und die sind selten. In den letzten dreißig Jahren schuf Chahi gerade mal vier große Spiele.

Mit Paper Beast wirft Chahi uns in eine Welt, die ganz anders ist als die unsere und weckt damit den Urzauber der Virtual Reality, deren Quelle die Faszination des Anderswo ist. Die VR-Brille ist plötzlich nicht mehr ein technisches Gerät, sie ist eine magische Brille, die in eine andere Dimension blicken lässt. Einfach nur sein und staunen: Paper Beast versetzt einen in den Urzustand menschlicher Existenz.

Man müsste ein Dichter sein, um diese Welt in Worte zu fassen. Sie besteht aus Wüsten, buntem Gewölk, Kristallen und Lebewesen, die an Origami-Figuren erinnern. Ein Woher, Wohin und Weshalb gibt es hier ebenso wenig wie ein explizites Spielziel oder Texte. Paper Beast spricht allein durch seine Welt. Die meiste Zeit begleitet man papierne Lebewesen durch das Ödland, entschlüsselt deren Absicht, hilft ihnen, wo nötig. Als Gegenleistung eröffnen sie neue Pfade. Visuell erinnert Paper Beast an Dalí-Gemälde, mit dem Unterschied, dass man hier ein lebendiges Ökosystem vor sich hat, das agiert und reagiert und eigenen Gesetzen folgt, mit denen man sich erst vertraut machen muss.

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Die Faszination des Fremden: Paper Beast. | Bild: Pixel Reef

Das Herzstück des Spiels ist eine beeindruckende Physiksimulation, die ich so noch in keinem anderen Spiel gesehen habe. Wasser bricht sich realistisch Bahn, friert ein und schmilzt unter dem Einfluss von Kälte und Hitze. Erde lässt sich aufschütten und reagiert auf äußere Kräfte, so wie man es erwarten würde. Lässt man eine Lehmkugel einen Erdhügel hinunterrollen, so wird sie größer.

Müsste ich einen passenden Begriff Paper Beast finden, so wäre es „nature porn“: Ich ertappe mich dabei, wie ich mich minutenlang am Spiel der Elemente und Physik ergötze. Im Sandbox-Modus kann man Gott spielen und sich dieser Lust uneingeschränkt hingeben, indem man Landschaften nach Belieben formt, Lebewesen hineinsetzt und beobachtet, wie das Ökosystem sein Gleichgewicht wiederherstellt.

Die Physiksimulation ist schön anzusehen und bildet die Grundlage der Spielmechanik. Müsste ich Paper Beast einem Spielgenre zuordnen, so würde ich es ein Physikrätselspiel nennen. Mal muss man Kreaturen über physische Hindernisse hinweg helfen, mal die Elemente nutzen, um Wege freizumachen.

Seine besten Momente aber hat Paper Beast in den ersten zwei Stunden, in denen es sich wie eine Natur- und Lebenssimulation und nicht wie ein Spiel anfühlt. Im späteren Verlauf wiederholen sich einmal eingeführte Rätselelemente und die Spielabläufe werden vorhersehbarer, sodass das spielmechanische Gerüst stärker hervortritt. Paper Beast wirkt dann konventioneller und greifbarer, was mit einer teilweisen Entzauberung seiner Welt einhergeht.

Paper Beast nutzt die Stärken der Virtual Reality nicht voll und ganz: Es bedarf keiner physischen Aktivität und die Handinteraktionen sind relativ simpel. Dennoch verstärkt die VR-Brille das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein, immens. Und genau darum geht es in Paper Beast.

Das Spiel ist eine Liebeserklärung an das Leben und das Lebendige. Es porträtiert die Natur, den rohen Überlebenskampf und die Zerbrechlichkeit des Daseins. Dank Virtual Reality steht man mittendrin und erfährt das Verhältnis zur Welt auf eine neue, unverstellte Weise. Keine Sorge: Paper Beast ist mehr als eine (existenzielle) Erfahrung. Es besitzt Spielmechaniken und Rätsel, von denen es lebt, aber sie sind abstrakt und unaufdringlich, weil sie auf natürliche Weise der Physiksimulation und den Elementen dieser Welt entspringen. Lösungen wirken nur selten gekünstelt oder weit hergeholt.

Visuell und klanglich ist die Welt eine Wucht. Virtual Reality ist das sinnlichste aller Medien und genau das richtige Gefäß für ein Spiel wie Paper Beast. Das Abenteuer dauert wenige Stunden. Danach bleibt einem der Sandbox-Modus, in dem man nach Lust und Laune mit Götterkraften experimentieren kann. Paper Beast lässt sich jedoch nicht in Spieldauer messen, seine größte Stärke ist die Einzigartigkeit. Wer etwas Außergewöhnliches in VR erleben will, wird hier reich beschenkt.

Dieser Beitrag erschien am 02. August 2020 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.