Im Atombunker des US-Präsidenten: VR-Erfahrung simuliert Ernstfall

Stellt euch vor, ihr seid der US-Präsident. Das Militär berichtet, dass russische Atomraketen auf dem Weg zur amerikanischen Küste sind. Binnen einer Viertelstunde müsst ihr entscheiden, wie die USA auf den Angriff reagieren. Denn so lange dauert es, bis die Flugkörper die US-Raketensysteme erreichen und außer Gefecht setzen.

Ist es womöglich nur ein Fehlalarm? Oder ein Cyberangriff auf die US-Sicherheitssysteme? Es bleibt keine Zeit, diesen Fragen nachzugehen. Die Generäle legen drei Optionen auf einen Tisch, darunter einen eingeschränkten Gegenangriff, der sich gegen russische Raketensilos, nukleare U-Boot-Basen und Luftwaffenstützpunkte richtet. Der könnte 5 bis 15 Millionen Menschenleben kosten. Die aggressivste Alternative ist ein Gegenschlag, der sich direkt gegen die russische Industrie und Führung richtete und bis zu 45 Millionen Todesopfer fordern könnte.

Das ist kein aus der Luft gegriffenes Szenario. Die VR-Simulation Nuclear Biscuit stützt sich auf umfangreiche Recherchen, einschließlich Interviews mit ehemaligen US-Beamten, zur Frage, was passieren würde, wenn die USA mit einem nuklearen Angriff konfrontiert wäre – oder das nur glaubt.

Die VR-Erfahrung ist nach der Plastikkarte benannt, die im Atomkoffer des US-Präsidenten aufbewahrt wird und die Aktivierungscodes enthält. Entwickelt wurde die VR-Simulation von Sharon K. Weiner, Professorin an der School of International Service lehrt und Moritz Kütt vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik. Die VR-Erfahrung simuliert eine realistische Krisensituation und zeigt, unter welch schwierigen Umständen Entscheidungen getroffen werden müssten, die das Schicksal der Menschheit besiegeln könnten.

In der Rolle des US-Präsidenten werdet ihr in einen Atombunker eskortiert und müsst entscheiden, wie die USA auf den mutmaßlichen Angriff antworten – inmitten einer unscharfen Nachrichtenlage, drängenden Aufforderungen des Militärstabs und durchdringendem Sirenengeheul. Ihr könnte euch für eine der drei Gegenschläge entscheiden oder entscheiden, euch nicht zu entscheiden. Die Simulation lässt eine Vielzahl an Interaktionen und Möglichkeiten zu, auf die Situation zu reagieren.

In den vergangenen Monaten führten Weiner und Kütt kontrollierte Experimente mit Simulationsteilnehmern durch und werteten die Ergebnisse aus. Das Ziel des Forschungsprojekts ist, herauszufinden, wie sich politische Entscheidungsträger in solchen Situation verhalten würden. „Wir wollen besser verstehen, wie sich Menschen während einer nuklearen Krise verhalten und inwieweit sie sich so verhalten, wie es die Theorie der Abschreckung erwarten lässt“, schreibt mir Weiner.

„Abschreckung setzt eine rationale Entscheidungsfindung voraus. Die verhaltenspsychologische Literatur legt jedoch nahe, dass Menschen in einer Krise oft Abkürzungen nehmen oder sich weniger rational verhalten. Eine erste Prüfung unserer Daten deutet stark darauf hin, dass letzteres der Fall ist.“ In einem Gespräch mit dem Guardian sagt Kütt: „Die meisten Teilnehmer entscheiden sich für eine Eskalation und nur sehr wenige dafür, nicht auf den Angriff zu antworten.“

Besonders beunruhigend: Die Forscher fanden keine Beweise dafür, dass vergangene US-Präsidenten an ähnlichen Simulationen teilgenommen haben, mit Ausnahme von Jimmy Carter. Sie seien also vollkommen unvorbereitet gewesen.

Das könnte sich ändern: Weiner und Kütt möchten die VR-Simulation im Januar Mitgliedern des US-Kongresses vorführen. Sie soll zum Nachdenken anregen und politisch etwas bewegen. Eine Reihe von Nuklearwaffenexperten und Ex-Politikern haben die VR-Erfahrung vor Kurzem in Washington durchlaufen. Die Reaktionen waren positiv.“Du gehst in diese Simulation und kommst als ein veränderter Mensch heraus“, sagte etwa Richard Burt, der ehemalige US-Chefunterhändler bei den Rüstungskontrollverhandlungen mit der Sowjetunion.

Laut Weiner hat Virtual Reality große Vorteile gegenüber physischen Simulationen. „Die Teilnehmer glauben eher, dass sie sich in einer echten Krisensituation befinden. Außerdem ermöglicht die Simulation ihnen, selbst zu agieren, anstatt so zu tun, als wären sie jemand anderes. Das Ergebnis sind Daten, die mit größerer Wahrscheinlichkeit das widerspiegeln, was im wirklichen Leben passieren würde.“

Derzeit gibt es keine Möglichkeit, Nuclear Biscuit selbst auszuprobieren. Weiner und Kütt würden die VR-Simulation jedoch in Zukunft gerne einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen. Das werde jedoch etwas Zeit benötigen und zusätzliche Mittel erfordern, heißt es.

Dieser Beitrag erschien am 19. Dezember 2021 bei MIXED.

Winds & Leaves: Fest für die Augen, Balsam für die Seele

Wir sind es gewohnt, von Spielen Komplexität einzufordern. Sie müssen Tiefgang und reiche Regelwerke besitzen, ansonsten werden sie schnell als simpel und anspruchslos abgestempelt. Winds & Leaves ist gerade deshalb schön, weil es solche Ansprüche größtenteils von sich weist.

Das VR-Spiel hat sehr wohl ein spielmechanisches Gerüst, aber dieses macht den wenigen einfachen Handlungen und dem Erleben der Welt Platz. Die Geschichte? Sie fließt, ohne dass man es merkt. Und dennoch hinterlässt das VR-Spiel ein befriedigendes Gefühl, eine wohlige Wärme in der Brust.

Winds & Leaves Wiesenlandschaft

Pastellfarbene Naturschönheit im VR-Spiel „Winds & Leaves. | Bild: Trebuchet

In Winds & Leaves verkörpert ihr ein mystisches Wesen, das sich in einer kargen Steppe wiederfindet und dieser neues Leben einhauchen muss. Schritt für Schritt werdet ihr an die Werkzeuge herangeführt, mit denen ihr Leben spendet: einen Holzstecken, der Löcher in den Boden gräbt, eine Tasche, in der ihr gesammeltes Saatgut aufbewahrt und eine magische Windmühle, die den Fluss der Zeit beschleunigt.

Habt ihr mit dem Stecken ein Loch gegraben, könnt ihr eine Frucht hineinfallen lassen. Mit der Zeit wächst daraus ein Baum und mit dem Baum greift das Leben in Gestalt von Gras, Blumen und weiteren Bäumen um sich. Haltet ihr die Windmühle in den Wind, seht ihr Tage und Nächte binnen Sekunden verstreichen und könnt beobachten, wie sich das Leben Bahn bricht.

Die wiedererwachte Pflanzenwelt ist nicht nur zur Zierde da. Sie ermöglicht euch, neue Gebiete zu erkunden. Denn wandert ihr zu lange auf Sand, versiegen eure Lebenskräfte. Keine Sorge: Es ist nicht nötig, alle paar Meter einen Baum zu pflanzen, da sich das Leben von selbst in alle Richtungen ausbreitet.

Das Spiel bietet eine Reihe technischer Besonderheiten, die man nur in wenigen VR-Spielen zu Gesicht bekommt: Ich denke an ausladende Landschaften mit kilometerweiter Fernsicht, einen fließenden Tag-Nacht-Zyklus und eine dynamische Lebenssimulation, die in Kombination zu erstaunlichen Momenten führen.

Als ich nach einer Stunde in ein altes Gebiet zurückkehrte, stellte ich verblüfft fest, dass aus einer Reihe gepflanzter Bäume ohne weiteres Zutun ein üppiger Wald entstanden war. Wo sich vor wenigen Tagen noch eine braune Wüstenlandschaft hinzog, versperrten nun haushohe Bäume die Sicht. Toll: Dank eurer Kletterkünste könnt ihr euch mühelos Äste hochhangeln und binnen Sekunden die Baumkrone erreichen, um die Landschaft zu genießen – oder mit Schwindelgefühlen nach unten zu schauen. Winds & Leaves ist dank seiner Natursimulation und pastellfarbenen Naturdarstellung ein wahres Fest für die Augen und einer der schönsten VR-Titel, die ich gespielt habe.

Mit dem Pflanzen von Bäumen ist es nicht getan: Ihr müsst Schneisen durch die Wüste schlagen, neues Saatgut sammeln, Monumente entdecken und Windmaschinen aktivieren. Mehr will ich an dieser Stelle nicht verraten, weil es viel Freude macht, das Spiel und seine Mechaniken selbst zu entdecken.

Winds & Leaves Ferne Landschaft

Beeindruckende Fernsicht wie sie nur ein PC-VR bieten kann. | Bild: Trebuchet

Ich habe circa vier Stunden in dieser Welt verbracht und habe noch viele Gebiete zu erforschen. Eine grundlegende Weiterentwicklung des Regelwerks erwarte ich allerdings nicht – und begrüße das. Die Kunst dieses Spiels besteht darin, dass es einen unterhält, ohne dass man viele oder komplexe Dinge tut. Kämpfen, rätseln, bauen: Klassische Spielmechaniken stehen hier zurück zugunsten eines kontemplativen Spielerlebnisses. Aus welchem Grund auch immer: Solche Spiele funktionieren sehr gut in Virtual Reality.

So schön Winds & Leaves auch ist, es ist nicht frei von Mängeln: Die Fortbewegung und das Interface sind nicht optimal gelöst. Im Spiel bewegt ihr euch auf virtuellen Stelzen fort und indem ihr die Hände abwechselnd hoch- und runterbewegt. Während ersteres unnatürlich wirkt, sollte letzteres heute nicht mehr Standard sein. Das Studio hat die Steuerung der PSVR-Version offenbar unverändert übernommen, ohne VR-Fortbewegung mittels Analogsticks anzubieten.

Auch das Interface ist etwas sperrig. Die um den Avatar hängenden Werkzeuge müssen räumlich kalibriert werden und können in das Sichtfeld ragen, was irritieren kann. Mir gelang es, sie so einzustellen, dass sie die meiste Zeit über nicht stören. An die etwas seltsame Fortbewegung habe ich mich ebenfalls gewöhnt, sodass das Erlebnis dadurch nicht wesentlich getrübt wird.

Wer meditative VR-Spiele mit wunderschöner Grafik, einer beeindruckenden Naturdarstellung und einer geheimnisvollen Aura mag, wird über solche Schwächen gern hinwegsehen und Winds & Leaves lieben lernen.

Dieser Beitrag erschien am 14. Dezember 2021 bei MIXED.

Valve und Virtual Reality: Was ist los und wie geht es weiter?

Die Theorien des Valve-Fans und Youtubers Tyler McVicker haben hohe Wellen geschlagen. Valve sei enttäuscht, wie langsam sich die eigene PC-VR-Plattform SteamVR entwickle und habe sich infolgedessen größtenteils von Virtual Reality abgewandt, behauptet McVicker in einem Youtube-Video. Priorität habe jetzt der Launch der portablen Spielkonsole Steam Deck, die schon jetzt auf weit mehr Resonanz stoßen solle als Valves teures Highend-VR-Produkt.

In einer Stellungnahme wollte Valve die Gerüchte weder bestätigen noch dementieren. Ob sie stimmen, wissen wir demnach nicht. Aber die derzeit herrschenden Marktbedingungen und Valves bisherige VR-Strategie sprechen eher für die Gerüchte als dagegen.

Gabe Newell trägt einen VR-Brillenprototyp.

Valve-CEO Gabe Newell mit einem frühen VR-Brillenprototyp. | Bild: Valve

Es ist kein Geheimnis, dass SteamVR nicht vom Fleck kommt. Das belegen Valves eigene Steam-Statistiken. Dass selbst Half-Life: Alyx nichts am Nischenstatus ändern konnte, könnte intern zu einem Umdenken geführt haben. Ich bin überzeugt, dass Valve das Spiel primär deshalb entwickelte, weil es das Team begeisterte. Ein VR-Titel dieser Größenordnung existierte schlicht noch nicht: Eine AAA-Produktion, die von einem der besten Studios der Welt eigens für Virtual Reality entwickelt wurde und keinen Vergleich mit den besten 2D-Spielen scheuen muss. Valve kann sich solche Projekte leisten.

Aber zugleich wird sich das Unternehmen mehr von Half-Life: Alyx erhofft haben und sich zu schade sein, weiterhin jahrelang an VR-Spielen zu arbeiten, die am Ende nur wenige Fans spielen. Valve hat größere Ansprüche: Gaming umzukrempeln. Aber weder die Valve Index noch Half-Life: Alyx konnten das leisten.

Der Hauptgrund dafür sind die hohen Einstiegshürden. PC-VR ist zu kostspielig und kompliziert für Normalverbraucher. Valve spekulierte, dass herausragende Virtual Reality keinen Preis hat – und irrte sich. Der mit dem Launch von Half-Life: Alyx zusammenfallende Beginn der Pandemie verschlimmerte die Situation noch. Die Valve Index und andere VR-Brillen waren monatelang nicht lieferbar und neue Grafikkarten werden zu Mondpreisen verkauft. Inmitten einer globalen Gesundheits- und Wirtschaftskrise ist PC-VR-Gaming purer Luxus.

Diagramm des SteamVR-Markts.

Meta stellt mittlerweile (Stand: Januar 2022) zwei Drittel aller mit SteamVR genutzten VR-Brillen und knapp jede zweite VR-Brille ist eine Meta Quest 2. | Bild: MIXED.de

In diesem Marktumfeld hatte Meta leichtes Spiel mit Budget-VR. Die konkurrenzlos bepreiste und leicht zu nutzende Quest 2 hat den VR-Markt im Sturm erobert und ist mittlerweile zur Zielplattform der meisten VR-Studios geworden. Wer mit VR-Spielen Geld verdienen will, hat fast keine andere Wahl, als für Metas VR-Plattform zu entwickeln. SteamVR verkümmert derweil, weil immer weniger gute PC-VR-Spiele erscheinen. Die Behauptung, dass der relative Misserfolg von PC-VR und die starke Konkurrenz seitens Meta zu einer Ernüchterung bei Valve geführt haben, ist nicht weit hergeholt.

Ich sehe zwei Wege aus der SteamVR-Misere. Der erste wären massive Investitionen ins PC-VR-Ökosystem und in die Entwicklung PC-VR-exklusiver Spiele. Da Meta diese Sparte praktisch aufgegeben hat und Sony (fast) nur das eigene Playstation-Feld bestellt, bleibt derzeit nur Valve als potenzieller Investor. Wer das Unternehmen kennt und die letzten fünf Jahre aufgepasst hat, weiß, dass sich Valve nicht in dieser Rolle sieht. Während Meta Milliarden ins eigene VR-Ökosystem pumpt und ein VR-Studio nach dem anderen kauft, hat Valve auf ein einziges VR-Spiel gewettet.

Szene mit Combine-Soldaten aus Half-Life: Alyx

Eine Szene aus Half-Life: Alyx. | Bild: Valve

Der zweite Weg wäre ein Frontalangriff auf die Quest 2 mit einer hybriden VR-Brille, die optional an der SteamVR-Bibliothek andockt oder autark ein davon abgekoppeltes eigenes VR-Ökosystem ähnlich Metas VR-Brille nutzt. Ein solches Gerät mit Codenamen Deckard ist Gerüchten zufolge in Entwicklung. Aus der PC-VR-Nische herauswachsen und wirklich erfolgreich werden dürfte eine solche VR-Brille allerdings nur dann, wenn sie ohne Rechner, also autark läuft. Denn zumindest heute gilt: Budget-VR schlägt Highend-VR mit Abstand. Das hat Meta Quest 2 bewiesen. Das Problem ist, dass Valve kein Interesse haben dürfte, ein komplett neues Ökosystem eigens für Virtual Reality aufzubauen. Valves Domäne ist und bleibt das PC-Gaming, weshalb dieser zweite Weg unwahrscheinlich ist.

Im heutigen Marktumfeld hat Valve mehr zu verlieren als zu gewinnen und dürfte daher auf eine spätere und weniger riskante Gelegenheit warten, wieder in den VR-Markt einzusteigen. Das Steam Deck könnte den Weg dahin bereiten. Mit dem Handheld versucht Valve etwas Neues und macht das eigene PC-Ökosystem mobil. Steam Deck und Quest 2 haben etwas gemein: Beide Geräte machen kostspielige Zuspieler überflüssig, um neue Käuferschichten zu erreichen.

Möglich machen das immer leistungsfähigere mobile Chips. Was heute nur mit Mühe und Not umsetzbar wäre, könnte in fünf Jahren Standard sein: dass man PC-VR-Spiele in einer grafisch akzeptablen Qualität auf einer autarken VR-Brille spielen kann. Und wenn dieser Moment gekommen ist, könnte Valve bei VR wieder mehr Umsatzpotenzial sehen.

Valve Index

Valves eigenes PC-VR-System: die Valve Index. | Bild: Valve

Gabe Newell hat klargemacht, dass Virtual Reality eine langfristige Investition ist. Dass sich Valve vorerst auf das Steam Deck konzentriert, liegt nahe: Der Handheld könnte ein wichtiger Pfeiler von Steams Zukunft werden. Die Entwicklung eigener VR-Technologie dürfte derweil weitergehen und mit Valves Plan, PC-Gaming mobil zu machen, eines Tages wieder an Bedeutung gewinnen – sofern Meta der Konkurrenz in der Zwischenzeit nicht davongelaufen ist.

Die VR-Industrie wird eine potenzielle VR-Pause Valves verschmerzen. Denn SteamVR kratzt dank Valves passiv-aggressivem Verhalten bereits heute an der Grenze der Irrelevanz. Meta, Sony und womöglich auch Apple werden in den nächsten Jahren zu den wichtigsten Treibern der Technologie.

Während Meta bis auf Weiteres auf Budget-VR setzen wird, dürfte Sony mit Playstation VR 2 zum Fackelträger des Highend-VR-Gamings werden. Ob das positive Effekte auf SteamVR hat und teure VR-Produktionen ihren Weg auf Valves VR-Plattform finden, bleibt abzuwarten.

Dieser Beitrag erschien am 5. Dezember 2021 bei MIXED.

VR-Brillen: Quantensprünge brauchen manchmal länger

2022 wird es zehn Jahre her sein, dass ein Kickstarter-Projekt den Beginn der modernen VR-Zeitrechnung markierte. Ich meine das Crowdfunding des legendären DK1, dem ersten Development Kit der Oculus Rift. Der Kickstarter fand im August 2012 statt und nahm 2,4 Millionen US-Dollar ein.

Danach ging es Schlag auf Schlag: 2014 kaufte Facebook Oculus und Sony kündigte Project Morpheus, die spätere Playstation VR, an. HTC und Valve stellten im darauffolgenden Jahr die HTC Vive vor. 2016 erschienen alle drei Geräte: Oculus Rift, HTC Vive und Playstation VR. Es war das erste Mal in der Geschichte, das Konsumenten hochwertige VR-Brillen zu vergleichsweise günstigen Preisen kaufen konnten.

Schaut man sich heute das knapp zehn Jahre alte Kickstarter-Video des DK1 und das Rendering der angepeilten VR-Brille genauer an, so fällt eines auf: Oculus war recht optimistisch, was den Formfaktor des Geräts betrifft oder aber ließ zu Werbezwecken die Fantasie walten. Zu sehen ist ein schlankes VR-Headset, das eher einer Skibrille als den Geräten gleicht, die tatsächlich folgten und den Markt bis heute prägen.

DK1_Rendering

Das Rendering der DK1. | Bild: Meta

Das DK1 kam am Ende in Form eines Ziegelsteins. Die nachfolgenden Modelle einschließlich des Endprodukts waren zwar runder und damit auch hübscher anzusehen, aber am wuchtigen Vorbau änderte sich nicht viel. Was auch für Geräte anderer Hersteller gilt: Denn fast alle setzten in den Folgejahren auf die vergleichweise leichten und günstig herzustellenden Fresnel-Linsen. Deren größter Nachteil ist, dass sie einen großen Abstand zum Display erfordern und den Formfaktor der VR-Brillen damit erheblich vergrößern.

HTCs Vive Flow und Metas Project Cambria gehören zu den ersten VR-Brillen, die sogenannte Pancake-Linsen nutzen. Die können eng am Display platziert werden und ermöglichen dadurch einen schmaleren Formfaktor, vergleichbar mit dem Skibrillen-Rendering der DK1. Gedauert hat das allerdings fast zehn Jahre. Ein Nachteil von Pancake-Linsen ist, dass sie teuer in der Herstellung sind. Es dürften daher noch ein paar Jahre mehr vergehen, bis die Preise für entsprechende Geräte fallen und solche Geräte große Verbreitung finden.

Palmer Luckey mit DK1

So sieht die DK1 tatsächlich aus. | Bild: Oculus

Welche Lehre zieht man daraus? Vielleicht die, dass sich VR-Technologie langsamer entwickelt, als man gemeinhin denkt, zumindest dann, wenn man Entwicklungen der Industrie mikroskopisch verfolgt und inkrementelle Fortschritte wie hoher aufgelöste Displays ausblendet. Der größte Entwicklungsschritt der letzten fünf Jahre war wohl der, Trackingsystem, Rechenleistung und Energieversorgung in ein autarkes Gerät zu packen. Kein Wunder dominiert Oculus Quest 2 heute den Markt.

Mark Zuckerberg will noch in diesem Jahrzehnt eine Milliarde Menschen ins Metaverse bringen. Entwickeln sich die Technik und der Formfaktor weiterhin in diesem Tempo, dann ist das unwahrscheinlich. Denn für massentaugliche Virtual Reality und Augmented Reality bedarf es vieler weiterer Durchbrüche.

Vielleicht sollte man sich in diesem Kontext Hofstadters Gesetz in Erinnerung rufen. Es besagt, dass Prozesse stets länger dauern, als man erwartet – selbst wenn man Hofstadters Gesetz berücksichtigt. Metas VR- und AR-Forschungschef Michael Abrash zitierte das Gesetz 2019 auf der Oculus Connect 6. Der Grund: Drei Jahre zuvor stellte er Prognosen zur zeitlichen Entwicklung von VR-Technologie an, die sich als unhaltbar erwiesen.

Erstes Bild von Project Cambria

Das erste offizielle Bild von Project Cambria, veröffentlicht im Rahmen der Connect 2021. | Bild: Meta

Nun muss man Abrash zugute halten, dass er sich nicht allzu grob verschätzte. In 2022, also einem Jahr Verspätung, erscheint Metas nächste große VR-Brille mit Codenamen Project Cambria, die dank Pancake-Linsen und neuem Formfaktor, Technologien wie Eye-Tracking und hochwertiger Mixed Reality endlich die zweite Generation Virtual Reality einläuten dürfte. Und das alles in einem autarken Gerät und nicht wie ursprünglich geplant im PC-VR-Format, das Energie und Rechenleistung an einen externen Zuspieler auslagern kann.

So oder so wird 2022 das wohl spannendste Jahr für Virtual Reality werden, da die Playstation VR 2 und womöglich eine Mixed-Reality-Brille Marke Apple erscheinen und neue Maßstäbe setzen werden.

Dieser Beitrag erschien am 20. November 2021 bei MIXED.

Facebook ist tot, es lebe Meta!

Facebook ist das meistgehasste Unternehmen der Welt. Diesen Eindruck bekomme ich, wenn ich die Presseartikel der letzten zwei Wochen lese. Unvorstellbar, dass es eine Zeit gab, in der Facebook hip und Mark Zuckerberg ein gefeierter Unternehmer war.

Facebooks moralischer Fall geschah nicht von heute auf morgen. Wer Steven Levys Facebook-Historie „Weltmacht am Abgrund“ gelesen hat, weiß, dass das Unternehmen von Anfang nur nach aggressivem Wachstum strebte. Privatsphäre, Datenschutz und gesellschaftliche Auswirkungen sind nachrangig.

Die Enthüllungen der Whistleblowerin Frances Haugen und die Facebook Papers: So traurig diese jüngsten Armutszeugnisse Facebooks auch sind, sie sind nur ein weiteres Kapitel in einer endlosen Reihe von Skandalen und Grenzüberschreitungen, denen weitere folgen dürften, solange Facebook an seinem Geschäftsmodell festhält.

Keine Überraschung also, dass Facebooks Umbenennung und Neuausrichtung auf das Metaversum mit besonders viel Schrecken und Häme aufgenommen wurde. Erneut wurde eimerweise Verachtung über Mark Zuckerbergs Haupt gegossen, insbesondere seitens der Internetgemeinschaft, die sich mit einer Flut von Memes über den Facebook-Gründer und seine Metaverse-Pläne lustig macht.

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Mark Zuckerbergs Metaverse-Vision greift weit in die Zukunft und vieles von dem Gezeigten dürfte in der Form niemals Wirklichkeit werden, egal, wie gut die Technologie eines Tages wird. | Bild: Meta

Doch bei all dem Spaß sollte man eines nicht vergessen: dass Zuckerbergs Plan aufgehen könnte. Der ehemalige Harvard-Student ist ein gewiefter Unternehmer, der Facebook schon durch viele Krisen geführt hat. Seine Verbissenheit und sein Gespür für Trends und Marktentwicklungen könnten auch hier wieder zum Erfolg führen.

Bei aller Verachtung für Zuckerbergs Methoden: unternehmerisches Genie kann man ihm nicht absprechen. Wie oft hat die Öffentlichkeit Facebooks Produkte belächelt, um später eines Besseren belehrt zu werden?

Zuckerbergs bislang größter und gefährlichster Fehler war, die Smartphone-Revolution zu verschlafen. Doch wie so oft ging das Unternehmen gestärkt aus der Krise hervor und Facebooks Anzeigengeschäft explodierte dank der neuen allgegenwärtigen Plattform. Zuckerberg verwandelte das Smartphone in einen weiteren Steigbügel auf dem Weg zur Weltmacht Facebook.

Mit seinem Metaverse-Plan will Zuckerberg ein weiteres, folgenschweres Versäumnis dieser Größenordnung vermeiden. Agieren statt reagieren. Es wäre falsch, in dieser Vision nur ein Ablenkungsmanöver oder Lippenbekenntnis zu sehen. Metas Zahlen belegen das: Das Unternehmen steckte allein in diesem Jahr 10 Milliarden US-Dollar in die Entwicklung von Metaverse-Technologien. 10.000 Angestellte arbeiten bereits an VR und AR und in Europa sollen noch einmal so viel Fachkräfte rekrutiert werden.

Die Kühnheit von Zuckerbergs technologischer Wette ist enorm: Floppt die große Metaverse-Vision, könnte sie das Ende Metas bedeuten. Bewahrheitet sie sich, wäre sie Zuckerbergs bislang größter Streich. Dazwischen gibt es nicht viel.

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Meta arbeitet an ultrarealistischen Avataren, sogenannten Codec Avatars. | Bild: Meta

Die Zukunft des Metaversums: Sie wird bestimmt anders aussehen, als es sich Zuckerberg vorstellt. Zum Glück! Seine Metaverse-Fantasien sind weder neu noch besonders originell. In der Masse ankommen und gedeihen dürften das Metaversum und die zugrundeliegenden Technologien ohnehin nur dann, wenn sie das Leben sinnvoll ergänzen statt ersetzen.

Ich sehe keine Sci-Fi-Dystopie auf uns zukommen, in der die Gesellschaft sich vollends in virtuelle Welten verabschiedet. Zumindest nicht mit einer Technologie, die wir uns auf die Nase setzen. Hirn-Computer-Interfaces, die Matrix-gleiche Immersion ermöglichen: Das halte ich für eine Herausforderung des nächsten Jahrhunderts, wenn überhaupt.

Zuerst muss die aktuelle Technik reifen, die immer noch in den Kinderschuhen steckt. Virtual Reality und Augmented Reality sind heute vergleichsweise primitiv. Sie massentauglich zu machen, ist eine Herkulesaufgabe, die Meta fast allein stemmen muss. Google, Apple, Amazon und Microsoft: Sie forschen zwar an VR und AR, aber setzen andere Schwerpunkte wie Künstliche Intelligenz, smarte Alltagstechnik und Cloud-Infrastruktur.

Nur Meta setzt uneingeschränkt auf VR und AR und ist dafür bereit, die Technologien unter Aufwendung aller zur Verfügung stehenden Mittel in den Massenmarkt zu wuchten mit der Hoffnung, eines Tages die Bedingungen des Markts zu diktieren, wie Google und Apple es heute beim Smartphone können.

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Die Ray-Ban Stories, eine Sonnenbrille mit Kamera und Lautsprechern, die Meta in Kooperation mit Ray-Ban entwickelt – in Vorbereitung auf eine AR-Brille. | Bild: Meta / Ray-Ban

Wenn sich die übrigen Konzerne weiter in Zurückhaltung üben, wird Meta das technologische Wettrennen gewinnen. Doch für einen anhaltenden Erfolg muss das Unternehmen eine weitaus schwierigere Aufgabe meistern: Es muss das Vertrauen in die eigene Marke wiederherstellen.

Das kann Meta nur, wenn es den Datenschutz zur obersten Priorität erklärt und neue Geschäftsmodelle entwickelt. Naheliegend sind ein Metaverse-Marktplatz und Hardware-Verkäufe. Meta hat eine radikale Kehrtwende in Sachen Datenschutz angedeutet, doch Skepsis ist angebracht. Wenn die Öffentlichkeit etwas über Facebooks Geschäftsgebaren gelernt hat, dann dessen Rücksichtslosigkeit. Metas Wandel, wenn er denn stattfindet, wird viele Jahre dauern.

Wir leben in einer technologisch spannenden Zeit. Seit geraumer Zeit hört man, dass Virtual und Augmented Reality verändern könnten, wie Menschen mit Computern und der Welt interagieren. Bald werden wir erfahren, ob dem wirklich so ist. Denn niemals zuvor wurde in so kurzer Zeit so viel investiert, um die grundlegenden Probleme der Technologie zu lösen. In den nächsten fünf bis zehn Jahren wird sie sich am Markt etablieren – oder mit Meta in der Versenkung verschwinden.

Technologische Revolutionen sind keineswegs selbstverständlich. Sie sind, mit den Worten des Oculus-Chefarchitekten Atman Binstock, das Ergebnis harter Arbeit seitens Erfinderinnen und Erfinder, „die zur richtigen Zeit an den richtigen Problemen arbeiten.“ Dazu bedarf es massiver Investitionen in die Grundlagenforschung, die in diesem Umfang derzeit nur Meta zu leisten bereit ist.

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Die VR-Brille Quest 2. | Bild: Meta

Die Quest 2 ist für mich das außergewöhnlichste Gadget der letzten Jahre, eine technische Meisterleistung und ein rundum gelungenes Produkt, das auf dem Markt seinesgleichen sucht. Das macht Meta in meinen Augen schon jetzt zum innovativsten Techkonzern. Mir fällt keine andere technische Neuheit seit dem Smartphone ein, die so faszinierend ist und Unterhaltung, Arbeit und Kunst dermaßen revolutionieren könnte wie VR und AR. Wobei die größten Durchbrüche in dieser Technologie noch bevorstehen.

Bei aller Skepsis gegenüber Meta: Die Kompromisslosigkeit, Kühnheit und Hingabe, mit der sich das Unternehmen der eigenen Vision verpflichtet hat, nötigt mir Respekt ab. Denke ich an Google, Apple, Amazon und Microsoft, so sehe ich Konzerne, die an etablierten Paradigmen festhalten und neue Versionen alter Produkte entwickeln.

Die technologische Zukunft ist so aufregend wie noch nie. Und damit denke ich nicht das iPhone 18, Azure 2.0 oder Amazon Echo X. Ich denke an Meta.

Dieser Beitrag erschien am 13. November 2021 bei MIXED.