Die Wiederentdeckung der Welt

§ 145. Willkür und Formwille

Man könnte statt von Zwecken auch von Formen des Willens sprechen. Die Form, den der Wille des Computerspielers annimmt, ist diejenige der Willkür. Mit dem Begriff der Willkür ist in Wahrheit das Gegenteil einer Form des Willens bezeichnet: ein allein dem Lustprinzip verpflichtetes, im gegenwärtigen Augenblick gefangenes Umherschweifen des Willens, das einmal diese, einmal jene, aber keine beständige Form annimmt. Das Eigenständige des Computerspiels als einer eigenständigen Form von Spiel besteht in der Erweiterung seiner Strukturelemente. Deshalb könnte man auch von einem verwilderten Spieltrieb sprechen, der sich im Raum seiner neugewonnenen Möglichkeiten verloren hat. Eine ganz andere Form nimmt der Wille des Künstlers an. Dieser Wille ist ganz der Formgebung verpflichtet, weshalb ich diesen Formwillen nenne.

§ 146. Ein Körper, zwei Seelen

Anders als beim Bestimmungsvollzug des Kunstwerks haben am Bestimmungsvollzug des Computerspiels Bestimmungskräfte mit zuweilen entgegengesetzten Bestimmungszwecken teil: Als berge der Körper des Bestimmungsvollzugs zwei Seelen, die dessen Einheit infrage stellen, bestimmt die eine Bestimmungskraft, damit aus der Bestimmung Lust entstehe, bestimmt die andere Bestimmungskraft, damit aus der Bestimmung Form entstehe. Diesem Widerspruch hat man dadurch beizukommen versucht, dass man die Bestimmungsmacht des Rezipienten eingeschränkt hat. Aber selbst dann ist selbiger in der Lage, die vom Künstler intendierte Form des Bestimmungsvollzugs zu sabotieren.

§ 147. Die Entstehung eines Handwerks der Entdeckung als das Gute der Kunst

Dass es einen widerspenstigen Computerspieler gibt, aber keinen widerspenstigen Leser, Betrachter oder Hörer, zumindest nicht in dem oben beschriebenen Sinne, liegt daran, dass für die Zehnte Kunstform erst noch im Entstehen begriffen ist, was ich das Handwerk der Entdeckung nenne. Das Lesen eines Buches, das Betrachten eines Bildes und das Hören von Musik, all diese Bestimmungsvollzüge beruhen auf einem Handwerk, dessen Meisterschaft keine Grenzen gesetzt sind. Die Kunst ermöglicht dem Menschen, dieses Handwerk zu lernen, und darin besteht insofern ihr Gutes, als solch ein Handwerk etwas ist, das im Ganzen des Lebens aufgehend auf selbiges zurückwirkt.

§ 148. Die ästhetische Handlung und die Unvollständigkeit der ästhetischen Systematik

Die traditionellen Kunstformen ermöglichen eine Entdeckung, die sich vornehmlich auf das Reich des Geistigen und Sinnlichen erstreckt und das Handwerk dieser Form von Entdeckung konnte sich während Jahrhunderten entwickeln. Aber welche Form nimmt ein Handwerk der Entdeckung an, das im Reich des Wirklichen aufgeht? Dass man an dem Reich des Wirklichen teilhat, bedeutet, dass man handelt, weshalb das Handwerk solcher Entdeckung die Form einer ästhetischen Handlung annimmt. Die Ästhetik gewinnt hierdurch eine vollkommen neue Dimension, die ihr bisher verborgen geblieben war, wodurch sich das bestehende ästhetische System als unvollständig erweist. Dass wir nur eine ungefähre Vorstellung dessen besitzen, was eine ästhetische Handlung ist, ist darauf zurückzuführen, dass das Kunstwerk, das in der Lage wäre, uns solch eine Vorstellung einzugeben, erst im Entstehen begriffen ist. Denn nur vermöge eines solchen Kunstwerks kann ein Handwerk aus der Entdeckung hervorgehen, das im Reich des Wirklichen zu sich findet. Die Aufgabe der Zehnten Kunstform besteht folglich darin, Voraussetzungen für die Entdeckung ästhetischen Handelns zu schaffen.

§ 149. Der Wiedereintritt des Welthaften in das allgemeine Bewusstsein

Spreche ich von einer Wiederentdeckung der Welt, so bezeichne ich damit zunächst ein Wiedererwachen des Bewusstseins für das Welthafte als eines uns seit jeher umgebenden Wunders. Die Welt und das Leben als Verhältnis, das wir vermöge des Geistes zur Welt eingehen, ist ein Allgemeinstes, das für uns deshalb zum weißen Hintergrund für alles andere geworden ist, weil wir dieses Allgemeinsten immer schon teilhaftig sind. Denn was zuerst und zuletzt erscheint, sind Geist und Welt als die Bedingungen aller anderen Bedingungen. Wird die Welt als eine Einheit des Wirklichen und Sinnlichen zu einem Artefakt, wodurch das Natürliche einmal mehr unter den Bedingungen des Künstlichen erscheint, so werden wir uns ihrer Eigengesetzlichkeit schlagartig wieder bewusst. Man könnte behaupten, dass das vormals Natürliche damit zu einem bloßen Effekt der Kunst verkommt, aber mit gleichem Recht könnte man behaupten, dass dem Natürlichen dadurch sein Zauber wiedergegeben werde, zumal es letztlich als ein Gesetztes, mithin Unbegreifliches erscheint, wodurch sein durch und durch rätselhafter Charakter erst recht hervortritt.