§ 109. Was die erzählerische Funktion für das Computerspiel leistet

Die Leistung jener erzählerischen Funktion für das Computerspiel besteht zunächst einmal darin, dass sie seine Welt mit einem Universum geordneter Umstände versieht und damit erst ein Fundament für Handlungsgründe und Absichten schafft. Sie ahmt das Leben nach, innerhalb dessen jede Handlung stets schon in ein Geflecht unüberschaubarer Umstände eingebettet ist.

§ 110. Die Erzählung gründet im Leben, nicht das Leben in der Erzählung

Die erzählerische Funktion ahmt das Leben nach, aber das heißt nicht, dass sie solches selbst ist. Erzählungen sind Kunstwerke und Kunstwerke lassen stets nur Teile eines Ganzen hervortreten. Als Teile eines Ganzen gründen sie in diesem Ganzen und nicht umgekehrt. Das Leben existierte, bevor man sich Geschichten erzählte und aus dem Geschichtenerzählen eine Kunstform machte. Deshalb ist die Auffassung, dass das Leben eine Geschichte sei, irreführend. Die Lebensgeschichte ist vielmehr etwas, das wir aus dem Leben machen, damit dass wir von ihm erzählen und somit einer gestalterischen Ordnung unterwerfen.

§ 111. Die Überbeanspruchung der erzählerischen Funktion im Computerspiel

Im Computerspiel erschöpft sich die erzählerische Funktion allerdings selten darin, dass sie dessen Welt mit einem Universum geordneter Umstände ausstattet. In den meisten Computerspielen ist die erzählerische Funktion so stark ausgeprägt, dass sie dessen Verlauf vollständig bestimmt. Der Handlungsfreiheit sind enge Grenzen gesetzt, etwa so, als würde man von allen Seiten von einer unsichtbaren Wand umgeben. Aber diese Phänomene sind nichts weiter als Erscheinungsformen des Bestimmungsparadoxes, denn derselbe Gegenstand kann nur von einer Bestimmungskraft bestimmt werden, die Bestimmungsmacht muss aufgeteilt werden und die Mauer, die aus solcher Teilung hervorgeht, verläuft geradewegs durch die Mitte des Kunstwerks.

§ 112. Gesetzmäßigkeiten des Bestimmungsparadoxes

Das Bestimmungsparadox beschreibt etwas, das dichotomischer Natur ist. Wurde ein Gegenstand durch eine Bestimmungskraft bestimmt, so ist er hierdurch gleichsam besetzt und die andere Bestimmungskraft vermag ihn nur dadurch neu zu bestimmen, dass sie diese Bestimmung aufhebt. Hieraus ließen sich folgende, eng zusammenhängende Gesetzmäßigkeiten ableiten. Erstens gewinnt eine Bestimmungskraft an Bestimmungsmacht, so büßt die andere selbige ein. Zweitens, je größer der Einfluss einer Bestimmungskraft, desto kleiner wird der Einfluss der anderen. Drittens befindet sich die Bestimmungsmacht der Bestimmungskräfte im Gleichgewicht, so sind die Bestimmungskräfte jeweils im Besitz der halben Bestimmungsmacht, hat sich eine Bestimmungskraft durchgesetzt, so ist diese im Besitz der vollen Bestimmungsmacht.

§ 113. Zur politischen Natur des Bestimmungsparadoxes

Konfrontiert man sich mit diesen Gesetzmäßigkeiten und dem Vokabular, das zu ihrer Beschreibung verwendet wird, so entsteht der Eindruck, sie beschrieben Gesetzmäßigkeiten nicht etwa eines Ästhetischen, sondern eines Politischen. Aber die Zehnte Kunstform geht im Reich des Wirklichen auf und das Reich des Wirklichen ist zunächst einmal das Reich des Politischen. Dass der vorherrschende Topos des Computerspiels der Krieg in all seinen Erscheinungsformen und der Durchsetzungskampf das vorherrschende Charakteristikum des Verhältnisses ist, das man zu jener Welt hat, die man betritt, dass die Entwickler von Computerspielen sich über nichts anderes so sehr den Kopf zerbrechen wie über die Frage nach der rechten Aufteilung der Bestimmungsmacht, dass jene junge Wissenschaft in zwei Lager zerfällt, die Grabenkämpfe nicht bloß um ihr Auslegungsrecht, sondern um die Form, welche ihr Gegenstand annehmen soll, austragen, all dies hängt zusammen und ist Ausdruck dessen, dass die Kunstform im Reich des Wirklichen, mithin Politischen aufgeht, in der Frage, wie eine gegebene Welt zu bestimmen ist und welche Bestimmungsmacht einem selbst dabei zukommt.