Virtuelle Orte der Vergangenheit: Wie Virtual Reality meine Erinnerungen wachhält

Im Juni 2016 sagte ich der Schweiz Lebewohl. Mit nichts als einem Koffer in der Hand, der so ziemlich alles enthielt, was mir aus der Schweiz geblieben war, bestieg ich das Flugzeug am Basler Euroairport und wanderte nach Kroatien aus.

Mein erster voller Sommer an der Adria war schön. So schön, dass er mich das Land, in dem ich aufwuchs und mein bisheriges Leben verbrachte, vorübergehend vergessen ließ. Das änderte sich, als der Herbst allmählich in den Winter überging und ich unverhofft Gelegenheit erhielt, Basel einen Besuch abzustatten. In der Grenzstadt hatte ich die letzten zehn Jahre meines Lebens verbracht, studiert und Freunde gefunden. Meine Reise nach Basel war ungewöhnlicher Natur: Ich reiste nicht etwa mit dem Flugzeug, der Bahn oder dem Bus in die Schweiz. Ich begab mich mittels VR-Brille nach Basel.

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Der Rhein und das Basler Münster von der Wettsteinbrücke aus gesehen.

Im November 2016 erschien die VR-App Google Earth VR, eine neue Version von Googles digitalem Globus, die von Grund auf für Virtual Reality entwickelt wurde und blitzschnelle virtuelle Reisen an jeden Ort der Welt erlaubt. Da stehe ich also in meiner Wohnung, rücke mir die VR-Brille zurecht und starte voller Erwartung Google Earth VR.

Im nächsten Augenblick schwebe ich mitten im Weltall und sehe die Erdkugel erhaben vor mir schweben. Eine Seite des Planeten ist in Licht, die andere in Dunkelheit getaucht. Ich gehe etwas näher heran und erkenne im Dunkel die glitzernden Lichter der Zivilisation. Mit dem Controller greife ich nach der Kugel und drehe sie und sehe Afrika, Asien, Amerika in Sekunden an mir vorüberfliegen. Dann zeige ich auf einen Punkt an der Adria und stürze der Erde entgegen, die sich in alle Richtungen ausbreitet, während ich selbst kleiner und kleiner werde. Während meines Flugs werfe ich einen Blick zur Seite und erkenne, dass ich in jene magische Zone zwischen Himmel und Erde eintrete, in welcher die Planetenoberfläche rund und zugleich flach erscheint.

Als Erstes besuche ich die Küstenstadt Split, in der ich den Sommer verbrachte. Während draußen in der physischen Welt ein eiskalter Wind bläst, suche ich in Virtual Reality die sommerlichen Orte und Strände auf, in denen ich wenige Monate zuvor meine Freizeit verbrachte. Danach mache ich einen kurzen Abstecher nach New York und Paris und schaue mir Sehenswürdigkeiten an. Dabei stampfe ich wie Godzilla mit Riesenschritten durch die Städte, die sich wie eine Modellbauwelt um mich herum ausbreitet.

Mein letztes Reiseziel ist Basel. Dort angekommen, lasse ich mich auf die Größe eines Menschen schrumpfen und besuche der Reihe nach die Orte, die mir etwas bedeuten: das Universitätsgelände, die äußeren Quartiere, in die ich regelmäßige Ausflüge unternahm und den Kannenfeldpark, in dessen Nähe ich wohnte. Dabei wird mir bewusst, wie wenig ich in den vergangenen Monate an die Stadt und mein früheres Leben in der Schweiz dachte.

Wirkte das virtuelle Basel aus der Entfernung noch sehr real, verflüchtigt sich jetzt die Illusion, eine echte Stadt vor mir zu haben: Die 3D-Modelle wirken grob und deren Oberflächen eilig bemalt. Aus der Nähe sieht das virtuelle Basel aus, als hätte der Verhüllungskünstler Christo sie unter bunten Tüchern versteckt. Zum Schluss besuche ich die Kleinbasler Altstadt und laufe die Rheinpromenade hinab, die ich während der letzten zehn Jahre unzählige Male hinauf- und hinabging. Mit dem Controller greife ich nach der Sonne und schleife sie entlang ihrer Bahn bis zum Horizont, sodass es Nacht wird und die Sterne hervortreten.

Nun ist es ganz still. Und während ich so am Rhein sitze, allein in dieser Geisterstadt, die zugleich Basel ist und nicht ist, überkommt mich urplötzlich und unerwartet ein rasendes Heimweh, das noch Stunden andauert und mich in den folgenden Nächten wieder und wieder von der Stadt träumen lässt.

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Am virtuellen Rhein sitzend.

Die Macht dieser Erfahrung zeigt, dass Google Earth VR zu den stärksten Anwendungen der Virtual Reality gehört. Man könnte sagen, dass sie in der Technologie ihr ideales Medium gefunden hat: Weil die Welt räumlich und begehbar ist, funktioniert Google Earth in Virtual Reality viel besser als auf einem Monitor. Man sieht die Welt nicht bloß, man erfährt sie.

„Es liegen Welten dazwischen, ob man eine Beschreibung darüber liest, wie es ist, durch Paris zu spazieren, ob man ein Video über Paris anschaut, oder ob man Paris tatsächlich besucht“, sagt Clay Bavor, der Googles Abteilung für Virtual und Augmented Reality leitet. Bavor sieht in der Erfahrung die mächtigste und reichhaltigste Art von Information, für deren Vermittlung sich Virtual Reality wie kein anderes Medium eigne.

Es muss dieses ganzheitliche Erleben gewesen sein, dieses Gefühl von Anwesenheit, das so urgewaltig all die Erinnerungen an diese Stadt weckte. In Google Earth VR ist erst ein verschwindend geringer Teil der Erdoberfläche als 3D-Modell umgesetzt und selbst diese Gebiete spiegeln das Erscheinungsbild der Welt nur unzureichend wider.

Mit der fortschreitenden Digitalisierung der Welt dürfte sich das ändern, wodurch virtuelle Ausflüge und Zeitreisen denkbar wären, da man die architektonische Entwicklung von Städten beobachten können wird. Das heutige Google Earth VR kratzt derzeit nur an der Oberfläche dessen, was möglich wäre, wenn die Welt erst einmal vollständig digitalisiert ist.

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Basels Marktplatz in Virtual Reality.

Aber besteht dadurch nicht die Gefahr, dass die virtuelle die reale Welt eines Tages ersetzt? Werden Menschen überhaupt noch vor die Tür gehen wollen, wenn man mit der VR-Brille überallhin reisen können wird? Der französische Philosoph Jean Baudrillard sah in der fortschreitenden Digitalisierung eine große Gefahr. Die Menschheit würde an einen Punkt kommen, an dem sie zwischen dem Reellen und Virtuellen nicht mehr unterscheiden kann. Dann gäbe es nur noch das „Hyperreale“, das auf keinen realen Gegenstand mehr verweist, warnte der Philosoph.

Im Frühjahr 2017 stattete ich Basel erneut einen Besuch ab. Dieses Mal ganz konventionell mit dem Flugzeug. Ich war auf der Durchreise und hatte nur wenig Zeit, sodass es lediglich für einen kurzen Spaziergang am Rhein entlang reichte. Zu meinem Erstaunen hat das Wiedersehen mit dem echten Basel kein so starkes Heimweh ausgelöst wie meine virtuelle Reise wenige Monate zuvor. Womöglich lag das daran, dass das virtuelle Basel unvollendet und nur ein vergleichsweise grobes Modell der wirklichen Stadt war. In dieser abstrakteren Form konnte es, einem Traumgebilde ähnlich, zu einer Projektionsfläche meiner Erinnerungen, Gefühle und Sehnsüchte werden.

Am Ende war es also nicht das echte Basel, sondern sein virtuelles Gegenstück, das Erinnerungen an reale Orte und Begebenheiten hervorrief. Darin leben, das würde ich nicht wollen. Aber hin und wieder in das virtuelle Basel zurückkehren – in Ermangelung der Möglichkeit physischen Reisens – und in der Vergangenheit schwelgen. Kann das etwas Schlechtes sein?

Dieser Beitrag erschien am 18. März 2017 unter dem Titel „So real fühlen sich virtuelle Reisen“ in der Schweiz am Wochenende und am 21. März 2020 in überarbeiteter und erweiterter Form bei MIXED.

Verjüngungskur für alte Filme

Paris, 1896. Die Brüder Lumière führen einem gespannten Publikum den ersten Kinofilm der Geschichte vor: Er dauert 50 Sekunden und zeigt einen Zug, der in den Bahnhof der französischen Küstenstadt La Ciotat einfährt. Die Zuschauer sollen so sehr ob der bewegten Bilder erschrocken sein, dass sie in Panik das Weite suchten.

Knapp 125 Jahre später modernisierte ein Russe den Schwarz-Weiß-Film mit Hilfe Künstlicher Intelligenz. Algorithmen rechneten das historische Filmmaterial auf 4K-Auflösung hoch, ergänzten, wo nötig, Details und fügten neue Einzelbilder ein, sodass Bewegungen geschmeidiger wirken.

Das Ergebnis verblüfft und lässt das berühmte Stück Film so lebensecht wie nie zuvor erscheinen. Wie hätten die Besucher der ersten Kinovorführung der Geschichte wohl erst auf diese Aufnahme reagiert?

Moderne Betrachter sind jedenfalls begeistert: Mehr als drei Millionen Mal wurde das auf Youtube veröffentlichte Video bislang abgerufen. „Heiliger Bimbam. Ich sah gerade Menschen aus dem 19. Jahrhundert, als wäre es heute“, kommentiert ein Youtuber-Nutzer.

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Das Medieninteresse und die Popularität des Videos überraschte den Urheber der KI-gestützten Filmverjüngung, den in Moskau lebenden Produktmanager Denis Shiryaev.

„Ich habe das Video aus Spaß gemacht und weil ich neugierig auf das Resultat war“, sagt er. Der 31-Jährige ist kein KI-Fachmann, auch wenn er sich seit Jahren hobbymäßig mit maschinellem Lernen befasst. Er will laut eigenen Aussagen nichts Einzigartiges geschaffen und lediglich KI-Algorithmen genutzt haben, die frei im Internet erhältlich sind. „Jeder kann es mir nachmachen“, meint er. Die Ehre gebühre den Entwicklern, welche die Algorithmen programmierten.

Drei Tage und drei Nächte waren die künstlichen neuronalen Netze mit der digitalen Frischzellenkur beschäftigt. Shiryaev selbst musste sich lediglich in Geduld üben. „Der schwerste Teil war, neben den Arbeitsgeräuschen des Rechners zu schlafen“, sagt der KI-Tüftler.

Nachdem sein Video viral ging und zahlreiche Internetseiten darüber berichteten, trudelten bei Shiryaev ein halbes Dutzend Anfragen von Filmunternehmen ein. „Sie wollten alle nur eines wissen: Ob sie meine Software für die Modernisierung ihrer Filmarchive nutzen dürfen.“

Davon angespornt, will Shiryaev als Nächstes seine Arbeitsabläufe automatisieren und als kostenpflichtigen Verjüngungsdienst für alte Filme und Archivmaterial anbieten. Auf seinem Youtube-Kanal sollen regelmäßig neue Videos erscheinen, ein weiteres hat er bereits veröffentlicht: Es zeigt den US-Astronauten John Young während der Apollo-16-Mission.

Shiryaev glaubt, dass es schon bald einen umkämpften Markt geben wird für das KI-Facelifting alter Filme. Die Zukunft der Technologie ist vielversprechend, zumal aktuelle KI-Algorithmen nur teilweise für diese Aufgabe ausgelegt sind. Bei näherem Hinsehen merkt man das Shiryaevs Videos an: Man erkennt Bildartefakte und manche Details, wie weiter entfernte Gesichter, bleiben unscharf.

Um ihre volle Wirkung zu entfalten, müssten die KI-Algorithmen zuerst mit geeignetem Material trainiert werden, anhand dessen sie digitale Restaurierung gleichsam „lernen“. Dann könnten sie auch freier arbeiten.

„KI-Algorithmen könnten nicht nur Bilder hochskalieren, sie könnten sie vollkommen neu berechnen mittels spezieller Datensätze. Ein KI-Algorithmus wird unkenntliche Gesichter neu zeichnen, ein anderer wird die Szene nachkolorieren und wieder ein anderer wird Bildrauschen beseitigen“, meint Shiryaev. Spätestens in fünf Jahren soll es so weit sein.

Historische Aufnahmen vergangener Epochen und Ereignisse könnten so in neuem Glanz erstrahlen und für zeitgenössische Betrachter einen neuen Bezug zur Vergangenheit schaffen. Man denke etwa an Aufnahmen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, der ersten Mondlandung oder Martin Luther Kings berühmter Rede vor dem Lincoln-Denkmal. „Das Potenzial ist riesig“, sagt Shiryaev. „In der Zukunft werden alle Filme mit KI aufgemöbelt. Daran habe ich keine Zweifel.“

Dieser Beitrag erschien am 22. Februar 2020 in der Schweiz am Wochenende und am 1. März 2020 unter dem Titel „Neue Details in alten Filmen: KI macht’s möglich“ bei MIXED.

Virtuelles Reisen: Wie ich in Zeiten der Flugscham die Welt erkunde

Vor kurzem besuchte ich zum ersten Mal die Sixtinische Kapelle. Ich bestaunte die monumentalen Fresken, die Michelangelo Buonarroti im Auftrag des Papstes zwischen 1508 und 1512 an die Decke des sakralen Baus malte. Ein Kunsthistoriker gab mir derweil geduldig Auskunft zu jedem Bildmotiv, das mich interessierte.

Das war nur eine von vielen, unvergesslichen Reisen, die ich in diesem Jahr unternahm: Meine Expeditionen führten mich in den menschenverlassenen, nächtlichen Palast von Versailles, in die dreitausend Jahre alte Gruft der Pharaonengemahlin Nefertari, in die Tiefen des letzten deutschen Kohlebergwerks Prosper-Haniel, in die hitzeglühenden Weiten des amerikanischen Death Valley, auf die Spitze des Mount Everest und in die Tschernobyl-Geisterstadt Pripyat.

Nun ist mir bewusst, dass es in Zeiten der Flugscham unangemessen ist, sich solcher Reisen zu rühmen. Doch der CO2-Fußabdruck meiner Reisen war vergleichsweise gering: Genau genommen verbrauchte ich keinen Tropfen Kerosin. Ja, für mein Transportmittel musste ich nicht einmal das Haus verlassen. Ich reiste nämlich nicht per Flugzeug, sondern digital – mit einer VR-Brille.

„Il Divino“ heißt die in Anspielung an den „göttlichen“ Michelangelo getaufte VR-Erfahrung, für die ein Team aus Computerspezialisten den Innenraum der Sixtinischen Kapelle samt Decken- und Wandgemälden, Innendekoration und realistischer Beleuchtung fast auf den Zentimeter genau digital rekonstruierte. Das folgende Video gibt einen Eindruck davon, was virtuelle Besucher erwartet.

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Die digital rekonstruierte Sixtinische Kapelle | Bild: Christopher Evans

Möglich macht diese Präzision ein technisches Verfahren namens Fotogrammetrie, bei dem Algorithmen zahlreiche Fotografien eines Objekts oder Raums zu einem lebensechten 3D-Modell vernähen. Die Mühe hat sich gelohnt, denn das Ergebnis ist atemberaubend.

Ich weiß durchaus, dass ein digitales Duplikat und mag es noch so detailliert sein, eine physische Stätte niemals ersetzen kann. Die Aura eines Ortes wird auch von dessen Geruch, Temperatur, Luftfeuchtigkeit getragen und ist in die Erfahrung der Reise eingebettet, den Weg, den man auf sich nahm, um diesen Ort aufzusuchen. All dies kann auch die fortschrittlichste VR-Brille nicht vermitteln. Aber sie kann, wie im Beispiel der Sixtinischen Kapelle, die visuelle Substanz eines Raums einfangen. Dank digitaler Technologie konnte ich Michelangelos Fresken in einer Intimität und aus Perspektiven erleben, die Normalsterblichen verwehrt ist.

So war es mir möglich, auf das historische Holzgerüst zu steigen, auf dem Michelangelo arbeitete. Dort oben kam ich dem berühmtesten Motiv des Deckengemäldes, der Erschaffung Adams, so nahe, dass ich selbst einzelne Pinselstriche und Risse im Verputz ausmachen konnte. Und ich kann immer wieder zurückkehren, um den Ausführungen des digitalen Kunsthistorikers zu lauschen und mich in Details der Fresken zu verlieren: ohne stundenlanges Anstehen, ohne Gedränge, ohne den Schweißgeruch anderer Touristen in der Nase zu haben.

Virtuelle Reisen dieser Art sind in Zahl und Qualität begrenzt. Doch schreitet die Digitalisierung voran wie bisher, so wird man eines Tages weite Teile der Welt virtuell erkunden können. Googles und Apples Kartografierungfahrzeuge sind mit Lasersystemen ausgerüstet, die ihre Umgebung in 3D einscannen. Damit legten sie bereits Millionen von Kilometern zurück. Die räumlichen Daten fließen in die Verbesserung der firmeneigenen Kartendienste, lassen autonome Fahrzeuge unter realistischen Simulationsbedingungen trainieren und sind Baustein einer umfassenden 3D-Kartografierung der Welt.

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Das Wallace Arts Centre in Virtual Reality. | Bild: Realityvirtual.co

Mit der Virtual-Reality-App Google Earth VR kann man bereits den ganzen Erdball umrunden und in Sekundenschnelle zu jedem Ort der Welt flitzen.Zugleich werden Digitalisierungstechniken vereinfacht und einer größeren Zahl Menschen zugänglich gemacht. Für Fotogrammetrie braucht es keine Fachkenntnisse oder speziellen Geräte mehr: Mit der Smartphone-App Display.land erstellt man kinderleicht digitale Duplikate von Menschen, Objekten und ganzer Räume und teilt sie in sozialen Netzwerken. Das Startup will seine Plattform zu einer Art 3D-Instagram ausbauen, das zur schrittweisen 3D-Rekonstruktion der Welt beitragen soll. Das Unternehmen stellt lediglich die Infrastruktur.

Dass Interesse an solchen Inhalten besteht, beweist Sketchfab, die größte Onlineplattform für 3D-Objekte. Nutzer luden bislang mehr als drei Millionen handgefertigte 3D-Modelle hoch, darunter tausende in den Kategorien Architektur, Denkmäler und Sehenswürdigkeiten.

Man stelle sich vor, was eine 3D-Wikipedia, eine Wikipedia der Erfahrungen, leisten könnte, wenn jedes Objekt und jeder Ort jederzeit und von überall aus in dreidimensionaler Form zugänglich wäre. Zuerst auf dem Smartphone, später mittels fortschrittlicher VR- und AR-Brillen, die eine lebensechte Darstellung der 3D-Objekte und virtuelle Reisen ermöglichten. Das dürfte die Informationsvermittlung und das Lernen revolutionieren.

Dank der fortschreitenden Digitalisierung des Planeten werde ich mir die Welt früher oder später nach Hause holen, anstatt meine Körpermasse hunderte oder gar tausende Kilometer weit an einen bestimmten Punkt im Koordinatensystem zu transportieren. Schließlich ist es heute leichter, Bits als Atome zu bewegen, wie Facebook-Chef Mark Zuckerberg bei jeder sich bietenden Gelegenheit wiederholt. Das soziale Netzwerk investiert aus diesem Grund Milliarden US-Dollar in die 3D-Revolution und Zukunftstechnologien wie Virtual Reality und Augmented Reality. Könnte durch VR und AR eines Tages nur ein Teil der weltweiten Personenbeförderung reduziert werden, wäre damit schon einiges für das Klima und die Menschheit geleistet, argumentiert Andrew Bosworth, der Facebooks 3D-Zukunftsabteilung leitet.

Die Reiselust dürfte den Menschen trotz dieser neuen technischen Möglichkeiten zwar nicht vergehen. Für Flugzeigverweigerer und ökologisch Bewusste könnten sie jedoch eine Alternative werden, weit entfernte Orte kennenzulernen, ohne die Umwelt und das Portemonnaie übermäßig zu belasten.

Dieser Beitrag erschien am 21. Dezember 2019 unter dem Titel „Hiergeblieben!“ in der Schweiz am Wochenende und am 23. Februar 2020 in überarbeiteter und erweiterter Form bei MIXED.

Bei MIXED findet man außerdem eine von mir zusammengestellte Liste der besten Apps für VR-Reisen.

„Welt am Draht“ – VR und KI in Rainer Werner Fassbinders Sci-Fi-Klassiker

Wir schreiben das Jahr 1973: Der Spielautomat Pong ist erschienen, den Personal Computer gibt es noch nicht, das Internet ist nicht mehr als ein Forschungsprojekt. In diesem Jahr schuf Rainer Werner Fassbinder den philosophischen Sci-Fi-Klassiker „Welt am Draht“, der aufgrund seiner Themen wie Virtual Reality und Künstliche Intelligenz aktueller denn je ist.

Der Film handelt von Fred Stiller, der zum Direktor des staatlichen Instituts für Kybernetik und Zukunftsforschung (IKZ) ernannt wird, nachdem sein Vorgänger und Freund Henry Vollmer unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen ist.

Das IKZ besitzt einen Supercomputer namens Simulacron-1, der eine Kleinstadt mit über 9.000 sogenannten Identitätseinheiten simuliert. Diese hoch entwickelten Sims denken und fühlen wie Menschen, wissen aber nicht, dass sie in einer Simulation leben.

Eine Ausnahme bildet die Kontakteinheit „Einstein“, die von Zeit zu Zeit mit den IKZ-Wissenschaftlern kommuniziert. Um mit Einstein zu sprechen, versetzen sich die Institutsmitarbeiter mit einem speziellen Helm in die Simulation und treffen die Kontakteinheit in der von Simulacron-1 generierten Virtual Reality.

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Die Vorrichtung, mithilfe derer die Simulation betreten wird. | Bild: Studiocanal / WDR

Als Stiller dem rätselhaften Tod des Institutsleiters Vollmer nachgeht, merkt er schon bald, dass etwas nicht stimmt: So verschwindet Vollmers enger Mitarbeiter spurlos von einem Augenblick auf den nächsten. Noch seltsamer ist, dass sich niemand mehr an den Sicherheitschef des Instituts erinnert. Gerade so, als hätte er niemals existiert. Ist Stiller verrückt oder ist eine Verschwörung im Gange?

Doch das ist nur das erste von vielen unerklärlichen Ereignissen, die Stiller mehr und mehr an seinem eigenen Verstand zweifeln lassen. Leidet der Computerwissenschaftler unter Verfolgungswahn? Oder versucht jemand weitaus Mächtigeres, eine ungeheure Wahrheit zu vertuschen: Ist die Welt, in der Stiller lebt, womöglich auch nur eine „Welt am Draht“?

Fassbinders Sci-Fi-Epos beruht auf dem 1964 erschienenen Roman „Simulacron-3“ von Daniel F. Galouye, der ein Vierteljahrhundert nach Welt am Draht unter dem Titel The Thirteen Floor ein zweites Mal verfilmt wurde. Das war 1999, also das Jahr, in dem auch der erste Teil der Matrix-Trilogie erschien.

Welt am Draht wurde im Herbst 1973 als zweiteiliger Fernsehfilm von der ARD ausgestrahlt und war bis zum Erscheinen der restaurierten Fassung im Jahr 2010 nicht käuflich zu erwerben. Heute ist der Sci-Fi-Film auf Blu-ray in hervorragender Bild- und Tonqualität greifbar und erscheint in seiner Vorwegnahme zukünftiger Technologien geradezu prophetisch.

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Der Institutsleiter Fred Stiller ahnt, dass etwas nicht stimmt. BILD: Studiocanal / WDR

Welt am Draht ist eine Mischung aus Krimi und Thriller, der von seinen philosophischen Gedanken und der meisterhaften Inszenierung des Unwirklichen lebt. Wer eine rasant erzählte Geschichte oder Action erwartet, wird allerdings enttäuscht. Das liegt auch an der Länge des Fernsehzweiteilers, der sich mit dreieinhalb Stunden sehr viel Zeit nimmt für seine Geschichte.

Das Faszinierende am Film sind die von ihm aufgeworfenen zeitlosen Fragen, die vor dem Hintergrund aktueller technologischer Entwicklungen in einem neuen Licht erscheinen.

Das im Film vorgestellte Konzept einer computergenerierten Scheinrealität und die Frage, ob die sogenannte Wirklichkeit nicht selbst das Ergebnis einer Simulation ist, ist an sich nicht neu. Derartige Gedankenexperimente gab es schon früher in der Literatur und der Philosophie. Stiller selbst erwähnt in diesem Kontext Platons Höhlengleichnis.

Angesichts der Datensammelwut und Allgegegenwärtigkeit großer Techkonzerne gewinnen diese Vorstellungen allerdings eine neue Kontur. Ob wir in einer Computersimulation leben oder nicht: Die von Google und Facebook vorangetriebene Algorithmisierung des Lebens ist längst in Gange. Die Angst Stillers, von einer unsichtbaren Macht kontrolliert und manipuliert zu werden, ist heute nachvollziehbarer denn je.

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Was ist simuliert und was echt? Das ist in Welt am Draht die brennendste Frage. BILD: Studiocanal / WDR

Dass wirtschaftliche Interessen dabei stets eine Rolle spielen, ist eines der zentralen Themen des Films. Das staatliche betriebene IKZ hat Simulacron-1 aus Forschungszwecken gebaut, um die soziale und technische Entwicklung einer Gesellschaft durch eine Computersimulation nachzuvollziehen und daraus wichtige Prognosen für die Zukunft ableiten zu können. Der Film zeigt, wie ökonomische Kräfte sich der Technologie bemächtigen wollen, um sich wirtschaftliche Vorteile zu sichern.

Neben der philosophischen Thematik beeindruckt das Produktionsdesign und die Inszenierung. Die Welt, in der Stiller lebt, wirkt steril, kalt, künstlich. Die Architektur ist von glatten, durchsichtigen und spiegelnden Oberflächen geprägt, die die roboterhaft kühlen, distanzierten Charaktere mannigfach optisch verfremden oder vervielfachen. Die in fast jeder Szene im Hintergrund spielende klassische Musik und die Synthesizerklänge verstärken den künstlichen Charakter dieser Welt bis zum Unerträglichen.

Keine Frage: Hier ist mehr Schein als Sein. Und dennoch merkt es keiner der Bewohner dieser Welt, weil sie innerhalb dieser Welt leben und nichts anderes kennen. So wie wir. Wüssten wir, wie es eine Wirklichkeitsebene höher zugeht und müssten dennoch hier verbleiben, würden wir wohl verrückt werden. So wird im Film von einer Identitätseinheit berichtet, die ahnt, dass sie sich in einer Simulation befindet und einen Selbstmordversuch begeht. Weil sie die Stabilität der Simulation gefährdet, wird sie kurzerhand aus dem System gelöscht.

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Die Technologie wird für eigennützige Zwecke missbraucht. BILD: Studiocanal / WDR

Die Kontakteinheit Einstein, die um den Simulationscharakter ihrer Welt weiß, erträgt die Wahrheit ebenso nicht. Sie versucht, sich des Körpers eines IKZ-Wissenschaftlers zu bemächtigen, der sich zwecks Kontaktherstellung in die Simulation eingeklinkt hat. Doch der Fluchtversuch misslingt.

Wer sich Welt am Draht in voller Länge zu Gemüte führen will, braucht Kraft und Geduld. Denn erst gegen Ende nimmt der Film spürbar an Fahrt auf. Gemessen an den heutigen Sehgewohnheiten wirkt der Film exzentrisch, fremd, unheimlich. Er zermürbt den Zuschauer genauso wie Stiller durch seine unwirkliche Welt und Gesellschaft, seine in sich zusammenbrechende Realität.

Nach dem unerwarteten und überraschend hoffnungsvollen Ende fühlte ich mich, als wäre ich aus einem langen Albtraum erwacht. Und atmete auf. Welt am Draht ist anstrengend, aber die Reise lohnt sich.

Dieser Beitrag erschien am 29. Dezember 2019 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

Weshalb mich der Misserfolg von Virtual Reality fasziniert

Ja, Virtual Reality ist ein junges Medium, das noch auf dem Weg der Selbstfindung ist. Sie hat ihre Baustellen und Einstiegshürden. Und sie steht technologisch noch am Anfang.

All das ist mir bewusst. Und der potenziellen Gamer-Kundschaft auch: Die Aneignung der Technologie seitens der Spieler verlief bislang bestenfalls schleppend. Auf der größten PC-Spieleplattform Steam verwenden nur ein Prozent aller Nutzer eine VR-Brille und nur rund vier Prozent aller PS4-Besitzer hat sich eine Playstation VR gekauft. Drei Jahre nach dem Marktstart steckt Virtual Reality für Spiele noch immer tief in der Nische.

Daran dürfte auch die als VR-Heilsbringer gehandelte, da besonders nutzerfreundliche, VR-Brille Oculus Quest vorerst nicht viel ändern. Einen Marktdurchbruch bei Gelegenheitsspielern wie damals bei Nintendo Wii erwartet niemand, trotz eines weitaus größeren Sprungs in Sachen Innovation und Technik. Die Kinderkrankheiten und Erfolgsbarrieren der Virtual Reality traten erst mit dem Ende des Hypes voll ins Bewusstsein. Zurückblickend zeigt sich heute niemand mehr überrascht, dass Virtual Reality 2016 und in den Folgenjahren nicht steilging.

Mich hingegen fasziniert die Erfolgsresistenz des Mediums noch heute. Ich bin noch stärker als früher darüber erstaunt, dass sie so wenige Anhänger hat, trotz aller technischen Hürden, die Virtual Reality abseits des Nerdfaktors und sozialer Stigmatisierung noch nehmen muss. Wieso? Weil Virtual Reality cool, aufregend und neu ist. Weil Virtual Reality das einzige technologische Produkt der letzten Jahre mit garantiertem Wow-Effekt ist. Weil Virtual Reality mir das Gefühl gibt, in der Zukunft zu leben.

Virtual_Reality_Party

Dass diese Innovationskraft nicht einmal von Gamern belohnt werden würde, hatte ich nicht erwartet. Denn wären Spieler nicht noch am ehesten bereit, sich eine VR-Brille zu kaufen, da sie sich weniger am Nerdfaktor und der sozialen Isolation, die mit Virtual Reality einhergeht, stören? Doch weit gefehlt. Ich bin einem Irrtum aufgesessen, einer naiv-romantischen Vorstellung der Gamingkultur, der ich teilweise angehöre und in die ich mich, mit meiner Begeisterung für technische Neuerungen, selbst hineinprojizierte: Ich glaubte, dass Spieler grundsätzlich aufgeschlossen seien gegenüber Neuem und technische Revolutionen begrüßen.

Das schlichte Desinteresse oder gar offene Ablehnung seitens der Gamer-Mehrheit, wie sie aktuell im Kontext der Ankündigung von Half-Life: Alyx wieder passiert, hat dieses Bild endgültig zerstört. Dabei hat sich die Spielergemeinschaft, oder zumindest ihr harter Kern, nicht immer als progressiv erwiesen: Man denke an den anhaltenden Erfolg jährlicher Neuauflagen etablierter Spielemarken und x-ter Aufgüsse immergleicher Spielkonzepte. Oder die Gamergate-Kontroverse, die die Spielergemeinschaft in das unschöne Licht einer frauen- und fortschrittsfeindlichen gesellschaftlichen Minderheit rückte, die auf die Barrikaden geht, sobald herrschende Konventionen und die eigene Deutungshoheit und Identität in Frage gestellt werden.

Der anfänglich große Hype um Virtual Reality wich vor drei Jahren der Ernüchterung und schlug sehr bald ins Gegenteil um. Heute hängt der Virtual Reality das Verliererimage nach und mehr und mehr Vorurteile und Mythen machen es dem Medium unnötig schwer, Rückhalt zu finden in der Gamingkultur und andernorts.

Derweil tobt die Schlacht um Aufmerksamkeit unbeirrt weiter. Konsolen, Streamingdienste, soziale Netzwerke: Sie alle buhlen um Augäpfel und sie alle sind weit besser etabliert als die Nischentechnologie Virtual Reality. Die hat einen schweren Kampf vor sich: Sie muss sich gegen diese Konnkurrenz behaupten und zugleich ein neues Paradigma medialer Nutzung etablieren. So wie es heute aussieht, hat sie noch nicht genug schlagende Argumente – trotz aller technischen Innovation.

Dieser Beitrag erschien am 25. Dezember 2019 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.