§ 111. Die Überbeanspruchung der erzählerischen Funktion im Computerspiel

Im Computerspiel erschöpft sich die erzählerische Funktion allerdings selten darin, dass sie dessen Welt mit einem Universum geordneter Umstände ausstattet. In den meisten Computerspielen ist die erzählerische Funktion so stark ausgeprägt, dass sie dessen Verlauf vollständig bestimmt. Der Handlungsfreiheit sind enge Grenzen gesetzt, etwa so, als würde man von allen Seiten von einer unsichtbaren Wand umgeben. Aber diese Phänomene sind nichts weiter als Erscheinungsformen des Bestimmungsparadoxes, denn derselbe Gegenstand kann nur von einer Bestimmungskraft bestimmt werden, die Bestimmungsmacht muss aufgeteilt werden und die Mauer, die aus solcher Teilung hervorgeht, verläuft geradewegs durch die Mitte des Kunstwerks.

§ 112. Gesetzmäßigkeiten des Bestimmungsparadoxes

Das Bestimmungsparadox beschreibt etwas, das dichotomischer Natur ist. Wurde ein Gegenstand durch eine Bestimmungskraft bestimmt, so ist er hierdurch gleichsam besetzt und die andere Bestimmungskraft vermag ihn nur dadurch neu zu bestimmen, dass sie diese Bestimmung aufhebt. Hieraus ließen sich folgende, eng zusammenhängende Gesetzmäßigkeiten ableiten. Erstens gewinnt eine Bestimmungskraft an Bestimmungsmacht, so büßt die andere selbige ein. Zweitens, je größer der Einfluss einer Bestimmungskraft, desto kleiner wird der Einfluss der anderen. Drittens befindet sich die Bestimmungsmacht der Bestimmungskräfte im Gleichgewicht, so sind die Bestimmungskräfte jeweils im Besitz der halben Bestimmungsmacht, hat sich eine Bestimmungskraft durchgesetzt, so ist diese im Besitz der vollen Bestimmungsmacht.

§ 113. Zur politischen Natur des Bestimmungsparadoxes

Konfrontiert man sich mit diesen Gesetzmäßigkeiten und dem Vokabular, das zu ihrer Beschreibung verwendet wird, so entsteht der Eindruck, sie beschrieben Gesetzmäßigkeiten nicht etwa eines Ästhetischen, sondern eines Politischen. Aber die Zehnte Kunstform geht im Reich des Wirklichen auf und das Reich des Wirklichen ist zunächst einmal das Reich des Politischen. Dass der vorherrschende Topos des Computerspiels der Krieg in all seinen Erscheinungsformen und der Durchsetzungskampf das vorherrschende Charakteristikum des Verhältnisses ist, das man zu jener Welt hat, die man betritt, dass die Entwickler von Computerspielen sich über nichts anderes so sehr den Kopf zerbrechen wie über die Frage nach der rechten Aufteilung der Bestimmungsmacht, dass jene junge Wissenschaft in zwei Lager zerfällt, die Grabenkämpfe nicht bloß um ihr Auslegungsrecht, sondern um die Form, welche ihr Gegenstand annehmen soll, austragen, all dies hängt zusammen und ist Ausdruck dessen, dass die Kunstform im Reich des Wirklichen, mithin Politischen aufgeht, in der Frage, wie eine gegebene Welt zu bestimmen ist und welche Bestimmungsmacht einem selbst dabei zukommt.

§ 114. Der Computer verfügt über keine Form des Verstehens

An das Computerspiel wird die Erwartung gestellt, dass es zugleich Spiel und Erzählung sein solle, woraus das Problem einer rechten Aufteilung der Bestimmungsmacht erwächst. Im Improvisationstheater tritt dieses Problem weniger stark hervor, und zwar deshalb, weil die im Bestimmungsvollzug tätigen Bestimmungskräfte in der Lage sind, solche Aufteilung fortlaufend neu auszuhandeln. Bei der Zehnten Kunstform verhält es sich anders. Hier tritt ein Mensch zu einer Maschine ins Verhältnis und die Möglichkeiten eines solchen Dialogs sind beschränkt, zumal der Computer nicht über etwas verfügt, das man im eigentlichen Sinne ein Verstehen nennen könnte. Genau deshalb halte ich es für fragwürdig, davon auszugehen, dass es sich bei dem, was sich zwischen Mensch und Computer ereignet, seinem wirklichen Gehalt nach um etwas handelt, das mit einem Gespräch, das sich zwischen Menschen ereignet, vergleichbar wäre.

§ 115. Die Dichte einer Verhältnisform beruht auf deren Wechselspiel von Gabe und Empfängnis

Den Kunstformen liegen Verhältnisformen zugrunde, die über Dichte verfügen. Dass diese Verhältnisformen über Dichte verfügen, bedeutet, dass sie ein ausgezeichnetes Vermögen besitzen, uns zur Entdeckung zu befähigen. Dieses ausgezeichnete Vermögen aber beruht auf deren Wechselspiel von Gabe und Empfängnis. Solches wiederum ist nicht aus dem Nichts entstanden, es ist vielmehr Resultat einer Entwicklung, die je nach Kunstform weit in die Vergangenheit zurückreicht und niemals abgeschlossen ist.