§ 51. Die Bestimmung des Lebens liegt in der Entdeckung

Der Geist kann nicht aus etwas heraussteigen, zu dem er selbst und hinzu noch als ein bloßes Element desselben die Grundlage hergibt. Aus dem Leben hinaussteigen zu wollen ist folglich nicht bloß unmöglich, es ist abwegig, und zwar deshalb, weil die einzige Form, in der das Leben uns begreiflich werden kann, die Vermittlung von Geist und Welt selbst ist. Aber dies bedeutet, dass das Begreifen des Lebens darin besteht, diese Kreisbewegung mitzugehen. Die Bestimmung des Lebens liegt somit in dessen Entdeckung. Zu entdecken bedeutet, den unendlichen Möglichkeitsraum zu durchmessen, den Geist und Welt eröffnen. Die Entdeckung kann als eine Entdeckungsfahrt begreiflich werden, aber was ihr zugrunde liegt, ist die Entdeckung des Göttlichen im Nachvollzug der zweifachen Bewegung des Dialektischen.

§ 52. Die Vorherrschaft des Paradigmas des Geistigen

Wenn die Entdeckung ihre Bestimmung darin findet, den Möglichkeitsraum der Verhältnisformen, den Geist und Welt eröffnen, zu durchmessen, so bedeutet dies, dass jede der drei Verhältnisqualitäten mit gleichem Recht Geltung darauf beanspruchen darf, das Leben begreiflich zu machen. Aber hier tritt ein Problem begrifflicher Natur zu Tage. Denn spricht man davon, dass das Leben begreiflich wird oder davon, dass das Sinnliche und das Wirkliche eine eigene Form von Erkenntnis sei, so zeigt sich, dass solcher Redeweise eine Voreingenommenheit zugrunde liegt, die in dem Paradigma gründet, dass das Geistige einen Vorrang gegenüber dem Wirklichen und Sinnlichen habe. Das Geistige wird unrechtmäßig zum alleinigen Maßstab, zum tertium comparationis aller Verhältnisqualitäten, wenn man sagt, dass das Sinnliche und das Wirkliche eine eigene Form von Erkenntnis seien und das Leben auch durch das Wirkliche und Sinnliche begreiflich werde. Eine radikale Erscheinungsform dieses Paradigmas würde in der Vorstellung zu finden sein, dass alles begreiflich, d.h. in Gestalt von Begriffen und Urteilen, eine rechte Form erhalten müsse und dass alles, was sich gegen eine solche Unterordnung sträubt, noch nicht zu der Klarheit gelangt wäre, für welche die Verwendung von Begriffen und Urteilen in Betracht kommt.

§ 53. Die Sprache als erstes Medium

Mit einem solchen Denken einhergehen würde die Vorstellung, dass die Sprache das erste Medium ist, dem alle anderen Medien als defiziente Formen desselben nacheifern müssten. Die Theorie, welche der Ikonischen Wende zugrunde liegt, hat dieses Ungleichgewicht zugunsten einer Unterform des Sinnlichen zu korrigieren versucht, aber indem der Leitbegriff, vom dem solche Theorie ausgeht, derjenige einer Sprache der Bilder ist, anerkennt sie den Vorrang von etwas an, das zunächst einmal im Geistigen aufgeht und läuft damit Gefahr, einen Anspruch zu formulieren, dem sie nicht gerecht werden kann: das Bild als etwas zu erweisen, das über dieselben Kapazitäten verfügt wie die Sprache. Die Kapazitäten des Bildes gründen in der Eigengesetzlichkeit des Sinnlichen und sollten nicht unter dem Vorzeichen einer Verhältnisform erörtert werden, die in geradezu paradigmatischer Weise im Geistigen aufgeht. Doch noch bevor man über die Kapazitäten des Bildes spricht, muss man sich fragen, was man tut, wenn man über die Kapazitäten des Bildes spricht, nämlich über die Kapazitäten des Bildes zu sprechen. Eine Theorie des Bildes nimmt ihren Anfang und ihr Ende genau in dieser Frage, die erkennen lässt, dass der Gegenstand ihres Interesses in einem sehr viel größeren Zusammenhang, demjenigen von Geist und Welt, steht. Denn tut man nicht etwas ganz und gar Sonderbares in der Absicht, das Bildliche unter Zuhilfenahme der Sprache zu charakterisieren, von der sich das Bildliche gerade unterscheiden soll? Ungeachtet des Umstands, dass man gar keine andere Wahl hat, dass man auf das Recht pochen muss, über Bilder zu sprechen?

§ 54. Teilhaftigkeit

Die Vorherrschaft eines Paradigmas des Geistigen zeigt sich auch im Umstand, dass die Sprache kein neutrales tertium comparationis für das Wirkliche, Sinnliche und Geistige kennt, weshalb ich aus der Verlegenheit heraus, die solchem Umstand erwächst, einen eigenen Ausdruck vorschlagen möchte, und zwar denjenigen der Teilhaftigkeit. Das Wirkliche, Sinnliche und Geistige sind also nicht Formen des Begreifens und Erkennens des Lebens, sondern Formen, vermöge welcher wir des Lebens als einer Vermittlung von Geist und Welt teilhaftig werden.

§ 55. Das Wahre, Schöne und Gute

Der Mensch sucht die Entdeckung im Nachvollzug der dialektischen Bewegung. Aber was sucht die Entdeckung? Die Entdeckung sucht das Wahre, Schöne und Gute. Denn es gibt weder etwas, das über das Wahre, Schöne und Gute hinausginge, noch etwas, wonach man sich an dessen Stelle richten könnte. Die Entdeckung des Wahren, Schönen und Guten findet in der Philosophie und Kunst ihre höchste Manifestation. Philosophie und Kunst unterscheidet, dass die Philosophie das Wahre, Schöne und Gute auf dem Weg der Abstraktion entdeckt, während Kunst das Wahre, Schöne und Gute auf dem Weg der Konkretion entdeckt, wobei Philosophie und Kunst mit gleichem Recht Geltung darauf beanspruchen, des Lebens teilhaftig zu sein als einer Entdeckung des Wahren, Schönen und Guten. Das Wahre, Schöne und Gute selbst manifestiert sich in den drei Dimensionen des Lebens: das Wahre vornehmlich im Geistigen, das Schöne vornehmlich im Sinnlichen, das Gute vornehmlich im Wirklichen, weshalb man auch sagen könnte, dass diese der Grund des Wahren, Schönen und Guten sind, ungeachtet dessen, dass das Wahre, das Schöne und das Gute stets in allen drei Dimensionen lebendig sind. Das Wahre, Schöne und Gute ist nicht etwas, das an sich gegeben ist, es ist vielmehr etwas, das aus der Entdeckung selbst hervorgeht als einem Nachvollzug der dialektischen Bewegung, weshalb die Entdeckung niemals zu einem Ende kommt, ja niemals zu einem Ende kommen kann. Denn die Möglichkeit der Entdeckung gründet in ihrer Unendlichkeit.