Videospiele als Kunstform denken

Wie viele Kinder und Jugendliche meiner Generation bin ich mit Videospielen aufgewachsen. Videospiele sind das prägende Medium unserer Zeit, so wie sie für frühere Generationen die Oper, das Theater und das Kino waren. Ihre kulturelle Bedeutung ist unbestreitbar und kann nur größer werden. Das allein macht Videospiele zu einem wichtigen wissenschaftlichen Gegenstand.

„Die Wiederentdeckung der Welt“ ist ein durch und durch normatives Unterfangen. Im Kern geht es um die Frage, was Videospiele sein und leisten können für das Individuum und die Gesellschaft und nicht darum, was sie tatsächlich sind oder leisten. Ich rege also zum Nachdenken über die Möglichkeiten des Videospiels an: eine theoretische Anstrengung, die in Anbetracht des kulturellen Stellenwerts ihres Gegenstands absolut gerechtfertigt ist.

Videospiele sind und leisten viele Dinge. Was mich interessiert, ist deren Kunstcharakter. In der von mir vorgeschlagenen, recht weit gefassten Definition hat Kunst eine grundlegend wichtige Funktion für den Menschen. Mein Vorhaben ist, das Ideal einer Kunstform zu denken, die aus dem Videospiel hervorgehen könnte. Dieses theoretische Konstrukt nenne ich die Zehnte Kunstform. Sie ist eine mögliche Antwort auf die Frage, was Videospiele als Kunstform bestenfalls sein und leisten könnten.

Weshalb spreche ich von der „Zehnten Kunstform“?

Das der Zehnten Kunstform zugrundeliegende Medium ist der Computer. Weil der Computer, zumindest der Theorie nach, alle andere Kunstformen simulieren kann, nimmt die Zehnte Kunstform eine Sonderstellung unter den Kunstformen ein. In ihr kann man Musik hören, Literatur und Comics lesen, Gemälde und Skulpturen betrachten, Tanzvorführungen und Theatervorstellungen besuchen, Filme schauen und Architektur begehen. So wie die Zahl 10 alle anderen Zahlen enthält, so enthält die Zehnte Kunstform definitionsgemäß alle anderen Kunstformen. Dass ihre Simulationsfähigkeit noch nicht perfekt ist, ist ein technisches, kein begriffliches Problem.

§ 1. Die Frage nach einer Kunstform, die zur Grundlage den Computer hat. Der Computer als die Form eines Allgemeinen

Die erste Frage, mit der ich mich beschäftigen möchte, nimmt folgende Form an: Lässt sich eine Kunstform auf der Grundlage des Computers denken? Wir sehen, dass der Computer Grundlage jeder anderen Kunstform werden kann in dem Sinne, dass er die Bedingungen bereitstellt, unter welchen die Kunstwerke erscheinen können. Damit jedoch ist die Frage nicht beantwortet. Denn gefragt wurde nicht, ob sich diese oder jene Kunstform, sondern ob sich eine Kunstform auf der Grundlage des Computers denken ließe. Aber was bedeutet das überhaupt, sich eine Kunstform auf der Grundlage des Computers zu denken? Es bedeutet, sich eine zu denken, welche der Form des Computers entspricht. Aber worin besteht diese Form des Computers? Sie besteht offenbar nicht in dieser oder jener Form eines Besonderen, sondern in der Form eines Allgemeinen. Denn nicht bloß zur Erscheinung von Kunstwerken vermag der Computer die Bedingungen bereitzustellen, sondern ebenso zu vielem anderen. Folglich kann die Frage, ob sich eine Kunstform auf der Grundlage des Computers denken ließe, auch so formuliert werden: Lässt sich eine Kunstform denken, die der Form eines Allgemeinen entspricht?

§ 2. Das Allgemeine und das Besondere, das Mögliche und das Wirkliche

Das Allgemeine und das Besondere fasse ich dialektisch auf, mithin als etwas, das bloß dem Grade nach allgemeinen oder besonderen Charakters ist. Die Form eines Allgemeinen existiert ebenso wenig wie die Form eines Besonderen. Mit der Form eines Allgemeinen ist eine Form gedacht, die in Abgrenzung zum Besonderen, dem Allgemeinen zustrebt, mit der Form eines Besonderen ist eine Form gedacht, die in Abgrenzung zum Allgemeinen dem Besonderen zustrebt. Ließe sich ferner das Allgemeine als ein Mögliches und das Besondere als ein Wirkliches denken, so wäre das Allgemeine dasjenige, was dem Möglichen, das Besondere dasjenige, was dem Wirklichen zustrebt.