Die Wiederentdeckung der Welt

§ 100. Über das Wechselspiel von Gabe und Empfängnis

Der Bestimmungsvollzug der Kunst besitzt wie der Bestimmungsvollzug des Spiels drei Strukturelemente. Denn erst wenn sich jemand zum Kunstwerk ins Verhältnis setzt, kommt es ganz zu sich. Das Kunstwerk steht wie das Regelwerk des Spiels nicht allein, es stellt immer schon eine Einheit dar, die in der Vermittlung von Mensch und Kunstwerk, Mensch und Regelwerk aufgeht. Aber das Anregende dieser Vermittlung liegt in solcher selbst. Sie kann nur dadurch begreiflich werden, dass der Mensch, der mit dem Kunst- oder Regelwerk in Berührung kommt, bei solchem Bestimmungsvollzug zugleich etwas gibt und etwas empfängt. Dies Wechselspiel von Gabe und Empfängnis liegt allen Verhältnisformen zugrunde. Die Entdeckung als Durchmessen des Möglichkeitsraums der Verhältnisformen, die Geist und Welt eröffnen, geschieht vermittels desselben.

§ 101. Die differentia specifica der Zehnten Kunstform ist weder an dem Begriff der Aktivität noch an dem Begriff der Interaktivität festzumachen. Die Dringlichkeit einer neuen Ästhetik

Ganz gleichgültig, wozu man sich ins Verhältnis setzt, es ist nicht denkbar, dass die hieraus entstehende Verhältnisform keine Interaktivität aufweise, und zwar aus einer metaphysischen Notwendigkeit heraus. Der Begriff der Interaktivität ist mit dem Begriff der Vermittlung oder dem des Mediums verwandt und besitzt dieselbe metaphysische Fundamentalität. Aber auch an dem etwas weniger schwierigen Begriff der Aktivität ist der Unterschied zwischen der Zehnten Kunstform und den traditionellen Kunstformen nur unzureichend festzumachen, zumal der Geist in seinem Reich, dem Reich des Geistigen gleichermaßen aktiv ist wie der Körper in seinem Reich, dem Reich des Wirklichen. Die Frage besteht folglich nicht darin, ob das eine oder das andere Aktivität darstelle, sondern worin sich diese Aktivitäten als Aktivitäten unterscheiden. Hierzu bedarf es einer Beschreibung der Form geistiger und körperlicher Vollzüge: dem, was wir tun, wenn wir denken, und dem, was wir tun, wenn wir handeln. Die Beantwortung jener Frage bedarf der Ausarbeitung einer eigenen Ästhetik, einer Ästhetik, die zu den ersten und letzten Bedingungen hinabführt. Aber darin zeigt sich nicht bloß die Dimension dieser Frage, sondern auch, weshalb sie so schwierig zu beantworten ist.

§ 102. Der Bestimmungsvollzug traditioneller Kunstformen wird in zwei Reichen, der Bestimmungsvollzug der Zehnten Kunstform in einem Reich ausgetragen

Der Bestimmungsvollzug traditioneller Kunstformen wird seinem Wesen nach in zwei getrennten Reichen ausgetragen, zwischen welchen die Bestimmungsmacht aufgeteilt wird. Die Bestimmungsmacht des Künstlers erstreckt sich auf das Reich des Wirklichen, die Bestimmungsmacht des Rezipienten, der sich zum Kunstwerk ins Verhältnis setzt, erstreckt sich auf das Reich des Geistigen und das Reich des Sinnlichen und beiden kommt innerhalb ihrer Reiche eine beträchtliche Bestimmungsmacht zu. Dadurch aber, dass die Zehnte Kunstform eine Kunstform ist, die im Wirklichen aufgeht, existiert hier nur noch ein Reich, das Reich des Wirklichen, auf das beide Bestimmungskräfte Anspruch erheben, wodurch eine Aufteilung der Bestimmungsmacht innerhalb eines Reichs notwendig wird.

§ 103. Worin das Bestimmungsparadox besteht. Der Streit um die Bestimmung eines Gegenstands und der gegebenen Welt

Die Natur des Problems, das hieraus erwächst, wird erst auf der Ebene der Begriffe einsichtig. Das Bestimmungsparadox erscheint in abstracto nämlich insofern, als es undenkbar ist, dass zwei Bestimmungskräfte denselben Gegenstand zugleich auf unterschiedliche Weise bestimmen. Es ist von Bedeutung, dass hier der Gegenstand als ein Entgegenstehendes (§ 58) gemeint ist, mithin etwas, das einer gegebenen Welt angehört. Die vorgestellte Welt kann wie der Geist niemals Gegenstand werden, sie ist vielmehr dasjenige, was aus dem Wechselspiel von Gabe und Empfängnis vermöge des Geistes und innerhalb desselben hervorgeht. Die gegebene Welt kann stets nur auf eine Weise bestimmt sein, so wie ein literarisches Werk, das als Gegenstand unzweideutig bestimmt ist durch das Paradigma und Syntagma seines Textes.

§ 104. Der Eintritt des Krieges in den Bestimmungsvollzug

Der Bestimmungsvollzug der Zehnten Kunstform betrifft zunächst einmal die Gestalt der gegebenen Welt. Der Mensch ist in das Kunstwerk, das zur Welt geworden ist, eingetreten und erhebt Anspruch darauf, solcher Gestalt zu geben. Damit aber tritt der Krieg in den Bestimmungsvollzug. Dass der Wille zur Macht die Triebfeder und die Überwältigung der Welt das Ziel dieses Bestimmungsvollzugs sind, ist eine natürliche Folge dieses Umstands.