§ 62. Der Unterschied zwischen Gegenständen und Verhältnisformen

Artefakte sind das Werkzeug der Entdeckung, vermöge welcher der Möglichkeitsraum durchmessen wird, den Geist und Welt eröffnen. Artefakte sind keine Medien, sie sind nebst den natürlichen Gegenständen vielmehr dasjenige, was Medien als Verhältnisformen ermöglichen. Dies geschieht dadurch, dass sie den Gegenstand bereitstellen, zu welchen der Geist sich ins Verhältnis setzt. Die Welt stellt Gegenstände bereit, aber erst wenn der Geist zu diesen Gegenständen in ein Verhältnis tritt, kann man von einer Verhältnisform sprechen.

§ 63. Zur Dichte von Verhältnisformen

Auf Medien als Verhältnisformen kommt es bei der Entdeckung an, denn die Medien bestimmen die Form der Teilhaftigkeit. Was die Form der Teilhaftigkeit bestimmt, ist der Charakter, den ein Medium als Verhältnisform annimmt. Der Charakter eines Mediums wiederum wird bestimmt durch dessen Gestalt und Umfang. Tritt ein neues Medium hervor und setzt es sich durch, so kann man von dessen Verhältnisform zweierlei sagen: erstens, dass diese Verhältnisform die Verhältnisqualitäten in ein bisher nicht dagewesenes Verhältnis zueinandergesetzt und deren Potenzialität im Einzelnen neu definiert hat, zweitens, dass der Charakter dieser Verhältnisform eine Dichte aufweist, welcher sich ihre Durchsetzung verdankt. Diese Dichte kommt nicht jeder Verhältnisform zu, was sich beispielsweise daran zeigt, dass die Zahl etablierter Kunstformen überschaubar ist.

§ 64. Die Dichte einer Verhältnisform resultiert nicht aus deren Quantität

Wollte man eine neue Verhältnisform schaffen, so ist für deren Dichte nicht dadurch zu sorgen, dass man alle drei Verhältnisqualitäten mitsamt deren Verhältnispotenzialität zur vollen Entfaltung kommen lässt. So wird die Musik so sehr vom Sinnlichen dominiert, dass das Wirkliche und Geistige in den Hintergrund tritt, überdies macht sie sich einzig den Hörsinn zunutze. Wir wissen aber, dass diese Verhältnisform gleichwohl eine Dichte besitzt, weshalb sie neben der Malerei und der Literatur lange Zeit und mit Recht als eine von drei Kardinalkünsten galt. Deshalb lässt sich aus dem Umstand, dass die Zehnte Kunstform eine Kunstform ist, welche die Formbedingungen aller anderen Kunstformen unter sich begreift, in keinster Weise folgern, dass solche den anderen Kunstformen überlegen sei. Aber genauso wenig bedeutet es dessen Gegenteil. Der Wert einer Kunstform gründet allein in der Dichte ihrer Verhältnisform. Diese Dichte wiederum ist Resultat des einzigartigen Aufbaus der Verhältnisform, weshalb Verhältnisformen nicht ohne weiteres miteinander verglichen werden können.

§ 65. Der Vorrang einer Verhältnisqualität als Bedingung für die Dichte einer Verhältnisform

Ahmt eine Kunstform die Verhältnisform des Lebens nach, so ahmt sie dasjenige nach, was ich die allgemeine Form des Lebens nenne. Solches muss sie jedoch keineswegs. Das Wesen der Kunst gründet seit jeher in der Freiheit, sich von dieser ersten und letzten Verhältnisform zu lösen, indem sie sich der Möglichkeit bedient, deren Gestalt und Umfang neu zu definieren und auf diese Weise zu unentdeckten Verhältnisformen eigenständigen Charakters zu gelangen. So hat sich die Musik von der allgemeinen Form des Lebens allein schon dadurch gelöst, dass sie den Schwerpunkt auf eine andere Verhältnisqualität, diejenige des Sinnlichen, gelegt hat. In ihr wird eine andere Verhältnisqualität als die des Wirklichen dominant, was dafür spricht, dass der Vorrang einer Verhältnisqualität innerhalb einer Verhältnisform eine notwendige Bedingung dafür ist, dass die Verhältnisform eine Dichte entwickelt. So gesehen konzentrieren sich Kunstformen stets auf eine Verhältnisqualität, wodurch sie in der Lage sind, deren Eigenheiten herauszuarbeiten.

§ 66. Allgemeine und besondere Form des Lebens. Alle Verhältnisformen sind eine Form des Lebens

Alle Verhältnisformen sind eine Form des Lebens. Gleichwohl sind auch jene Verhältnisformen, die sich von der allgemeinen Form des Lebens abheben und einer besonderen Form des Lebens zustreben, wie alle Verhältnisformen, letztlich Formen des Lebens, und zwar deshalb, weil die allgemeine Form des Lebens als das Fundament aller übrigen besonderen Formen in solchen lebendig bleibt und in sie hineinwirkt. Vernehmen wir Musik und gehen eine Verhältnisform zu dieser ein, so abstrahieren wir lediglich von der allgemeinen Form des Lebens, wir treten nicht aus ihr heraus.