§ 67. Die Rückbesinnung auf das Leben in der Kunst und Philosophie

Die großen Bewegungen in der Kunst und Philosophie ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts könnte man vor dem Hintergrund dessen betrachten, dass sie Antworten auf jene Herausforderungen zu geben versuchen, die sich mit dem Hervortreten der technischen Medien und deren Vermögen, die allgemeine Form des Lebens nachzuahmen, gestellt haben. Die Kunst fand zwei solcher Antworten oder Wege. Der erste Weg führte von der allgemeinen Lebensform fort. So reagierte die Malerei auf die Fotografie zunächst damit, dass sie sich von der allgemeinen Form des Lebens loszulösen versuchte nd zu einer eigenständigeren Formsprache fand, die mit der Auflösung des Figurativen einherging und in die abstrakte Malerei und die Konzeptkunst mündete. Der andere Weg bestand in einer Rückbesinnung auf das Leben und führte zur allgemeinen Form des Lebens hin, und zwar zu jenen Qualitäten derselben, die durch die technischen Medien noch nicht reproduzierbar geworden sind. Dieser Weg brachte die Aktionskunst hervor, die den Leib sowohl des Künstlers als auch des Rezipienten stärker in den Bestimmungsvollzug einbezog und hierdurch den Handlungscharakter der Kunst betonte. Diese Bewegung mündete im Situationismus, der die Kunst im Leben aufzulösen trachtete. In der Philosophie entdeckte man die allgemeine Form des Lebens in Gestalt der Existenz- und Leibphilosophie. Damit haben sowohl die Kunst als auch die Philosophie, angeregt durch die technischen Medien, neue Wege gefunden, ihre eigenen Grundlagen zu reflektieren.

§ 68. Das Leben als die Gesamtheit all dessen, was getan, gefühlt und gedacht werden kann

Obgleich das Leben, wie jede andere Verhältnisform auch, einen Charakter besitzt, so liefert sie doch die Grundlage für den Charakter jeder anderen Verhältnisform innerhalb seiner selbst. Sie ist die umfassende Verhältnisform, von der jede übrige bloß ein Fragment zu realisieren vermag. Das Leben wird folglich als die Gesamtheit überhaupt all dessen vorgestellt, was getan, gefühlt und gedacht werden kann.

§ 69. Zu der Unendlichkeit, an die Kunstwerke rühren

Mit der Wucht, mit der das Meer durch einen Riss in ein Gefäß dringt, das auf seinem tiefsten Grund liegt, mit derselben Gewalt drückt das Leben sich in das Kunstwerk hinein. Denn die Unendlichkeit, die uns in einem Kunstwerk begegnet, ist nichts anderes als das Leben, an das es rührt. Deshalb ist es eine irreführende Vorstellung, dass ein Künstler oder selbst ein Philosoph sein eigenes Werk zur Gänze verstehen oder über dasselbe vollständig Rechenschaft ablegen könne. Wäre es möglich, Kant zum Leben zu erwecken, so dass er leibhaftig und seiner vollen Geisteskraft teilhaftig vor uns erscheinen würde, um von ihm die endgültigen Antworten auf all jene Fragen zu erhalten, welche die Philosophie seit Menschengedenken umtreibt, so würde er wohl nichts anderes tun, als auf sein Werk zu verweisen. Es besteht sogar die Möglichkeit, dass ein Künstler oder Philosoph seinem Werk Unrecht tut, wenn er sich dazu herablässt, es für andere zu deuten, ja selbst die Absichten, die er mit dessen Erschaffung verfolgte, können für dasselbe ganz unerheblich sein. Das Werk muss für sich selbst sprechen, denn im Werk hat das Leben einen Abdruck hinterlassen.

§ 70. Zu den Grenzen der Zehnten Kunstform

Der Mensch schafft Artefakte, die Fragmente des Lebens realisieren, das heißt stets auch dessen Komplexität reduzieren. Denn alles, was erscheint, sei es natürlichen oder künstlichen Ursprungs, verweist auf das Leben, in das es eingelassen ist. Dies gilt auch für die Zehnte Kunstform, welche zwar die allgemeine Form des Lebens annimmt, aber wie der Begriff nahelegt, auch nur dessen Form und auch solches unvollständig. Dennoch erwächst hieraus eine bedeutende Frage, und zwar diejenige nach der Form, welche das Leben unter dem Vorzeichen der Kunst annimmt, den Umstand, dass das Leben, genauer: die Welt zum Gegenstand gestalterischer Kräfte wird.

§ 71. Die Welt als Gegenstand der Zehnten Kunstform. Die gegebene Welt und die vorgestellte Welt. Die zwei großen Sprünge in der Mediengeschichte.

Die Form von Artefakt, welche der Zehnten Kunstform als einer Verhältnisform zugrunde liegt, zeichnet sich dadurch aus, dass es das Wirkliche und Sinnliche zum ersten Mal in jene Einheit zurückführt, welche uns in Gestalt der gegebenen Welt begegnet, wodurch das Welthafte der Welt wie nie zuvor unter die Bedingungen der Herstellbarkeit und Formbarkeit tritt. Man könnte sagen, dass diese Entwicklung einen großen Sprung in der Mediengeschichte darstellt, vermutlich sogar den größten Sprung seit der Entstehung der Sprache. Man versuche sich einmal vorzustellen, dass die Sprache für den Geist dieselbe Funktion erfülle wie ein Tonsystem für die Musik, dergestalt, dass die Worte als dessen Notationselement nicht etwa Klängen, sondern Vorstellungen entsprechen. Die Literatur könnte man sich dann als eine Kunstform denken, deren Handwerk darin besteht, etwas zu schaffen, das man Vorstellungspartituren nennen könnte, die in einer kunstvollen Lenkung sämtlicher geistiger Vermögen besteht, insbesondere aber darin, im Kopfe des Lesers eine vorgestellte Welt hervorzubringen. Man könnte folglich sagen, dass mit der Entstehung der Sprache und deren ureigener Kunstform, der Literatur, die vorgestellte Welt wie noch nie zuvor unter die Bedingungen der Herstellbarkeit und Formbarkeit trat, geradeso wie mit dem Computer und dessen ureigener Kunstform die gegebene Welt. Dass das Hervortreten dieser Kunstformen einen großen Sprung in der Mediengeschichte darstellt, liegt in der Ganzheitlichkeit der Erfahrungen, die sie ermöglichen. Diese Ganzheitlichkeit gründet nicht bloß darin, dass beide Kunstformen in der Lage sind, Welten zu schaffen, sie gründet vielmehr darin, dass diese Kunstformen vermöge der Welten, die sie schaffen, aus Geist und Welt als den beiden dem Leben zugrundeliegenden Wirkungsgrössen ganzheitlich zu schöpfen und diese Ganzheitlichkeit für sich fruchtbar zu machen verstehen.