Die Uhr tickt für Augmented Reality

Unglaublich, aber wahr: Seit der Enthüllung von Google Glass sind zehn Jahre vergangen.

Das ist eine sehr lange Zeit in der Tech-Industrie und wirft die Frage auf, was sich technologisch seither in diesem Bereich getan hat. Auf den ersten Blick nicht viel: Es gibt noch immer keine Display-Brille, mit der Menschen auf die Straße gehen würden. Die größten Fortschritte gab es aufseiten der Software: Schnittstellen wie ARKit und ARCore brachten Augmented Reality auf Milliarden von Smartphones und wurden über die Jahre immer besser. Smartphone-AR ist dennoch eine Nische geblieben. Auf Gesichtsfiltern und dem One-Hit-Wunder Pokémon Go kann man keine nachhaltige Industrie bauen.

Das Smartphone kann nur eine technische Brücke sein zur vollwertigen AR-Brille, aber gerade die ist noch immer Science-Fiction. AR-Headsets wie Hololens und Magic Leap bringen zwar die wichtigsten AR-Features mit, aber sind zu wuchtig für den Alltag, während die Kamera- und Audiobrille Ray-Ban Stories zwar gut aussieht, aber nicht mal ein Display hat. Der Grund ist einfach: Die für schlanke, aber leistungsfähige AR-Brillen benötigte Technologie existiert noch nicht.

Es war Magic Leap, das in den letzten Jahren am meisten Schlagzeilen machte. An keinem anderen Unternehmen lässt sich die Entwicklung der AR-Industrie, deren Hochmut und Fall, so gut ablesen. Das Start-up gab vor, an einer revolutionären AR-Brille zu arbeiten und bis heute flossen sage und schreibe 3,5 Milliarden US-Dollar in das Unternehmen. Nach Jahren strengster Geheimhaltung und ausufernden Hypes – Magic Leaps AR-Brille wurde zeitweise als potenzieller Smartphone-Killer gehandelt – kam ein Produkt auf den Markt, das Augmented Reality technisch kaum voran und Magic Leap an den Rand des Bankrotts brachte.

Der Grund: Die „Wunderwaffe“ des Start-ups versagte. Die Display-Technologie, die Investoren Jahre zuvor beeindruckte, konnte Magic Leap nicht so weit miniaturisieren, dass sie in einer Brille Platz fand. In der Not setzte das Start-up auf eine althergebrachte Display-Technik, sogenannte Wellenleiter, mit allen ihren Unzulänglichkeiten. Aus der Revolution wurde ein Evolution, aus dem Sprung ein kleiner Schritt.

Die Magic Leap One: Futuristisch, aber nicht alltagstauglich. | Bild: Magic Leap

Magic Leap lebt dank Investoren weiter und bringt dieses Jahr ein neues AR-Headset heraus: die Magic Leap 2. Von dem Ziel, Hardware für Endverbraucher herzustellen, ist das Start-up realistischerweise abgerückt. Magic Leap 2 wird nur an Unternehmen verkauft. Der AR-Hype hat seither merklich gelitten und ist zunehmender Skepsis gewichen. Viel Zeit, Geld und Talent floss in die Technik, doch die Hardware hat sich nur marginal verbessert. Zu teuer, zu wuchtig, zu eingeschränkt sind die AR-Headsets, als dass sie für Endverbraucher interessant werden könnten.

Weil die Killer-Hardware fehlt, fehlen auch die Killer-Apps: Augmented Reality sucht weiter nach einem Problem, das es lösen kann. Ihr haftet der Ruf eines Gimmicks und einer ewigen Zukunftstechnologie an. Manche Experten meinen, dass eine fortschrittliche und zugleich alltagstaugliche AR-Brille niemals gebaut werden kann. Andere pochen auf mehr Entwicklungszeit. In fünf bis zehn Jahren könnte es klappen, heißt es aus Industriekreisen. Der iPhone-Moment der Augmented Reality wird kontinuierlich nach hinten verlegt.

Die großen Techkonzerne forschen indes weiter, in der Hoffnung auf das „nächste große Ding“. Tim Cook sieht in der AR-Brille sein mögliches Vermächtnis, während Mark Zuckerberg gar die Zukunft seines Unternehmens auf sie wettet. Doch auch Google, Microsoft und Amazon arbeiten laut Gerüchten und Stellenausschreibungen (wieder) an entsprechenden Geräten.

Apple und Meta investieren nach derzeitigem Kenntnisstand noch am stärksten in Forschung und Entwicklung, wobei Metas Investitionen beispiellos sind: Mehr als zehn Milliarden US-Dollar flossen allein im letzten Jahr in die Reality Labs, Metas VR- und AR-Abteilung, und in Zukunft sollen es noch mehr werden. Das Unternehmen entwickelt mehrere AR-Produkte und plant bis zu drei Hardware-Generationen in die Zukunft. Zuckerberg sieht in Virtual Reality und Augmented Reality eine neue Computerplattform, mit der sich Meta aus Apples und Googles Smartphone-Ökosystemen befreien könnte. Eine riskante, aber notwendige Wette auf die langfristige Zukunft des Unternehmens.

Vor kurzem legte ein Leak die Hardware-Roadmap des Unternehmens offen. Meta will demnach 2024 zwei AR-taugliche Geräte auf den Markt bringen: eine technisch einfachere Datenbrille (Codename: Hypernova) und eine vollwertige, aber alltagstaugliche AR-Brille (Project Nazare), die den Kern von Zuckerbergs Metaverse-Vision bildet. Die erste Version von Project Nazare richtet sich an Entwickler und Enthusiasten. Eine leichtere und fortschrittlichere Version soll 2026 kommen, gefolgt von einer dritten Version im Jahre 2028.

So könnte Augmented Reality durch die Gläser von Project Nazare aussehen. | Bild: Meta

Diese Roadmap ist ehrgeizig und zeigt, dass Meta möglichst bald in den Markt einsteigen will. Das ist verständlich: Nach acht Jahren Forschung und Entwicklung, benötigt Meta endlich greifbare Erfolge. Den Quellen zufolge will Meta bis Ende der 20er-Jahre Millionen alltagstauglicher Techbrillen verkaufen, doch ein Durchbruch könnte „Jahrzehnte beanspruchen“.

Ob Zuckerberg so lange investieren will, ist fraglich. Schon heute herrscht ein großer Druck auf Meta seitens Investoren und die Reality Labs sind ein immenses Verlustgeschäft. Zuckerberg wird beweisen müssen, dass sich mit AR-Brillen Geld verdienen lässt. Ob Metas Pläne aufgehen, dürfte sich daher in den nächsten Jahren entscheiden. Ich denke, dass 2026 das bislang wichtigste Jahr der Augmented Reality werden wird, gesetzt, dass die zweite Version von Project Nazare in diesem Jahr erscheint und sich an Endverbraucher richtet.

Project Nazare ist Metas Leuchtturmprojekt. Sollten die vergangenen Jahre, Mittel und Talente der Reality Labs nicht reichen, um eine alltagstaugliche AR-Brille zu bauen oder diese keinen Anklang finden, dann könnte dies das vorläufige Ende der AR-Welle bedeuten, die Google Glass vor zehn Jahren anstieß.

Dass die zu nehmenden Hürden gewaltig sind, weiß die Industrie. „Es gibt keine Kombination existierender Technologien, die alle nötigen Bedingungen erfüllt. Die Gesetze der Physik könnten verhindern, dass wir jemals brauchbare AR-Brillen bauen“, sagte Metas AR- und AR-Visionär und Forschungschef Michael Abrash 2017. „Aber wenn es möglich ist, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass sie innerhalb der nächsten zehn Jahre erscheinen.“

Kann Meta ein Produkt abliefern, das gut genug ist für Verbraucher? Die bisherigen Gerüchte schüren Zweifel: Meta soll noch keinen funktionsfähigen, tragbaren Prototyp haben und zudem auf die mehr oder wenige gleiche Display-Technik wie Magic Leap und Konsorten setzen. Project Nazare wird allem Anschein nach mehr vom Gleichen, nur in besser bieten und keine grundlegenden technologischen Durchbrüche.

Natürlich kann alles auch ganz anders kommen: Womöglich verschiebt sich der Marktstart wie so oft um Jahre, vielleicht kommt Apple oder ein anderer Mitbewerber mit etwas Besserem um die Ecke oder vielleicht investieren Meta und Konsorten weiterhin in Augmented Reality und schaffen den Durchbruch zu einem (sehr viel) späteren Zeitpunkt.

Eines ist klar: Die Uhr tickt für Augmented Reality. Dürfte in den nächsten Jahren kein signifikanter Fortschritt in puncto Technik und Marktwachstum erzielt werden, könnte die Technologie für längere Zeit wieder von der Bildfläche verschwinden.

Dieser Beitrag erschien am 9. Mai 2022 bei MIXED. Im Juni 2022 wurde bekannt, dass Project Nazare erst 2026 statt wie geplant 2024 kommerzialisiert werden solle.

Die Zukunft liegt jenseits von VR und AR

Wir schreiben das Jahre 2022 und Virtual Reality wird von einflussreichen Industrievertretern noch immer als Antithese der Augmented Reality beschrieben.

Das Argument ist alt: Augmented Reality lässt an der realen Welt teilhaben, Virtual Reality ersetzt sie. Augmented Reality bringt die Menschen zusammen, Virtual Reality isoliert sie. Böse Virtual Reality. Mit der gleichen Begründung könnte man Bücher abqualifizieren. Schließlich setzen sie voraus, dass sich Menschen allein in etwas vertiefen, das nichts mit ihrer unmittelbaren Umgebung zu tun hat.

Ich beziehe mich auf Äußerungen zweier einflussreicher CEOs, deren Unternehmen im Feld der Augmented Reality tätig sind. Die Polemik begann letztes Jahr mit Niantic-Chef John Hanke. Der Geschäftsführer des Pokémon-Go-Studios unterstellte Meta, ein dystopisches VR-Metaverse anzustreben. Dystopisch deshalb, weil es eine Realitätsflucht darstellt. Als Gegenentwurf brachte er ein AR-Metaverse in Stellung, das in der Wirklichkeit verwurzelt ist.

Zwei Tatsachen unterschlug Hanke dabei: a) dass ein AR-Metaverse ebenso dystopisch sein kann und b) dass Metas Metaverse-Vision sowohl VR als auch AR umfasst. An Augmented Reality wird Zuckerberg noch mehr gelegen sein als an Virtual Reality. Mit gutem Grund: Mit AR lässt sich auf lange Sicht mehr Geld verdienen. AR-Brillen könnten eines Tages so allgegenwärtig sein wie Smartphones, VR-Headsets werden eher etwas für die eigenen vier Wände bleiben.

Avatare spielen virtuelles Schach auf einem physischen Tisch. Die Umgebung lässt sich stufenlos ein- und ausblenden. Eine Szene aus der Mixed-Reality-Demo Unity Slices: Table. | Bild: Unity

Snap-CEO Evan Spiegel grenzt sich auf ähnliche Weise gegen Meta ab. Der Begriff des Metaverse, den Spiegel zurecht als „zweideutig und „hypothetisch“ bezeichnet, werde in Snaps Büros niemals ausgesprochen. „Eines der großen übergreifenden Konzepte, die die Leute [vom Metaverse] haben, ist, dass viele dieser Werkzeuge dazu gedacht sind, die Realität zu ersetzen. Wir hingegen versuchen, die reale Welt um uns herum zu erweitern“, sagte Spiegel kürzlich dem Guardian.

Dass Niantic und Snap die Stärken der Augmented Reality herausstellen, ist nachvollziehbar. Beide Unternehmen entwickeln AR-Produkte: Niantic landete mit dem AR-Spiel Pokémon Go einen Milliarden-Hit und Snap machte Gesichtsfilter zu einem Kulturphänomen. Aber AR gegen VR auszuspielen, ist nicht zielführend für die Branche – und ein wenig heuchlerisch.

Technologisch gesehen sind VR und AR Geschwister. Sie haben mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Bei Milgram-Kishino besetzen VR und AR unterschiedliche Positionen des gleichen Mixed-Reality-Kontinuums. Davon abgesehen ist die sogenannte Virtual Reality gar nicht so virtuell, wie man gemeinhin annimmt und stark in der physischen Realität verwurzelt. Technologie ist, was man aus ihr macht.

In der Zukunft, so die Hoffnung, werden wir nicht mehr von VR- und AR-Headsets sprechen, weil entsprechende Geräte beides unterstützen. VR und AR werden dann nur noch Darstellungsmodi ein- und desselben übergreifenden Mediums sein, beide mit ihren eigenen Stärken und Anwendungen, keine schlechter als die andere und frei von Stigmatisierung.

Dieser Beitrag erschien am 7. Mai 2022 bei MIXED.

Luke Ross verdient 10.000 US-Dollar im Monat mit VR-Mods

Während Open-World-Games auf dem PC und Konsolen zu den erfolgreichsten Videospielgenres gehören, fristen sie im VR-Gaming ein Nischendasein. Der Grund: Die Entwicklung und Vermarktung solcher Spielebrocken verschlingt hunderte Millionen US-Dollar, eine Investition, die sich in der VR-Nischen nicht wieder hereinholen ließe. Selbst VR-Portierungen sind eine Seltenheit, die große Studios kaum je anstrengen, weil die Einnahmen vernachlässigbar klein wären. Skyrim VR ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Weil die Publisher nicht liefern und große Nachfrage seitens Hardcore-Spielern besteht, entstand in den letzten Jahren eine lebendige Mod-Community, die 2D-Hits für PC-VR adaptiert. Der bekannteste Modder ist ein Entwickler mit dem Pseudonym Luke Ross, der im Alleingang VR-Unterstützung für Titel wie GTA 5, Red Dead Redemption 2, die Mafia-Trilogie, Cyberpunk 2077 und Horizon: Zero Dawn programmierte.

Auf Patreon hat Ross derzeit mehr als 2.000 Unterstützer:innen, die ihm monatlich 10 US-Dollar für den Zugang zu den neuesten Versionen seiner Mods überweisen. Die Abonnentenzahl steigt und fällt über das Jahr hinweg und nach Abzug der Patreon-Gebühren und Steuern bleiben noch rund 10.000 US-Dollar Einkommen pro Monat übrig, verrät mir Ross in einer E-Mail. Das entspricht dem Gehalt eines leitenden Spielentwicklers oder übertrifft dieses sogar. Keine Frage: Ross hat eine Marktnische entdeckt und aus seinem Hobby einen lukrativen Traumberuf gemacht. Ein Trick, den ihm so bald niemand nachmachen wird.

Ein Bild der PS5-Version von Grand Theft Auto 5. | Bild: Rockstar Games

Vor seiner Modding-Karriere war Ross ein freiberuflicher Softwareentwickler mit einer großen Leidenschaft für Videospiele. „Ich war mein ganzes Leben lang Gamer und habe neue Technologien schon immer geliebt, vor allem, wenn sie ein immersiveres Spielerlebnis ermöglichen, zum Beispiel 3D-Brillen“, sagt mir Ross. Für die aufkommende Virtual Reality war er Feuer und Flamme: 2012 gehörte Ross zu den ersten Unterstützern des Oculus-Kickstarters.

Ross begann weit früher mit Modding. Als großer Fan des Ego-Shooters No One Lives Forever 2, entwickelte er eine Mod, die das Spiel mit Nvidia 3D Vision und der dazugehörigen 3D-Shutterbrille kompatibel machte. Als die ersten kommerziellen VR-Geräte auf den Markt kamen, zögerte Ross nicht und programmierte eine Mod, die NOLF 2 mit VR-Brillen spielbar machte. Das war 2017. „Die Reaktion war sehr positiv und ermutigend, was mich später dazu veranlasste, ein viel größeres und komplexeres Spiel in Angriff zu nehmen: GTA 5“, sagt Ross. Das Ergebnis: Seine R.E.A.L.-Mod wurde von mehr als 150.000 Nutzern heruntergeladen. „Danach habe ich beschlossen, den Sprung zu wagen und herauszufinden, ob ich Vollzeit-Modder werden kann.“

Wenn die Nachfrage besteht, weshalb portieren die großen Studios dann ihre Spiele nicht selbst, frage ich Ross. „Das ist eine traurige Kombination mehrerer Faktoren“, meint der VR-Modder. In den frühen Hype-Jahren, also zwischen 2012 und 2016, sei „alles viel zu schnell passiert“. Überzogene Erwartungen vonseiten der Investoren und Spielern seien „hemmende Faktoren“ für eine gesunde Entwicklung des VR-Markts gewesen. Der letzte Sargnagel, so meint Ross, war das unglückliche Timing bei der Einführung von VR-Controllern gewesen.

„Von Spielentwicklern wurde plötzlich erwartet, dass sie Spiele nach einem völlig anderen Paradigma entwickeln, als sie es in der Vergangenheit getan hatten: Alles in ihren Spielen sollte nun interaktiv sein und auf virtuelle Hände reagieren“, erklärt Ross.

Die Studios und Publisher hätten auf diese Herausforderung abwehrend reagiert. „Als sie unter Druck gesetzt wurden, ein völlig anderes Produkt zu liefern, das auf einen Nischenmarkt zugeschnitten war, der zudem noch in den Kinderschuhen steckte und keine großen Gewinne abwerfen konnte, haben sie einfach dichtgemacht und beschlossen, Virtual Reality als vorübergehende Modeerscheinung anzusehen und zu ignorieren“, sagt Ross. Besser wäre es gewesen, wenn die VR-Hersteller zumindest für den Anfang auf Gamepad-VR gesetzt hätten, statt den Rest der Industrie mit voreiligen Innovationen abzuschrecken, so Ross‘ These.

„Was VR ausmacht, ist, dass man im Spiel ist und nicht jedes Mal mit den Armen herumfuchteln muss, wenn man mit etwas interagiert. Das gilt besonders für Spiele, die Hunderte von Stunden dauern, wie die großen Open-World-Titel. Bei solchen langen Spielsitzungen möchte man sitzen und die Hände entspannt im Schoß haben“, meint Ross, der in seinen Mods bewusst keine Unterstützung für Bewegungssteuerung anbietet.

Die dystopische Zukunft von Cyberpunk 2077. | Bild: CD Projekt Red

Seine Kritik trifft auch Valve, die ein widersprüchliches Verhalten an den Tag gelegt hätten. Das Unternehmen hätte zum einen eine unerreichbar hohe Messlatte gelegt mit Half-Life: Alyx und dem Beharren darauf, dass „alles auf neue und fantastische Weise speziell für VR gemacht werden muss“. Zum anderen hätte Valve eine „unglaubliche Kehrtwende“ vollzogen, indem sie sämtliche VR-Projekte aufgaben und auf Steam Deck umschwenkten. „Was für eine merkwürdige Art, ein Beispiel für den VR-Markt zu setzen“, meint Ross.

Seine Agenda sei simpel: Er wolle den Glauben der Verbraucher und Entwickler wiederherstellen, „dass VR jetzt und hier möglich ist“. Der VR-Markt müsse sich erst entlang gewohnter Gaming-Paradigmen entwickeln. Erst wenn er gereift ist, könnten Investoren neue Interaktionsformen in Erwägung ziehen. „Der Versuch, das Gegenteil zu tun, also nach großen Investitionen zu fragen, bevor der Markt bereit ist, ist ein sicherer Weg, die goldene Gans zu töten und am Ende mit nichts zu enden“, sagt Ross.

Der VR-Modder verdient gut an fremden Spielen. Könnte es sein, dass das zu einem Problem wird und die großen Publisher seinen Projekten einen Riegel vorschieben? Ross hat keine Sorgen diesbezüglich. „Die Situation unterscheidet sich von der anderer Modder, denn ich biete nur eine zusätzliche Option, die Originalspiele zu erleben, was letztlich mehr verkaufte Exemplare für die Studios und Publisher bedeutet“, meint Ross.

Ein bestimmtes Konfliktszenario kann er sich dennoch vorstellen: wenn die Eigentümer einer Spielemarke eine eigene VR-Portierung entwickeln, die in Konkurrenz zu seinen VR-Mods steht. In diesem Falle wäre er bereit, ein Projekt einzustampfen oder aber eine Win-win-Situation auszuhandeln.

Wäre es denkbar, dass er bei einem großen Studio anheuert, um eine offizielle VR-Portierung zu entwickeln? Für Ross kommt das derzeit nicht infrage. „Ich bekam ein paar interessante Offerten, aber ich habe das Gefühl, dass ich als unabhängiger Modder einen viel größeren Einfluss und eine größere Befriedigung durch meine Tätigkeit habe“, sagt der VR-Modder. Ein Ende seiner Arbeit sieht er nicht in Sicht. „Solange die Leute daran interessiert sind, riesige Open-World-Spiele in VR zu spielen, solange werde ich weitermachen.“

Dieser Beitrag erschien am 17. April 2022 bei MIXED. Das US-Techmagazin The Verge griff das Thema auf und brachte am 1. Juli einen eigenen Artikel mit ähnlicher Überschrift heraus. Wenig später drohten Take-Twos Anwälte, rechtliche Schritte gegen Patreon einzuleiten. Luke Ross sah sich gezwungen, alle VR-Mods von Spielen des Publishers der Förderplattform zu entfernen. Davon betroffen waren die Mods von GTA 5, Red Dead Redemption 2 und Mafia Definitive Edition.

Augmented Reality: So steht es um die Zukunftstechnologie

Dieser Beitrag unternimmt den Versuch einer allgemeinen Kategorisierung. Sein Zweck ist, einen Überblick zu geben über die wichtigsten Geräteklassen und dabei zugleich die Entwicklung bis 2022 widerzuspiegeln: von AR-tauglichen mobilen Geräten über AR-Headsets wie Hololens und Magic Leap bis zu den ersten VR-Headsets mit Passthrough-AR.

Mobile-AR

Andere Bezeichnungen oder Unterformen: Smartphone-AR, Tablet-AR
Bekannte Schnittstellen: ARKit, ARCore
Vorteile: große Verbreitung, gereifte Schnittstellen
Nachteile: umständliche Nutzung, kleiner Bildausschnitt, kein echtes 3D, eingeschränkte Interaktivität

Mobile-AR ist Augmented Reality mithilfe mobiler Geräte wie Smartphones und Tablets. Die nutzen eine Kamera und weitere Sensoren sowie maschinelles Sehen, um digitale Objekte und Informationen kontextsensitiv im physischen Raum darzustellen. Auf dem Display des Smartphones oder Tablets verschmelzen die digitalen und physischen Elemente.

Mobile-AR projiziert digitale Objekte auf realistische Weise in die physische Umgebung. | Bild: Apple

Erste ausgereifte Schnittstellen für Mobile-AR waren die Entwicklungskits Vuforia und Wikitude. 2017, mit der Vorstellung von Apples ARKit und der Integration der Schnittstelle in iOS, erreichte Mobile-AR die Massen. Google folgte 2018 Apples Beispiel mit ARCore, einer Lösung für Android-Geräte. Weitere einflussreiche Schnittstellen sind Spark AR von Meta, Snap AR und das von Niantic erworbene 8th Wall.

Da Smartphones allgegenwärtig sind, ist Mobile-AR die weit verbreitetste und meist genutzte Form von Augmented Reality. Zu den beliebtesten Anwendungen gehören AR-Spiele wie Pokémon Go, Gesichtsfilter und Googles AR-Suche.

Datenbrillen

Andere Bezeichnungen oder Unterformen: Smartglasses, Videobrillen, Kamerabrillen, Audiobrillen
Bekannte Beispiele: Google Glass, North Focals, Ray-Ban Stories, Echo Frames, Snap Spectacles (1-3)
Vorteile: vergleichsweise schmaler Formfaktor
Nachteile: schwache bis keine AR-Funktionalität, schmales Sichtfeld

In diese Klasse gehören Geräte, die sich am Formfaktor einer herkömmlichen Brille orientieren und möglichst unauffällig wirken wollen, aus diesem Grund aber lediglich rudimentäre Augmented Reality bieten: Sie blenden nützliche Informationen im Sichtfeld ein (Google Glass, North Focals) oder beamen virtuelle Bildschirme in den Raum (Nreal Air), ohne die physische Umgebung zu berücksichtigen.

Die Ray-Ban Stories mit zwei integrierten Kameras ist von einer normalen Ray-Ban fast nicht zu unterscheiden. Der tolle Formfaktor wird unter anderem dadurch erkauft, dass sie kein Display bietet. | Bild: Meta / Ray-Ban

Andere Geräte dieser Klasse haben kein Display verbaut und bieten dafür alternative smarte Funktion wie Kameras und Lautsprecher (Ray-Ban Stories) oder Sprachassistenz (Echo Frames). Die stark beschränkte AR-Funktionalität ist in allen Fällen auf technische Gründe zurückzuführen: die Miniaturisierung von AR-Technik ist nur ansatzweise gelungen.

Das meist recht schmale Sichtfeld und der mit diesem einhergehende eingeschränkte Nutzen der Geräte hat eine größere Verbreitung bislang verhindert. In einigen Fällen sind die Datenbrillen optisch immer noch als solche auszumachen und daher nicht sozialverträglich. Google Glass floppte wegen dieses Umstands und der integrierten Kamera, die Kontroversen rund um Privatsphäre und Datenschutz hervorrief.

AR-Headsets

Andere Bezeichnungen oder Unterformen: Seethrough-AR-Headsets
Bekannte Beispiele: Microsoft Hololens, Magic Leap, Snap Spectacles
Vorteile: Fortschrittliche AR-Funktionalität
Nachteile: vergleichsweise wuchtig, schmales Sichtfeld, teuer

AR-Headsets haben eine andere Prämisse als Datenbrillen: Abstriche beim Formfaktor werden in Kauf genommen, um Raum zu schaffen für wichtige Grundfunktionen von Augmented Reality wie räumliches Tracking und 3D-Mapping der Umgebung. Dementsprechend wuchtig sind die Geräte und nicht mit herkömmlichen Brillen zu verwechseln, weshalb diese Kategorie auch mit AR-Headsets statt AR-Brillen (siehe Kategorie 5) überschrieben ist.

Die bekanntesten AR-Headsets sind Microsoft Hololens und Magic Leap. Die erste Hololens erschien 2016. 2018 folgte die Magic Leap One (heute: Magic Leap 1) und 2019 die Hololens 2. 2022 kommt die Magic Leap 2 auf den Markt.

Hololens 2: Gute AR-Technik mit Schwächen beim Display, die deshalb und wegen des Formfaktors noch nicht für den Alltag geeignet ist. | Bild: Microsoft

Wegen ihres hohen Preises, der experimentellen Technik und ihrem Aussehen sind die Geräte unattraktiv für Endverbraucher. Abnehmer sind primär Unternehmen, Profis und AR-Enthusiasten, die für die Brillen und spezifische Nutzungsszenarien maßgeschneiderte Anwendungen entwickeln. Hololens 2 und Magic Leap 2 brachten zwar Fortschritte in Bereichen wie Formfaktor, Tragekomfort, Bedienung und Sichtfeld. Einen technischen Durchbruch, der die Geräte auch für Konsumenten interessant machen könnte, gelang ihnen aber nicht.

Gerüchten zufolge hat Microsoft die Arbeit an Hololens 3 eingestellt. Stimmt das, wäre Magic Leap der einzige größere Akteur, der AR-Headsets herstellt. Das könnte ein Hinweis sein, dass der Formfaktor keine große Zukunft hat, da Hersteller dieser Geräte über kurz oder lang in Kategorie 5 landen wollen.

Interessante Hybriden sind Nreal Light und Snaps Spectacles. Beide Geräte gehen optisch in Richtung einer herkömmlichen Brille und bieten grundlegende AR-Features. An die technischen Kapazitäten echter AR-Headsets kommt sie aber nicht heran. Der Formfaktor ist zwar schlanker als bei einem Headset wie Hololens, aber noch immer deutlich größer als bei einer Brille.

Passthrough-AR-Headsets

Andere Bezeichnungen oder Unterformen: Mixed-Reality-Headsets
Beispiele: Project Cambria, Lynx R-1, Varjo XR-3
Vorteile: derzeit beste AR-Funktionalität, weites Sichtfeld
Nachteile: Formfaktor

AR-Headsets wie Hololens und Magic Leap leiten das Licht eines Bildprojektors in ein transparentes Glas, den sogenannten Wellenleiter, der das Bild anschließend ins Auge wirft. Diese Technik steckt in den Kinderschuhen, ist komplex und teuer in der Herstellung.

Passthrough-AR-Headsets hingegen setzen auf das gleiche Bauprinzip wie VR-Brillen, was die Herstellung erleichtert und die Kosten senkt, da es sich um weitgehend etablierte Technik handelt. Sie werden in den nächsten Jahren voraussichtlich die beste Hardware für fortschrittliche Augmented Reality werden.

Im Gehäuse von Passtrough-AR-Headsets sind Kameras verbaut, die die Umgebung filmen und als Videobild an die undurchsichtigen Bildschirme weiterleiten. So entsteht die Illusion, die umgebende Welt zu sehen, die auf den Displays beliebig um digitale Elemente erweitert werden kann.

Erstes Bild von Project Cambria

Project Cambria kommt voraussichtlich an den Formfaktor der Hololens 2 heran. Wesentlich kleiner dürften Video-AR-Headsets wegen der benötigten Technik zeitnah nicht werden. | Bild: Meta

Diese Darstellungstechnik hat Vorteile gegenüber klassischen AR-Headsets mit transparenten Wellenleitern: Sie ermöglicht ein weites Sichtfeld vergleichbar mit VR-Headsets, realistische Verdeckung physischer Objekte, Darstellung von Schatten und Dunkelheit und fließende Übergänge entlang des Mixed-Reality-Spektrums.

Nachteile von Video-AR wie Latenz und eine fixe Fokusebene wiegen nicht so schwer wie die Kompromisse herkömmlicher AR-Headets (geisterhafte AR-Objekte, schmales Sichtfeld).

Deswegen hoffen viele Unternehmen auf einen größeren Erfolg von Video-AR-Headsets. Meta und Lynx bringen dieses Jahr entsprechende Geräte auf den Markt und ähnliche Headsets von Apple, Google, Samsung und Microsoft sollen gerüchteweise in den nächsten Jahren folgen.

Der Formfaktor dieser Art Headsets ermöglicht zwar fortschrittliche AR, ist aber zugleich der größte Nachteil: Wie VR-Headsets sind die Geräte wuchtig und nur bedingt alltagstauglich, weshalb die Nutzung größtenteils auf Innenräume und dafür vorgesehene Areale beschränkt bleiben dürfte.

AR-Brillen

Andere Bezeichnungen oder Unterformen: AR Glasses
Beispiele:
Vorteile: Brillenformfaktor, hervorragende AR-Funktionalität, weites Sichtfeld
Nachteile: offene Fragen bezüglich Datenschutz und Privatsphäre, technische Infrastruktur ist eine große Herausforderung

Eine stylische und bequeme Brille mit AR-Features, die Träger im Alltag unterstützt, lebensechte Hologramme in den Raum projiziert und analoge und digitale Realität gekonnt vermischt: Das ist der Traum, auf den die AR-Industrie hinarbeitet und der seit Jahren kaum näher rückt. Ob er jemals Wirklichkeit wird, entscheidet sich laut Metas wichtigstem Technikforscher Michael Abrash in dieser Dekade.

Die Liste der Hürden ist lang: Eine richtige AR-Brille müsste eine immense Computerleistung für die komplexen Aufgaben bei AR-Berechnungen bieten und dennoch ausreichend Akkuleistung für einen ganzen Tag haben, ähnlich wie unsere Smartphones heute.

Mit Project Aria erforscht Meta Grundlagen für die AR-Brillenzukunft. Der aktuelle Prototyp ist funktionstüchtig: Erste Tester sammeln damit Alltagsdaten über Kameras und Tiefensensoren. Die Brille hat allerdings keinen Bildschirm und keine Grafikeinheit verbaut. Der Formfaktor ist in etwa das, was Meta und andere Tech-Konzerne realistisch anstreben dürften. | Bild: Meta

Neben den Prozessoren müssen zwei oder mehr Kameras ins Brillengestell passen, über die sich die Brille in der Umgebung orientiert und etwa Orte, Objekte und Personen wiedererkennt. Dabei darf die Brille weder zu groß, noch zu schwer und warm werden.

Eine mögliche Lösung für einige der technischen Herausforderungen wäre 5G-Streaming: Inhalte kommen fertig aus der Cloud, die Brille muss sie „nur“ noch in die Umgebung projizieren und Interaktion ermöglichen. So könnte man einen Teil der Rechenlast auslagern und die Brillen schlanker bauen.

Doch selbst wenn diese Probleme gelöst wären, besteht noch immer die Frage, wie die Öffentlichkeit auf AR-Brillen reagiert, die ihre Umgebung fortwährend filmen und analysieren. Diese Debatte muss erst noch stattfinden. Die Erfahrungen von Google Glass zeigen, dass sie kompliziert werden dürfte.

AR-Kontaktlinsen

Beispiele: Mojo Lens, Inwith

Noch mehr Zukunftsmusik als schlanke AR-Brillen sind AR-Kontaktlinsen. Start-ups wie Mojo Vision oder Inwith stellen zwar erste, technisch beeindruckende Prototypen vor. Deren Funktionalität ist aber rudimentär.

Der Prototyp der Mojo Lens kann Inhalte in einem 15-Grad-Sichtfeld direkt auf der Retina darstellen. Per Eye-Tracking erkennt die Linse, wohin das Auge gerade blickt, und passt das Bild entsprechend an. Derzeit kann das selbst entwickelte Display nur grün darstellen, Raum- und Objekterkennung bietet die Linse nicht.

Ein Einsatz im medizinischen Umfeld für spezifische Augenkrankheiten, etwa als Kontrastverstärker, ist zunächst wahrscheinlicher. Ein externer Zuspieler wie ein Taschencomputer oder Cloud-Streaming sind in jedem Fall notwendig.

Dieser Beitrag erschien am 3. April 2022 bei MIXED. Matthias Bastian hat am Text mitgewirkt.

Nuklearer Schatten: „In the Morning You Wake“ ist ein eindringlicher Weckruf

In den Morgenstunden des 13. Januar 2018 erhält die hawaiianische Bevölkerung eine schockierende SMS: Eine ballistische Rakete ist auf dem Weg zur Insel. „Suchen Sie sofort Schutz. Das ist keine Übung“, steht in der Nachricht.

Unter den 1,4 Millionen Einwohnern bricht Panik aus. Die Menschen suchen Schutz in Gebäuden, klettern in die Kanalisation, setzen Notrufe ab. 38 Minuten lang herrscht Ungewissheit und Todesangst, bis eine zweite SMS Entwarnung gibt: Es handelt sich um einen versehentlich ausgelösten Fehlalarm. Der VR-Film „In the Morning You Wake (To the End of The World)“ zeigt, wie die Einwohner auf den Ernstfall eines nuklearen Angriffs reagierten und er tut dies mit Mitteln, die das Erzählmedium Virtual Reality auszeichnen.

Die halbstündige Dokumentation wird in Echtzeit auf der Meta Quest 2 gerendert und erlaubt es, die Szenen frei zu begehen. Viele der Schauplätze setzen sich aus Punktewolken zusammen, die den nuklearen Schatten symbolisieren, unter dem die Menschheit lebt. Die tanzenden Punkte verleihen dem VR-Film visuelle Dynamik und regen die Vorstellungskraft der Zuschauer:innen an, da sie die Welt nur umrisshaft zeigen.

Überhaupt ist alles in Bewegung. Die Dokumentation spielt mit Kamerafahrten, Perspektiven und Größenverhältnissen und inmitten all dessen steht das Publikum und erlebt, was Hawaiis Bewohner empfunden haben mussten: eine aus den Fugen geratene Welt.

Eine weitere Besonderheit des VR-Films sind die volumetrischen Darsteller, die vorab mithilfe 140 Kameras eingescannt wurden und in den Szenen als Hologramme erscheinen. Sie stehen für die Menschen, die diesen Albtraum durchleben mussten und deren Stimmen man in der Dokumentation erzählen hört. Die Aufzeichnungen stammen aus 100 Stunden Interview-Material.

On the Morning You Wake ist voller Szenen, die ich niemals vergessen werde, die sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt haben: eine Visualisierung des Einschlags der Hiroshima-Bombe, atomare Raketen, die um den verletzlich wirkenden Erdball fliegen und die letzte Szene, die durch Einbeziehung des Publikums auf ergreifende Art an nukleare Abrüstung appelliert.

Dieser Beitrag erschien am 2. April 2022 bei MIXED.