§ 118. Die Materialisation des Geistes als dasjenige, worin das der Zehnten Kunstform eigene Wechselspiel von Gabe und Empfängnis zu sich findet

Erstreckte sich die Bestimmungsmacht des Rezipienten bisher vornehmlich auf das Reich des Geistigen und Sinnlichen, innerhalb dessen sich sein schöpferischer Geist frei entfalten konnte, so beansprucht er dasselbe nun für das Reich des Wirklichen, das sich ihm mit der Zehnten Kunstform eröffnet. Dass er dasselbe für das Reich des Wirklichen beansprucht, bedeutet, dass sein Geist sich nun innerhalb jenes Reichs entfalten möchte. Das Mittel dieser Entfaltung ist die Handlung und der Ausdruck dieser neugewonnenen Freiheit, dass sein Geist sich in die Welt hinausträgt, sich in der Welt abdrückt, der er handelnd Gestalt gibt. Man könnte auch von einer Materialisation des Geistes sprechen, worin das der Zehnten Kunstform eigene Wechselspiel von Gabe und Empfängnis zuallererst zu sich findet, worin die Grundlage jener Formel zu suchen ist, vermöge welcher die Verhältnisform zu ihrer Bestimmung gelangt.

§ 119. Der Demiurg. Die Welt als ein System der Gesetze. Das Lebenswerk

Dem Leben liegt die Verhältnisform zugrunde, die allen anderen Verhältnisformen zugrunde liegt. Allein dies ist schon ein Ausweis ihrer Dichte als das Vermögen, uns zur Entdeckung zu befähigen. Das Artefakt göttlichen Ursprungs, das dem Leben als einer Verhältnisform zugrunde liegt, ist die natürliche gegebene Welt. Sollte die Zehnte Kunstform ihre Aufgabe darin finden, dass sie die allgemeine Form des Lebens annimmt, so bringt sie eine gegebene Welt hervor, die als Kunstwerk zum ersten Mal das Wirkliche und Sinnliche in die natürliche Einheit des Welthaften zurückführt. Den Künstler, der ein solches Kunstwerk hervorbringt, den Baumeister einer solchen Welt, nenne ich Demiurg. Was für den Maler Formen, für den Schriftsteller Worte, für den Komponisten Töne sind, das sind für den Demiurgen Algorithmen. Der Demiurg schafft kein System der Formen, Worte oder Töne, er schafft ein System der Gesetze. Der Demiurg hat dafür zu sorgen, dass die Dimension des Wirklichen in der Welt, die er schafft, zu seinem Recht kommt, denn diese Form von Verhältnis, die sich für den Geist in der Möglichkeit der Handlung manifestiert, zeichnet die Zehnte Kunstform aus und ist jenes Mittel, durch welches der freie, schöpferische Geist am Bestimmungsvollzug teilhat. Aber der Geist kann nur insofern frei und schöpferisch werden und seine Materialisation nur insofern über die nötige Bedeutung verfügen, als das Wirkliche, das dem Bestimmungsvollzug zugrunde liegt, auf ein System von Gesetzen gründet, das mehr als die Summe seiner Teile ist und eine unbegrenzte Zahl an Möglichkeiten bereitstellt, das Paradigma und Syntagma eines solchen Vollzugs zu bestimmen. Damit sind die Bedingungen benannt, unter welchen eine Kunstform, die im Wirklichen aufgeht, überhaupt erst denkbar wird. Die Idee für solche Bedingungen aber gibt uns das Leben ein: dass es ein System von Gesetzen gibt, das einen unendlich breiten, unendlich tiefen Handlungsspielraum eröffnet, dass es einen Bestimmungsvollzug gibt, der im Wirklichen, der in der Handlung aufgeht, und dass der Geist sich vermöge jenes Handlungsspielraums auf eine einzigartige und bedeutsame Weise zu etwas, das man ein Lebenswerk nennen könnte, zu materialisieren vermag.

§ 120. Welche Vorzüge es hat, die Form der Zehnten Kunstform in der allgemeinen Form des Lebens zu suchen

Setzt man sich zu solch einem weltgewordenen Kunstwerk ins Verhältnis, so nimmt diese Verhältnisform die allgemeine Form des Lebens an. Aber welche Vorzüge hat es, die Form der Zehnten Kunstform in der allgemeinen Form des Lebens zu finden? Nebst dem Vorzug, dass die allgemeine Form des Lebens dem Medium, das der Zehnten Kunstform zugrunde liegt, in größtmöglichem Maße entspricht, in seiner Form eines Allgemeinen, aber auch in der Dimension des Wirklichen, in der es aufgeht, und dem Vorzug, dass die allgemeine Form des Lebens eine Formel bereitstellt, vermöge welcher der Bestimmungsvollzug eines solchen Kunstwerks zu sich findet, besteht ein weiterer Vorzug dieser Formbestimmung darin, dass die allgemeine Form des Lebens das Bestimmungsparadox dergestalt in sich aufzunehmen vermag, dass es in seinem Sein bewahrt und als eine ursprüngliche Eigenschaft ihrer selbst und des Lebens, das sie beschreibt, wirksam wird.

§ 121. Inwiefern das Modell von Welt, das der allgemeinen Form des Lebens zugrunde liegt, das Auftreten des Bestimmungsparadoxes einschränkt

Das Bestimmungsparadox tritt dann in Erscheinung, wenn zwei Bestimmungskräfte denselben Gegenstand bestimmen wollen, woraus die Aufgabe erwächst, das Eintreten eines solchen Falles nach Möglichkeit einzuschränken. Das Modell von Welt, das der allgemeinen Form des Lebens zugrunde liegt, erfüllt diese Aufgabe in idealtypischer Weise, und zwar deshalb, weil der Demiurg ein Schmied der Gesetze und nicht ein Schmied des Schicksals ist. Worin ein Demiurg mit Recht sein Meisterwerk verwirklicht sähe, wäre eine Welt, die wie ein Uhrwerk beschaffen ist, das einmal aufgezogen, von alleine läuft, und zwar ohne dass jener sich genötigt sähe, in es einzugreifen, weil solches aus sich selbst heraus die nötige Tiefe schöpfte. Der Demiurg schränkt das Auftreten des Bestimmungsparadoxes folglich insofern ein, als sein weltgewordenes Kunstwerk nur noch die Gesetze bestimmt, die weiten Grenzen eines Reichs des Wirklichen, innerhalb dessen der schöpferische Geist sich entfalten kann. Denn darin gründet die sonderbare Natur des Gesetzes, seine ihm eigene Kraft: Es schafft auf der Grundlage einer kleinstmöglichen Zahl an Bestimmungen eine größtmögliche Zahl an Bestimmungsvollzügen.

§ 122. Dem Begriff der Freiheit liegt die Dialektik von Bestimmtheit und Unbestimmtheit zugrunde. Furcht und Angst als Erscheinungsformen des Schreckens

Es versteht sich von selbst, dass der Geist auch innerhalb einer solchen Welt nicht vollkommen frei ist, denn seine Bestimmungsmacht endet an den Gesetzen der Welt als jenen Bestimmungen des Demiurgen, die gleichsam hinter der Welt zurückgetreten sind. So zeigt sich, dass der Begriff der Bestimmungsmacht oder derjenige der Freiheit auf einer Dialektik, der Dialektik von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, fußt. Denn Freiheit entfaltet sich wie alles andere innerhalb eines dialektisch organisierten Raums, der die Form eines Dazwischen annimmt und deshalb von nichts einen Begriff hat, das schlechthin gegeben wäre. Freiheit setzt voraus, dass man an einem Bestimmungsvollzug teilhat, das durch ein anderes, die Welt und seine Gesetze, mitbestimmt wird. Ist die Welt im Begriff, die Bestimmungsmacht an sich zu reißen, so grenzt der Bestimmungsvollzug für uns an die Bestimmtheit, die Freiheit verringert sich bis zu dem Punkt, an dem sie sich ganz aufzulösen beginnt. Was uns infolgedessen befällt, ist Furcht, denn die Furcht ist das, was erscheint, wenn wir vollkommen durch die Welt bestimmt zu sein scheinen, so dass wir in der Welt gleichsam untergehen und aufhören zu existieren. Sind wir im Begriff, die Bestimmungsmacht an uns zu reißen, so grenzt der Bestimmungsvollzug für uns an die Unbestimmtheit, die Freiheit vergrößert sich bis zu dem Punkt, an dem sie sich ganz aufzulösen beginnt. Was uns infolgedessen befällt, ist Angst, denn die Angst ist das, was erscheint, wenn die Welt vollkommen durch uns bestimmt zu sein scheint, so dass die Welt gleichsam in uns untergeht und aufhört zu existieren. In beiden Fällen geraten wir an eine Grenze, in beiden Fällen werden wir eines uns schlechthin Unteilhaftigen gewahr, weshalb Furcht und Angst Erscheinungsformen des Schreckens sind.