§ 21. Die Wende zum Leben

Was für das Medium gilt, dass es im doppelten Sinne nur in Abhebung von demjenigen überhaupt zu denken ist, dem es zugrunde liegt, dem Leben nämlich, in das es, wie alles andere auch, eingelassen ist, das gilt auch von Kunstwerken. Kunstwerke sind Erscheinungen, die nur dadurch begreiflich werden können, dass man deren Verhältnis zu einer allgemeinen Form des Lebens untersucht. Die paradigmatische Auffassung eines solchen Verhältnisses bestand bisher weitgehend darin, dass man die Eigenständigkeit von Kunstwerken betonte, also den Umstand, dass diese ihre eigene Form von Realität erzeugen. Eine solche Auffassung ist zwar richtig, allerdings gilt dasselbe auch von deren Gegenteil, denken wir im Einklang mit der Dialektik von Natur und Kunst: dass Kunstwerke mitnichten eigenständig sind, sondern nur vermöge dessen ihre eigene Realität erzeugen, als solche auf eine Realität verweisen, die bereits existiert. Die Wende zum Leben zu vollziehen bedeutet, dem Bewusstsein Raum zu verschaffen, dass dasjenige, worin alles, was Gegenstand werden kann, notwendig eingelassen ist, solchem nicht als ein Unvermitteltes, mithin Reines und schlicht Gegebenes zugrunde liegt, sondern selbst eine Form besitzt, wodurch das Leben in der Folge als ein Medium vorstellig wird, das allem, was innerhalb dessen erscheint, all seinem Inhalt eine, nämlich seine ureigene Form aufprägt. Der Vorstellung einer allgemeinen Form des Lebens liegt der Gedanke zugrunde, dass solch eine Form sich zeigen und beschreiben lassen muss.

§ 22. Eine Umkehrung der Perspektive

Somit wird alles, was erscheint, vom Leben her gedacht. Solch eine Umkehrung der Perspektive hat weitreichende Konsequenzen, besonders für Wissenschaften, die sich mit Artefakten befassen, etwa einer Bildwissenschaft, welche das Bild und die Bildbetrachtung noch heute wie etwas behandelt, das einen von der Welt und der allgemeinen Form des Lebens gänzlich unabhängigen Charakter besitzt, als hätte das Bild vor der Welt und die Betrachtung des Bildes vor der Betrachtung der Welt, vor dem Blick in die Welt existiert. Das Bild kann nur im Hinblick auf die Welt und die Betrachtung des Bildes nur im Hinblick auf jenen Urblick begreiflich werden. Denn das Bild liegt nicht der Welt, die Welt liegt dem Bild zugrunde und die Betrachtung des Bildes liegt nicht dem Leben, das Leben liegt der Betrachtung des Bildes zugrunde.

§ 23. Weshalb heute ein Bewusstsein für die allgemeine Form des Lebens entsteht

Dass sich bisher kein umfassendes Bewusstsein für die Existenz einer allgemeinen Form des Lebens herausbilden konnte, ist darauf zurückzuführen, dass sie die grundlegendste Form ist, deren Geltung mit dem Leben selbst in Kraft tritt, wodurch sie, gerade aufgrund ihrer Allgegenwärtigkeit, für alles andere, das innerhalb ihrer selbst erscheint, zu einem weißen Hintergrund, zur unsichtbarsten aller unsichtbaren Formen wird. Hier zeigt sich aufs Neue bestätigt, dass gerade die bedeutsamsten, allen anderen Formen zugrundeliegenden allgemeinen Formen jene sind, die uns am wenigsten bewusst werden, woraus sich die Dringlichkeit einer Aufdeckung derselben ergibt. Dass man sich dieser Formen gerade heute bewusst wird, ist nicht ein Werk des Zufalls. Durch das Hervortreten einer Zehnten Kunstform erscheint die allgemeine Form des Lebens unter den Bedingungen der Künstlichkeit und der Kunst, was zu einem Wiedereintreten dieser Form ins allgemeine Bewusstsein führt. Das Natürliche und Allgemeine ist damit in einem bisher für unmöglich gehaltenen Ausmaß zu einem Effekt von Kunst geworden.

§ 24. Das Medium. Zur sonderbaren Natur des Begriffs

Der allgemeine Begriff des Mediums hat für die Erkenntnis dieselben Eigenschaften wie der Begriff der Zeit: Er erhellt vieles, bleibt selbst hingegen dunkel. Diese sonderbare Natur des Begriffs, die einerseits in seiner fast schon universalen Anwendbarkeit gründete, andererseits darin, dass nie so recht begreiflich werden wollte, was er letztlich bezeichnet, war für die Wissenschaft, die sich mit seinen Erscheinungsformen beschäftigte, immer schon sowohl ein Fluch als auch ein Segen gewesen, jedoch dergestalt, dass der Fluch ebenso als ein Segen, der Segen ebenso als ein Fluch erscheinen mochte. So konnte diese Wissenschaft ihre Erkenntnisse auf vielen Gebieten erweitern, zugleich aber drohte sie einzubüßen, was ihr ihre Einheit gab.

§ 25. Zur rechten Herangehensweise an die Erläuterung eines solchen Begriffs

Es scheint mir nicht sonderlich klug zu sein, bei der ersten Gelegenheit, die sich bietet, gleich daran gehen zu wollen, einem solchen Begriff die Dunkelheit gleichsam auszutreiben, zumal sich andere aller Wahrscheinlichkeit nach bereits daran versucht haben. Vielversprechender scheint mir eine andere Herangehensweise, bei der die Dunkelheit nicht als das Resultat einer Privation des Lichts begriffen wird, sondern als etwas, dem selbst als ein Eigenes Geltung zukommt, wodurch die Dunkelheit als etwas begreiflich würde, das nicht ausgetrieben werden kann, sondern im Gegenteil als etwas, in das man hineinsteigen muss, um auf dem Weg in selbige nicht etwa zu beobachten, wie das Licht die Dunkelheit, sondern wie die Dunkelheit das Licht verdrängt. Damit aber ist in letzter Konsequenz die Notwendigkeit eines Ortes anerkannt, an den kein Licht geraten kann. Die rechte Herangehensweise an die Erläuterung des Begriffs wäre folglich nicht im Versuch verwirklicht, den Begriff des Mediums zu erhellen, sondern vielmehr, im Abschreiten jener Grenze, zu erhellen, weshalb man ihn nicht erhellen kann, weshalb er sein Geheimnis nicht preisgibt