„Museum of Other Realities“ – Das außergewöhnlichste Kunstmuseum der Welt

Ich stattete dem Museum of Other Realities oder kurz: MOR im vergangenen Sommer zum ersten Mal einen Besuch ab. Schon damals war ich beeindruckt von dem virtuellen Bau und seiner VR-Kunst.

Das Museum wurde seither stetig weiterentwickelt und Anfang des Jahres eröffnete es neu, mit komplett neuer, spektakulärer Architektur. Durch seine schiere Größe und architektonische Extravaganz ist das Museum selbst schon ein Kunstwerk und das Durchqueren und Erforschen ein wesentlicher Bestandteil des VR-Erlebnisses.

Viele Räume und Hallen wurden eigens für die VR-Kunstwerke gestaltet, die sie beherbergen. So gehen Architektur und Kunst eine Einheit ein. Ein Beispiel ist die monumentale Farb- und Formlandschaft Devalaya Rupanam des Hollywood-Tricktechnikers Kevin Mack. Hier tritt man in einen nach oben offenen Raum, in dessen Mitte ein organisch wirkender Klumpen schwebt, der dank stetig seine Formen und Farben verändert.

Museum-of-Other-Realitites-Architektur

Das Bauwerk ließe so manchen Stararchitekten vor Neid erblassen.

Mack nennt diese Gebilde “Blorts” und entwickelte mit Blortasia eine VR-Erfahrung, die endlose Varianten dieser hypnotisierenden Erscheinungen generiert. In diesem Raum kann man schwerelos durch die Luft schweben und sich das riesige, klingende Gebilde von allen Seiten und aus der Nähe ansehen – eine erhabene Erfahrung!

Das MOR ist ausladend groß und verwinkelt. Damit man den Überblick behält, findet man gleich im ersten Raum ein Hologramm des Museums, das den Grundriss zeigt. Sollte man die Orientierung verlieren, kann man sich jederzeit zum Hologramm hin- und zurückteleportieren. Auf der Karte sieht man außerdem, wo sich Freunde aufhalten und man kann eine Route planen oder direkt zu einem Kunstwerk springen.

Museum-of-Other-Realitites-Blort-Landschaft

Kevin Macks Riesenblort fasziniert durch seine sinnliche Erscheinung und die Art des Erlebnisses.

In der Lobby lernen Besucher, wie sie sich durch das virtuelle Museum bewegen, wie man mit anderen Museumsbesuchern und Kunst interagiert und wie man Fotos macht. Fremde Besucher erscheinen als geisterhafte Gestalt. Erst wenn man sich mit ihnen anfreundet, sie in eine Gruppe einlädt oder selbst eingeladen wird, nehmen ihre Avatare eine feste Form an und sind ansprechbar. Der eigene Avatar besteht aus abstrakten Formen und lässt sich anpassen. Lobenswert ist, dass die Entwickler fast vollständig auf flache Benutzeroberflächen verzichtet und intuitive Arten der Interaktion gefunden haben. So interagiert man durchgehend mit räumlichen Inhalten und den eigenen Händen.

Wer im MOR einen Rembrandt oder Van Gogh zu sehen hofft, ist an der falschen Adresse. Der Großteil der Kunst im MOR wurde für und mit Virtual Reality kreiert. Auf der offiziellen Internetseite gibt es ein Verzeichnis aller ausgestellten Künstler und Kunstwerke sowie der Werkzeuge, mit denen die digitalen Artefakte kreiert wurden. Hier ist die gesamte Palette an VR-Kreativprogrammen vertreten: von Google Blocks über Quill und Oculus Medium bis hin zu Gravity Sketch und Tilt Brush.

Museum-of-Other-Realitites-Tilt-Brush

In viele Kunstwerke kann man sich hineinteleportieren und so aus einer komplett neuen Perspektive erleben.

Die Kunstwerke wurden größtenteils händisch in 3D gezeichnet und gemalt und so sollen sie auch erleben werden: indem man sie von allen Seiten betrachtet oder sich in sie hineinteleportiert und durchquert. Dabei schrumpft man zuweilen auf die Größe einer Maus und steht plötzlich inmitten der handgezeichneten Miniaturwelt. Dieses Spiel mit Größenverhältnissen und Perspektiven macht VR-Kunst aus und ermöglicht ein neue Art, Kunst zu erleben.

VR-Kunst ist digitale Kunst und kann als solche Artefakte erzeugen, die in der physischen Realität nicht umsetzbar wären. Man denke an Hologramme, Partikelwolken, Blorts.

Das Besondere an VR-Kunst als einer Unterkategorie der digitalen Kunst ist, dass sie eine körperliche Erfahrung simuliert und annähernd wie das „echte Leben“ anmutet: Man starrt nicht bloß auf einen Bildschirm, sondern hat dank der VR-Brille das Gefühl, an einem realen Ort zu sein. VR-Kunst schlägt eine Brücke zwischen digitaler Kunst und einem annähernd analogen Wirklichkeitserlebnis und verbindet so das Beste zweier Welten. Genau das ist es, was das Museum of Other Realities so aufregend macht und kein anderes Kunstmuseum der Welt bietet: Man besucht einen Ort, der real wirkt, aber irreale Dinge beherbergt, Dinge, deren Sein nicht durch physikalische Gesetze eingeschränkt sind.

Museum-of-Other-Realitites-Hologramm-Künstler

Der US-Künstler Isaac Cohen spricht über seine Kunst – in Form eines wunderschönen anzusehenden Punkte-Hologramms.

Das Museum of Other Realities soll eine führende Plattform für Virtual-Reality-Kunst werden, ein Forum für die VR-Kunstgemeinschaft und kunstinteressierte VR-Nutzer und VR-Künstler unterstützen. Die ausgestellten Arbeiten werden wie von einer echten Kunstgalerie beworben und die Künstler nach Möglichkeit entlohnt. Wer ein Eintrittsticket kauft, unterstützt VR-Kunst und kann dem Museum immer wieder einen Besuch abstatten. Das soll sich lohnen, weil regelmäßig neue Kunstwerke hinzukommen und virtuelle Kunstparties veranstaltet werden, auf denen man die Künstler treffen kann.

Mich hat der Besuch im neuen MOR noch stärker beeindruckt als beim ersten Mal. Das liegt an der Museumsarchitektur, dem gelungenen VR-Interface und der erweiterten Kunstsammlung. Die Entwickler beweisen, dass sie den nötigen Ehrgeiz haben, um eine solche Plattform voranzutreiben. Das nächste Mal nehme ich jemanden auf meinen VR-Museumsbesuch mit, denn Kunst wird noch schöner, wenn sie gemeinsam erlebt und diskutiert wird.

Dieser Beitrag erschien am 17. Mai 2020 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

Die besten VR-Apps für virtuelle Reisen

Im Laufe der letzten Jahre testete ich eine Vielzahl von VR-Apps, die mich an fotorealistische Duplikate realer Orte führten. Viele dieser Landschaften und Kulturstätten wurden mithilfe von Fotogrammetrie digitalisiert. Bei diesem Verfahren wird eine Umgebung aus zahlreichen Perspektiven fotografiert und die Einzelbilder anschließend zu einem digitalen 3D-Ebenbild des Ortes vernäht. Mit einer VR-Brille kann man die digitale Kopie anschließend von allen Seiten betrachten und begehen.

Interessierten kann ich folgende VR-Apps empfehlen:

  • Blautopf VR
  • Blueplanet VR
  • Chernobyl VR Project
  • Everest VR
  • Il Divino: Michelangelo’s Sistine Ceiling in VR
  • The Last Goodbye
  • Nefertari: Journey to Eternity
  • Realities
  • The Homestead
  • Titanic VR
  • Versailles VR
  • Zen Universe

Mehr Informationen sowie Links zu den Apps stehen bei MIXED.

Virtuelle Orte der Vergangenheit: Wie Virtual Reality meine Erinnerungen wachhält

Im Juni 2016 sagte ich der Schweiz Lebewohl. Mit nichts als einem Koffer in der Hand, der so ziemlich alles enthielt, was mir aus der Schweiz geblieben war, bestieg ich das Flugzeug am Basler Euroairport und wanderte nach Kroatien aus.

Mein erster voller Sommer an der Adria war schön. So schön, dass er mich das Land, in dem ich aufwuchs und mein bisheriges Leben verbrachte, vorübergehend vergessen ließ. Das änderte sich, als der Herbst allmählich in den Winter überging und ich unverhofft Gelegenheit erhielt, Basel einen Besuch abzustatten. In der Grenzstadt hatte ich die letzten zehn Jahre meines Lebens verbracht, studiert und Freunde gefunden. Meine Reise nach Basel war ungewöhnlicher Natur: Ich reiste nicht etwa mit dem Flugzeug, der Bahn oder dem Bus in die Schweiz. Ich begab mich mittels VR-Brille nach Basel.

Google_Earth_VR_Blick_aufs_Muenster

Der Rhein und das Basler Münster von der Wettsteinbrücke aus gesehen.

Im November 2016 erschien die VR-App Google Earth VR, eine neue Version von Googles digitalem Globus, die von Grund auf für Virtual Reality entwickelt wurde und blitzschnelle virtuelle Reisen an jeden Ort der Welt erlaubt. Da stehe ich also in meiner Wohnung, rücke mir die VR-Brille zurecht und starte voller Erwartung Google Earth VR.

Im nächsten Augenblick schwebe ich mitten im Weltall und sehe die Erdkugel erhaben vor mir schweben. Eine Seite des Planeten ist in Licht, die andere in Dunkelheit getaucht. Ich gehe etwas näher heran und erkenne im Dunkel die glitzernden Lichter der Zivilisation. Mit dem Controller greife ich nach der Kugel und drehe sie und sehe Afrika, Asien, Amerika in Sekunden an mir vorüberfliegen. Dann zeige ich auf einen Punkt an der Adria und stürze der Erde entgegen, die sich in alle Richtungen ausbreitet, während ich selbst kleiner und kleiner werde. Während meines Flugs werfe ich einen Blick zur Seite und erkenne, dass ich in jene magische Zone zwischen Himmel und Erde eintrete, in welcher die Planetenoberfläche rund und zugleich flach erscheint.

Als Erstes besuche ich die Küstenstadt Split, in der ich den Sommer verbrachte. Während draußen in der physischen Welt ein eiskalter Wind bläst, suche ich in Virtual Reality die sommerlichen Orte und Strände auf, in denen ich wenige Monate zuvor meine Freizeit verbrachte. Danach mache ich einen kurzen Abstecher nach New York und Paris und schaue mir Sehenswürdigkeiten an. Dabei stampfe ich wie Godzilla mit Riesenschritten durch die Städte, die sich wie eine Modellbauwelt um mich herum ausbreitet.

Mein letztes Reiseziel ist Basel. Dort angekommen, lasse ich mich auf die Größe eines Menschen schrumpfen und besuche der Reihe nach die Orte, die mir etwas bedeuten: das Universitätsgelände, die äußeren Quartiere, in die ich regelmäßige Ausflüge unternahm und den Kannenfeldpark, in dessen Nähe ich wohnte. Dabei wird mir bewusst, wie wenig ich in den vergangenen Monate an die Stadt und mein früheres Leben in der Schweiz dachte.

Wirkte das virtuelle Basel aus der Entfernung noch sehr real, verflüchtigt sich jetzt die Illusion, eine echte Stadt vor mir zu haben: Die 3D-Modelle wirken grob und deren Oberflächen eilig bemalt. Aus der Nähe sieht das virtuelle Basel aus, als hätte der Verhüllungskünstler Christo sie unter bunten Tüchern versteckt. Zum Schluss besuche ich die Kleinbasler Altstadt und laufe die Rheinpromenade hinab, die ich während der letzten zehn Jahre unzählige Male hinauf- und hinabging. Mit dem Controller greife ich nach der Sonne und schleife sie entlang ihrer Bahn bis zum Horizont, sodass es Nacht wird und die Sterne hervortreten.

Nun ist es ganz still. Und während ich so am Rhein sitze, allein in dieser Geisterstadt, die zugleich Basel ist und nicht ist, überkommt mich urplötzlich und unerwartet ein rasendes Heimweh, das noch Stunden andauert und mich in den folgenden Nächten wieder und wieder von der Stadt träumen lässt.

Google_Earth_VR_Basel_Rhein_in_der_Nacht

Am virtuellen Rhein sitzend.

Die Macht dieser Erfahrung zeigt, dass Google Earth VR zu den stärksten Anwendungen der Virtual Reality gehört. Man könnte sagen, dass sie in der Technologie ihr ideales Medium gefunden hat: Weil die Welt räumlich und begehbar ist, funktioniert Google Earth in Virtual Reality viel besser als auf einem Monitor. Man sieht die Welt nicht bloß, man erfährt sie.

„Es liegen Welten dazwischen, ob man eine Beschreibung darüber liest, wie es ist, durch Paris zu spazieren, ob man ein Video über Paris anschaut, oder ob man Paris tatsächlich besucht“, sagt Clay Bavor, der Googles Abteilung für Virtual und Augmented Reality leitet. Bavor sieht in der Erfahrung die mächtigste und reichhaltigste Art von Information, für deren Vermittlung sich Virtual Reality wie kein anderes Medium eigne.

Es muss dieses ganzheitliche Erleben gewesen sein, dieses Gefühl von Anwesenheit, das so urgewaltig all die Erinnerungen an diese Stadt weckte. In Google Earth VR ist erst ein verschwindend geringer Teil der Erdoberfläche als 3D-Modell umgesetzt und selbst diese Gebiete spiegeln das Erscheinungsbild der Welt nur unzureichend wider.

Mit der fortschreitenden Digitalisierung der Welt dürfte sich das ändern, wodurch virtuelle Ausflüge und Zeitreisen denkbar wären, da man die architektonische Entwicklung von Städten beobachten können wird. Das heutige Google Earth VR kratzt derzeit nur an der Oberfläche dessen, was möglich wäre, wenn die Welt erst einmal vollständig digitalisiert ist.

Google_Earth_VR_Basel_Marktplatz

Basels Marktplatz in Virtual Reality.

Aber besteht dadurch nicht die Gefahr, dass die virtuelle die reale Welt eines Tages ersetzt? Werden Menschen überhaupt noch vor die Tür gehen wollen, wenn man mit der VR-Brille überallhin reisen können wird? Der französische Philosoph Jean Baudrillard sah in der fortschreitenden Digitalisierung eine große Gefahr. Die Menschheit würde an einen Punkt kommen, an dem sie zwischen dem Reellen und Virtuellen nicht mehr unterscheiden kann. Dann gäbe es nur noch das „Hyperreale“, das auf keinen realen Gegenstand mehr verweist, warnte der Philosoph.

Im Frühjahr 2017 stattete ich Basel erneut einen Besuch ab. Dieses Mal ganz konventionell mit dem Flugzeug. Ich war auf der Durchreise und hatte nur wenig Zeit, sodass es lediglich für einen kurzen Spaziergang am Rhein entlang reichte. Zu meinem Erstaunen hat das Wiedersehen mit dem echten Basel kein so starkes Heimweh ausgelöst wie meine virtuelle Reise wenige Monate zuvor. Womöglich lag das daran, dass das virtuelle Basel unvollendet und nur ein vergleichsweise grobes Modell der wirklichen Stadt war. In dieser abstrakteren Form konnte es, einem Traumgebilde ähnlich, zu einer Projektionsfläche meiner Erinnerungen, Gefühle und Sehnsüchte werden.

Am Ende war es also nicht das echte Basel, sondern sein virtuelles Gegenstück, das Erinnerungen an reale Orte und Begebenheiten hervorrief. Darin leben, das würde ich nicht wollen. Aber hin und wieder in das virtuelle Basel zurückkehren – in Ermangelung der Möglichkeit physischen Reisens – und in der Vergangenheit schwelgen. Kann das etwas Schlechtes sein?

Dieser Beitrag erschien am 18. März 2017 unter dem Titel „So real fühlen sich virtuelle Reisen“ in der Schweiz am Wochenende und am 21. März 2020 in überarbeiteter und erweiterter Form bei MIXED.

Verjüngungskur für alte Filme

Paris, 1896. Die Brüder Lumière führen einem gespannten Publikum den ersten Kinofilm der Geschichte vor: Er dauert 50 Sekunden und zeigt einen Zug, der in den Bahnhof der französischen Küstenstadt La Ciotat einfährt. Die Zuschauer sollen so sehr ob der bewegten Bilder erschrocken sein, dass sie in Panik das Weite suchten.

Knapp 125 Jahre später modernisierte ein Russe den Schwarz-Weiß-Film mit Hilfe Künstlicher Intelligenz. Algorithmen rechneten das historische Filmmaterial auf 4K-Auflösung hoch, ergänzten, wo nötig, Details und fügten neue Einzelbilder ein, sodass Bewegungen geschmeidiger wirken.

Das Ergebnis verblüfft und lässt das berühmte Stück Film so lebensecht wie nie zuvor erscheinen. Wie hätten die Besucher der ersten Kinovorführung der Geschichte wohl erst auf diese Aufnahme reagiert?

Moderne Betrachter sind jedenfalls begeistert: Mehr als drei Millionen Mal wurde das auf Youtube veröffentlichte Video bislang abgerufen. „Heiliger Bimbam. Ich sah gerade Menschen aus dem 19. Jahrhundert, als wäre es heute“, kommentiert ein Youtuber-Nutzer.

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Das Medieninteresse und die Popularität des Videos überraschte den Urheber der KI-gestützten Filmverjüngung, den in Moskau lebenden Produktmanager Denis Shiryaev.

„Ich habe das Video aus Spaß gemacht und weil ich neugierig auf das Resultat war“, sagt er. Der 31-Jährige ist kein KI-Fachmann, auch wenn er sich seit Jahren hobbymäßig mit maschinellem Lernen befasst. Er will laut eigenen Aussagen nichts Einzigartiges geschaffen und lediglich KI-Algorithmen genutzt haben, die frei im Internet erhältlich sind. „Jeder kann es mir nachmachen“, meint er. Die Ehre gebühre den Entwicklern, welche die Algorithmen programmierten.

Drei Tage und drei Nächte waren die künstlichen neuronalen Netze mit der digitalen Frischzellenkur beschäftigt. Shiryaev selbst musste sich lediglich in Geduld üben. „Der schwerste Teil war, neben den Arbeitsgeräuschen des Rechners zu schlafen“, sagt der KI-Tüftler.

Nachdem sein Video viral ging und zahlreiche Internetseiten darüber berichteten, trudelten bei Shiryaev ein halbes Dutzend Anfragen von Filmunternehmen ein. „Sie wollten alle nur eines wissen: Ob sie meine Software für die Modernisierung ihrer Filmarchive nutzen dürfen.“

Davon angespornt, will Shiryaev als Nächstes seine Arbeitsabläufe automatisieren und als kostenpflichtigen Verjüngungsdienst für alte Filme und Archivmaterial anbieten. Auf seinem Youtube-Kanal sollen regelmäßig neue Videos erscheinen, ein weiteres hat er bereits veröffentlicht: Es zeigt den US-Astronauten John Young während der Apollo-16-Mission.

Shiryaev glaubt, dass es schon bald einen umkämpften Markt geben wird für das KI-Facelifting alter Filme. Die Zukunft der Technologie ist vielversprechend, zumal aktuelle KI-Algorithmen nur teilweise für diese Aufgabe ausgelegt sind. Bei näherem Hinsehen merkt man das Shiryaevs Videos an: Man erkennt Bildartefakte und manche Details, wie weiter entfernte Gesichter, bleiben unscharf.

Um ihre volle Wirkung zu entfalten, müssten die KI-Algorithmen zuerst mit geeignetem Material trainiert werden, anhand dessen sie digitale Restaurierung gleichsam „lernen“. Dann könnten sie auch freier arbeiten.

„KI-Algorithmen könnten nicht nur Bilder hochskalieren, sie könnten sie vollkommen neu berechnen mittels spezieller Datensätze. Ein KI-Algorithmus wird unkenntliche Gesichter neu zeichnen, ein anderer wird die Szene nachkolorieren und wieder ein anderer wird Bildrauschen beseitigen“, meint Shiryaev. Spätestens in fünf Jahren soll es so weit sein.

Historische Aufnahmen vergangener Epochen und Ereignisse könnten so in neuem Glanz erstrahlen und für zeitgenössische Betrachter einen neuen Bezug zur Vergangenheit schaffen. Man denke etwa an Aufnahmen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, der ersten Mondlandung oder Martin Luther Kings berühmter Rede vor dem Lincoln-Denkmal. „Das Potenzial ist riesig“, sagt Shiryaev. „In der Zukunft werden alle Filme mit KI aufgemöbelt. Daran habe ich keine Zweifel.“

Dieser Beitrag erschien am 22. Februar 2020 in der Schweiz am Wochenende und am 1. März 2020 unter dem Titel „Neue Details in alten Filmen: KI macht’s möglich“ bei MIXED.

Virtuelles Reisen: Wie ich in Zeiten der Flugscham die Welt erkunde

Vor kurzem besuchte ich zum ersten Mal die Sixtinische Kapelle. Ich bestaunte die monumentalen Fresken, die Michelangelo Buonarroti im Auftrag des Papstes zwischen 1508 und 1512 an die Decke des sakralen Baus malte. Ein Kunsthistoriker gab mir derweil geduldig Auskunft zu jedem Bildmotiv, das mich interessierte.

Das war nur eine von vielen, unvergesslichen Reisen, die ich in diesem Jahr unternahm: Meine Expeditionen führten mich in den menschenverlassenen, nächtlichen Palast von Versailles, in die dreitausend Jahre alte Gruft der Pharaonengemahlin Nefertari, in die Tiefen des letzten deutschen Kohlebergwerks Prosper-Haniel, in die hitzeglühenden Weiten des amerikanischen Death Valley, auf die Spitze des Mount Everest und in die Tschernobyl-Geisterstadt Pripyat.

Nun ist mir bewusst, dass es in Zeiten der Flugscham unangemessen ist, sich solcher Reisen zu rühmen. Doch der CO2-Fußabdruck meiner Reisen war vergleichsweise gering: Genau genommen verbrauchte ich keinen Tropfen Kerosin. Ja, für mein Transportmittel musste ich nicht einmal das Haus verlassen. Ich reiste nämlich nicht per Flugzeug, sondern digital – mit einer VR-Brille.

„Il Divino“ heißt die in Anspielung an den „göttlichen“ Michelangelo getaufte VR-Erfahrung, für die ein Team aus Computerspezialisten den Innenraum der Sixtinischen Kapelle samt Decken- und Wandgemälden, Innendekoration und realistischer Beleuchtung fast auf den Zentimeter genau digital rekonstruierte. Das folgende Video gibt einen Eindruck davon, was virtuelle Besucher erwartet.

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Die digital rekonstruierte Sixtinische Kapelle | Bild: Christopher Evans

Möglich macht diese Präzision ein technisches Verfahren namens Fotogrammetrie, bei dem Algorithmen zahlreiche Fotografien eines Objekts oder Raums zu einem lebensechten 3D-Modell vernähen. Die Mühe hat sich gelohnt, denn das Ergebnis ist atemberaubend.

Ich weiß durchaus, dass ein digitales Duplikat und mag es noch so detailliert sein, eine physische Stätte niemals ersetzen kann. Die Aura eines Ortes wird auch von dessen Geruch, Temperatur, Luftfeuchtigkeit getragen und ist in die Erfahrung der Reise eingebettet, den Weg, den man auf sich nahm, um diesen Ort aufzusuchen. All dies kann auch die fortschrittlichste VR-Brille nicht vermitteln. Aber sie kann, wie im Beispiel der Sixtinischen Kapelle, die visuelle Substanz eines Raums einfangen. Dank digitaler Technologie konnte ich Michelangelos Fresken in einer Intimität und aus Perspektiven erleben, die Normalsterblichen verwehrt ist.

So war es mir möglich, auf das historische Holzgerüst zu steigen, auf dem Michelangelo arbeitete. Dort oben kam ich dem berühmtesten Motiv des Deckengemäldes, der Erschaffung Adams, so nahe, dass ich selbst einzelne Pinselstriche und Risse im Verputz ausmachen konnte. Und ich kann immer wieder zurückkehren, um den Ausführungen des digitalen Kunsthistorikers zu lauschen und mich in Details der Fresken zu verlieren: ohne stundenlanges Anstehen, ohne Gedränge, ohne den Schweißgeruch anderer Touristen in der Nase zu haben.

Virtuelle Reisen dieser Art sind in Zahl und Qualität begrenzt. Doch schreitet die Digitalisierung voran wie bisher, so wird man eines Tages weite Teile der Welt virtuell erkunden können. Googles und Apples Kartografierungfahrzeuge sind mit Lasersystemen ausgerüstet, die ihre Umgebung in 3D einscannen. Damit legten sie bereits Millionen von Kilometern zurück. Die räumlichen Daten fließen in die Verbesserung der firmeneigenen Kartendienste, lassen autonome Fahrzeuge unter realistischen Simulationsbedingungen trainieren und sind Baustein einer umfassenden 3D-Kartografierung der Welt.

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Das Wallace Arts Centre in Virtual Reality. | Bild: Realityvirtual.co

Mit der Virtual-Reality-App Google Earth VR kann man bereits den ganzen Erdball umrunden und in Sekundenschnelle zu jedem Ort der Welt flitzen.Zugleich werden Digitalisierungstechniken vereinfacht und einer größeren Zahl Menschen zugänglich gemacht. Für Fotogrammetrie braucht es keine Fachkenntnisse oder speziellen Geräte mehr: Mit der Smartphone-App Display.land erstellt man kinderleicht digitale Duplikate von Menschen, Objekten und ganzer Räume und teilt sie in sozialen Netzwerken. Das Startup will seine Plattform zu einer Art 3D-Instagram ausbauen, das zur schrittweisen 3D-Rekonstruktion der Welt beitragen soll. Das Unternehmen stellt lediglich die Infrastruktur.

Dass Interesse an solchen Inhalten besteht, beweist Sketchfab, die größte Onlineplattform für 3D-Objekte. Nutzer luden bislang mehr als drei Millionen handgefertigte 3D-Modelle hoch, darunter tausende in den Kategorien Architektur, Denkmäler und Sehenswürdigkeiten.

Man stelle sich vor, was eine 3D-Wikipedia, eine Wikipedia der Erfahrungen, leisten könnte, wenn jedes Objekt und jeder Ort jederzeit und von überall aus in dreidimensionaler Form zugänglich wäre. Zuerst auf dem Smartphone, später mittels fortschrittlicher VR- und AR-Brillen, die eine lebensechte Darstellung der 3D-Objekte und virtuelle Reisen ermöglichten. Das dürfte die Informationsvermittlung und das Lernen revolutionieren.

Dank der fortschreitenden Digitalisierung des Planeten werde ich mir die Welt früher oder später nach Hause holen, anstatt meine Körpermasse hunderte oder gar tausende Kilometer weit an einen bestimmten Punkt im Koordinatensystem zu transportieren. Schließlich ist es heute leichter, Bits als Atome zu bewegen, wie Facebook-Chef Mark Zuckerberg bei jeder sich bietenden Gelegenheit wiederholt. Das soziale Netzwerk investiert aus diesem Grund Milliarden US-Dollar in die 3D-Revolution und Zukunftstechnologien wie Virtual Reality und Augmented Reality. Könnte durch VR und AR eines Tages nur ein Teil der weltweiten Personenbeförderung reduziert werden, wäre damit schon einiges für das Klima und die Menschheit geleistet, argumentiert Andrew Bosworth, der Facebooks 3D-Zukunftsabteilung leitet.

Die Reiselust dürfte den Menschen trotz dieser neuen technischen Möglichkeiten zwar nicht vergehen. Für Flugzeigverweigerer und ökologisch Bewusste könnten sie jedoch eine Alternative werden, weit entfernte Orte kennenzulernen, ohne die Umwelt und das Portemonnaie übermäßig zu belasten.

Dieser Beitrag erschien am 21. Dezember 2019 unter dem Titel „Hiergeblieben!“ in der Schweiz am Wochenende und am 23. Februar 2020 in überarbeiteter und erweiterter Form bei MIXED.

Bei MIXED findet man außerdem eine von mir zusammengestellte Liste der besten Apps für VR-Reisen.