Wie ein VR-Spiel Gaming neu definiert

Until You Fall ist ein wichtiges, zukunftsweisendes VR-Spiel, weil es Spiel- und Körpererfahrung auf besonders geschickte Weise verknüpft.

Hier geht es Dämonen mit mittelalterlichen Waffen zu Leibe: Von Langschwertern und Rapieren über Dolche und Äxte bis hin zu Keulen und Faustwaffen. Und jede Waffe führt und schwingt sich anders. Im Kampf folgt man abwechselnd vorgegebenen Angriffsmustern, pariert, weicht Hieben aus und improvisiert in den Lücken.

Das Besondere an Virtual Reality als Spielemedium ist, dass Bewegungen zu Spieleingaben werden: Der Körper wird zum Controller. Vor dem Hintergrund dieser Metapher sieht man leicht, weshalb es schwierig ist, ein gutes VR-Kampfspiel zu entwickeln. Man muss etwas so Analoges und Lebendiges wie den menschlichen Körper mit dem starren, klar definierten Regelwerk eines Spiels vermählen. Until You Fall meistert diese Aufgabe.

Der vom Spiel gelenkte Schlagabtausch ist so gut gemacht, dass Körper und Spiel zu einer Einheit verschmelzen. Das Spiel führt kunstvoll, während der Körper zum Medium der Spielerfahrung wird. Das Ergebnis fühlt sich an wie die nächste Stufe des Gamings.

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Wenn Körper und Spiel verschmelzen. | Bild: Schell Games

In Until You Fall lernt man mit dem Körper statt nur mit dem Kopf: Man verinnerlicht Bewegungsabläufe, lernt, Manöver vorauszusehen, übt sich in verschiedenen Kampftechniken und wird währenddessen immer schneller und gefährlicher. Den eigenen Fortschritt mitzuerleben, ist beeindruckend.

Heutige VR-Technik ist unvollständig: Mit der VR-Brille im Gesicht steht man mit einem Fuß in der Virtual Reality, mit dem anderen in der Wirklichkeit. Das ist eine der größten Einschränkungen der Technologie, die sich zum Beispiel darin äußert, dass man sich nicht frei durch virtuelle Welten bewegen kann. Zumindest nicht mit dem eigenen, physischen Körper.

Gute VR-Spiele tragen diesem Umstand nicht nur Rechnung, sie begreifen ihn als Stärke, indem sie den Körper kunstvoll in die Erfahrung einbeziehen und diesen Konflikt zwischen digitaler und physischer Wirklichkeit so gut aufheben, wie es nur geht.

Until You Fall tut das und noch mehr, denn es zeigt, dass sich videospieltypische Feedback-Schleifen unter Einbezug des Körpers gewinnbringend in die Virtual Reality übertragen lassen. In dieser Einheit von Videospielmechanik und physischer VR-Erfahrung sehe ich den bislang überzeugendsten Beweis für Virtual Reality als Spielemedium erbracht, das die Tradition der Videospiele in einer neuen, körperlichen Dimension fortsetzt.

Until You Fall ist längst nicht perfekt. Man muss das Spiel gut kennen, um mit ihm zu verschmelzen, das heißt: mit seinem Körper darin aufgehen, ohne sich von den Grenzen der physischen Welt eingeschränkt zu fühlen. Und selbst dann ist es oft lückenhaft in seinem Versuch, eine Harmonie von Spiel und Körper herbeizuführen, die wirkliche Welt und dessen physikalische Grenzen vergessen zu lassen.

In jenen Momenten, in denen es gelingt, glänzen Until You Fall und Virtual Reality. Das lässt in eine Zukunft blicken, in der die Spielmechaniken der Virtual Reality jenen klassischer Monitorspiele in nichts nachstehen, im Gegenteil, zu dem werden, was sie vielleicht schon immer sein sollten: eine durch und durch reale, weil körperliche Erfahrung.

Dieser Beitrag erschien am 27. Dezember 2020 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

„Paper Beast“ – Traumhaft schöne Virtual Reality

Viele VR-Entwickler wollen die uns bekannte Welt abbilden und das möglichst realistisch. Doch weshalb eigentlich? Virtual Reality ist zu weit mehr in der Lage. Der französische Spieldesigner Éric Chahi beweist das mit Paper Beast. Zugegeben, ich kenne Chahis frühere Werke wie Another World, Heart of Darkness und From Dust nicht. Aber ich weiß, dass er das Gleiche für Videospiele ist wie Autorenfilmer fürs Kino: Er schafft eigenwillige Kunstwerke mit starker Handschrift. Und die sind selten. In den letzten dreißig Jahren schuf Chahi gerade mal vier große Spiele.

Mit Paper Beast wirft Chahi uns in eine Welt, die ganz anders ist als die unsere und weckt damit den Urzauber der Virtual Reality, deren Quelle die Faszination des Anderswo ist. Die VR-Brille ist plötzlich nicht mehr ein technisches Gerät, sie ist eine magische Brille, die in eine andere Dimension blicken lässt. Einfach nur sein und staunen: Paper Beast versetzt einen in den Urzustand menschlicher Existenz.

Man müsste ein Dichter sein, um diese Welt in Worte zu fassen. Sie besteht aus Wüsten, buntem Gewölk, Kristallen und Lebewesen, die an Origami-Figuren erinnern. Ein Woher, Wohin und Weshalb gibt es hier ebenso wenig wie ein explizites Spielziel oder Texte. Paper Beast spricht allein durch seine Welt. Die meiste Zeit begleitet man papierne Lebewesen durch das Ödland, entschlüsselt deren Absicht, hilft ihnen, wo nötig. Als Gegenleistung eröffnen sie neue Pfade. Visuell erinnert Paper Beast an Dalí-Gemälde, mit dem Unterschied, dass man hier ein lebendiges Ökosystem vor sich hat, das agiert und reagiert und eigenen Gesetzen folgt, mit denen man sich erst vertraut machen muss.

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Die Faszination des Fremden: Paper Beast. | Bild: Pixel Reef

Das Herzstück des Spiels ist eine beeindruckende Physiksimulation, die ich so noch in keinem anderen Spiel gesehen habe. Wasser bricht sich realistisch Bahn, friert ein und schmilzt unter dem Einfluss von Kälte und Hitze. Erde lässt sich aufschütten und reagiert auf äußere Kräfte, so wie man es erwarten würde. Lässt man eine Lehmkugel einen Erdhügel hinunterrollen, so wird sie größer.

Müsste ich einen passenden Begriff Paper Beast finden, so wäre es „nature porn“: Ich ertappe mich dabei, wie ich mich minutenlang am Spiel der Elemente und Physik ergötze. Im Sandbox-Modus kann man Gott spielen und sich dieser Lust uneingeschränkt hingeben, indem man Landschaften nach Belieben formt, Lebewesen hineinsetzt und beobachtet, wie das Ökosystem sein Gleichgewicht wiederherstellt.

Die Physiksimulation ist schön anzusehen und bildet die Grundlage der Spielmechanik. Müsste ich Paper Beast einem Spielgenre zuordnen, so würde ich es ein Physikrätselspiel nennen. Mal muss man Kreaturen über physische Hindernisse hinweg helfen, mal die Elemente nutzen, um Wege freizumachen.

Seine besten Momente aber hat Paper Beast in den ersten zwei Stunden, in denen es sich wie eine Natur- und Lebenssimulation und nicht wie ein Spiel anfühlt. Im späteren Verlauf wiederholen sich einmal eingeführte Rätselelemente und die Spielabläufe werden vorhersehbarer, sodass das spielmechanische Gerüst stärker hervortritt. Paper Beast wirkt dann konventioneller und greifbarer, was mit einer teilweisen Entzauberung seiner Welt einhergeht.

Paper Beast nutzt die Stärken der Virtual Reality nicht voll und ganz: Es bedarf keiner physischen Aktivität und die Handinteraktionen sind relativ simpel. Dennoch verstärkt die VR-Brille das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein, immens. Und genau darum geht es in Paper Beast.

Das Spiel ist eine Liebeserklärung an das Leben und das Lebendige. Es porträtiert die Natur, den rohen Überlebenskampf und die Zerbrechlichkeit des Daseins. Dank Virtual Reality steht man mittendrin und erfährt das Verhältnis zur Welt auf eine neue, unverstellte Weise. Keine Sorge: Paper Beast ist mehr als eine (existenzielle) Erfahrung. Es besitzt Spielmechaniken und Rätsel, von denen es lebt, aber sie sind abstrakt und unaufdringlich, weil sie auf natürliche Weise der Physiksimulation und den Elementen dieser Welt entspringen. Lösungen wirken nur selten gekünstelt oder weit hergeholt.

Visuell und klanglich ist die Welt eine Wucht. Virtual Reality ist das sinnlichste aller Medien und genau das richtige Gefäß für ein Spiel wie Paper Beast. Das Abenteuer dauert wenige Stunden. Danach bleibt einem der Sandbox-Modus, in dem man nach Lust und Laune mit Götterkraften experimentieren kann. Paper Beast lässt sich jedoch nicht in Spieldauer messen, seine größte Stärke ist die Einzigartigkeit. Wer etwas Außergewöhnliches in VR erleben will, wird hier reich beschenkt.

Dieser Beitrag erschien am 02. August 2020 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

Weshalb Virtual Reality nicht Virtual Reality ist – und das gut ist

Virtual Reality hat viele Einschränkungen und sie haben fast alle damit zu tun, dass Virtual Reality gar nicht Virtual Reality ist. In Wirklichkeit ist sie nur zu Teilen virtuell: Man denke an den eigenen Körper und den physischen Raum, der uns umgibt und daran hindert, dass wir uns frei durch virtuelle Welten bewegen. Die Sci-Fi-Vorstellungen eines vollkommenen sensorischen Eintauchens: Mit heutiger Technologie haben sie nicht viel zu tun.

Die ermöglicht eher eine Mixed Reality: Während man sich in sie begibt, trägt man stets zwei Realitäten Rechnung, der digitalen und physischen und ist in keiner ganz zu Hause. Das ist eine grundlegende und unvermeidbare Gegebenheit der Technologie.

Als der jüngste Hype um Virtual Reality ins Rollen kam, sprachen viele von der Matrix als Endziel. Knapp zehn Jahre tragen wir noch immer einen wuchtigen Computer im Gesicht, der uns visuell und klanglich suggeriert, wir wären woanders, während wir in Wirklichkeit in der eigenen Wohnung herumspringen.

Oculus_Quest_Spieler

Nun glauben manche Leute, dass sich die Lücke zwischen der physischen und digitalen Welt nach und nach schließen wird. Es braucht nur bessere Riechmasken, Haptikanzüge und Laufmaschinen und schon sind wir in der Matrix angekommen. Doch Berge an technischem Schnickschnack werden nichts daran ändern, dass wir Teil der physischen Realität sind und der menschliche Wahrnehmungsapparat sich nicht so einfach austricksen und durch eine Computersimulation ersetzen lässt.

Jedenfalls nicht mit analoger Technik. Die reicht für eine Annäherung an eine alternative Realität, ein Guckloch in fremde Welten. Totale Suggestion wäre wohl nur mit einer Hirnschnittstelle denkbar und die ist und bleibt Science-Fiction. Definiert man Virtual Reality als vollkommenes sensorisches Eintauchen, dann muss Technologie zwangsläufig hinter diese Sci-Fi-Vorstellung zurückfallen – und enttäuschen.

Man kann sie aber auch mit einem bescheideneren Anspruch versehen und anders verstehen, zum Beispiel als ein Medium, das den Körper einbezieht und zwar weit über das Maß anderer technischen Medien hinaus. Von dieser Warte aus betrachtet, ist die Verwurzelung der Virtual Reality in der physischen Welt als eine Stärke und Neuheit und weniger als technische Einschränkung begriffen. Als Körpermedium aufgefasst, trägt sie nicht nur zur Gesundheit bei. Sie ermöglicht auch neue, noch unbekannte Formen des Ausdrucks und des Erlebens, ohne die Erfordernis, sich unseres Körpers und der physischen Welt zu entledigen.

Dieser Beitrag erschien am 28. Juni 2020 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

Videokonferenz in der dritten Dimension

Mitte März, auf dem Höhepunkt der Coronakrise, lud der Smartphone-Hersteller HTC zu einer Konferenz. Mehrere hundert Teilnehmer trafen sich und saßen dicht an dicht auf einer halbkreisförmigen Tribüne, um den Worten des neuen CEOs Yves Maitre zu lauschen. Die Gesellschaft fand sich unter strahlend blauem Himmel ein und genoss die Sicht auf die Golden Gate Bridge.
Es war eine außergewöhnliche Veranstaltung, und das nicht nur der Begleitumstände wegen. Denn es war die erste große Konferenz eines Unternehmens, die komplett in Virtual Reality stattfand. Menschen aus aller Welt hatten sich in der Quarantäne eine VR-Brille aufgesetzt und sich in ein virtuelles San Francisco gebeamt. Angst vor dem Coronavirus? Fehlanzeige. Im virtuellen Raum besteht keine Ansteckungsgefahr.

Der einstige Smartphone-Gigant HTC stellt seit 2016 auch VR-Brillen her und sieht in der Coronakrise eine Riesenchance für Virtual Reality. Videokonferenzen gehören seit der Quarantäne zum Alltag vieler Menschen und könnten den Arbeitsplatz in Zukunft stärker prägen, als man bis vor kurzem gedacht hätte. Technisch aber liegt noch mehr drin. Ein Nachteil von Skype, Zoom, Teams und Co. ist, dass sie das Nonplusultra der Kommunikation, das Gespräch von Angesicht zu Angesicht, nur unvollständig simulieren können. Die Webkamera fängt nur einen Teil menschlicher Ausdrucksmittel ein und das soziale Miteinander ist ein anderes, wenn es durch einen Monitor vermittelt wird.

Genau hier soll Virtual Reality helfen. Die Technologie wird als Distanzvernichterin vermarktet, als Heim-Teleporter, der Nutzer in Bits und Bytes verwandelt und mühelos binnen Sekunden überallhin gebracht, um Menschen beinahe leibhaftig zu begegnen, ohne Gefahr einer Ansteckung. Wenn jetzt nicht die Stunde der Nischentechnologie Virtual Reality geschlagen hat, wann dann?

Tatsächlich sind seit Beginn der Coronakrise viele VR-Brillen immer wieder ausverkauft oder nur schwer lieferbar, was teils auf die Nachfrage, teils auf die in Stocken geratene Fließbänder chinesischer Fabriken zurückzuführen ist. Laut Facebook, einem führenden Hersteller von VR-Brillen, nahm die VR-Nutzung während der Quarantäne durch die Bank zu. Ein Großteil dieser Aktivität entfiel auf Dinge, die Menschen während der Isolation vermissten: Sie trieben Fitness in VR und nutzten soziale Apps, die es erlauben, sich mit anderen Menschen virtuell zu treffen – zum Spielen, Plaudern oder Filmeschauen.

Spatial

Die App Spatial ermöglicht 3D-Konferenzen.

Zu einer ernsthaften Alternative für Skype, Zoom und Teams sind die VR-Brillen nicht geworden, obwohl entsprechende Apps in den vergangenen Monaten wie Pilze aus dem Boden schossen. Eine der vielsprechendsten Anwendungen für VR-Meetings heißt Spatial. In ihr können sich Nutzer in virtuellen Sitzungsräumen treffen, Dokumente austauschen und auf Whiteboards schreiben. Wer keine VR-Brille besitzt, kann sich mit dem Smartphone oder Desktop-Computer teilnehmen. Nestlé, Pfizer und BNP Paribas gehören zu den Unternehmen, die Spatial bereits einsetzen.

Eine gute Alternative ist die auf Lernen und Zusammenarbeit spezialisierte VR-Plattform Engage, auf deren Grundlage die HTC-Konferenz durchgeführt wurde. Wer eine kostenlose, besonders einfache und mit fast allen VR-Brillen kompatible Lösung sucht, findet sie im Open-Source-Projekt Mozilla Hubs. Die Software lässt sich auf Firmenservern installieren und betreiben und ist deshalb besonders sicher.

Dass sich Spatial und Co. vorerst nur schwerlich im Arbeitsalltag durchsetzen dürften, liegt an den VR-Brillen. Die Geräte sind noch zu unbequem und zu kompliziert in der Handhabe – genau das, was sie nicht sein dürfen, sofern sie sich gegen Videokonferenzen behaupten wollen.

Hinzu kommt der hohe Anschaffungspreis und eine Technik, die lediglich Kopf- und Handbewegungen sowie die Stimme erfasst und in die Virtual Reality überträgt. Trifft man sich mit der VR-Brille, so hat man annähernd das Gefühl, mit einem Menschen im gleichen Raum zu stehen, es fehlen jedoch Mimik und feine Gestik. Die Folge: Das ohnehin meist nur comichaft dargestellte Gegenüber wirkt eher wie eine Marionette als ein Mensch aus Fleisch und Blut.

Wenn selbstverständliche Dinge wie Notizen machen, auf der Tastatur schreiben und das Smartphone bedienen, schwierig bis unmöglich werden, weil man eine VR-Brille auf der Nase sitzen hat, ist klar, wie tief Virtual Reality noch in den Kinderschuhen steckt.

Das könnte sich ändern. Facebook sieht in Virtual und Augmented Reality die Zukunft der Kommunikation und Arbeit und tüftelt mit Hochdruck an Technologie für fotorealistische Avatare, die Augenbewegungen, Mimik und selbst feinste Fingerbewegungen erfasst und Menschen verlustfrei in den virtuellen und digital erweiterten Raum bringt. Mit hoch technisierten Brillen soll man eines Tages digitale Bildschirme frei im Raum verankern und per Sprach-, Blick- und Gestensteuerung bedienen können. Adieu, Maus und Tastatur.

Menschen sollen sich unabhängig von ihrem realen Standort jederzeit virtuell treffen und zusammenarbeiten können. Wo man wohnt, soll durch die eigene Präferenz und nicht mehr durch den Arbeitsweg bestimmt werden. Das soziale Netzwerk geht hier mit gutem Beispiel voran und kündigt an, dass es in den nächsten fünf bis zehn Jahren etwa der Hälfte seiner aktuell knapp 50.000 Angestellten erlauben will, dauerhaft von zu Hause aus zu arbeiten. Virtual und Augmented Reality sollen helfen, diese Vision umzusetzen.

Bis dahin ist es allerdings ein weiter Weg. So weit, dass man sagen kann, die Coronakrise wäre ein Jahrzehnt zu früh gekommen, um Virtual Reality zum Durchbruch zu verhelfen. Denn technisch muss noch viel passieren, bis das Sitzungszimmer 2.0 so funktioniert, wie es sich die Silicon-Valley-Visionäre erträumen.

Dieser Beitrag erschien am 20. Juni 2020 in der Schweiz am Wochenende.

Kann Virtual Reality das Unbeschreibliche darstellen?

Eines Tages, so spekuliert der Historiker und Podcaster Dan Carlin, werde man Erfahrungen abspeichern können. In die Geschichtsbücher würden dann neben Texten, Bildern und Filmen auch Erlebnisse eingehen. Doch was genau vermittelten diese Erfahrungen?

Die VR-Erfahrung War Remains wird als „immersive Erinnerung“ beschrieben. Erinnert wird der Schrecken des Ersten Weltkriegs. In einer Reihe kurzer, ausschnitthafter Szenen erleben wir die grausamsten Facetten des Grabenkriegs: den fast schon sicheren Tod auf zerbombten Schlachtfeldern, den unablässigen Artilleriebeschuss und Giftgasangriffe. Begleitet wird die Erfahrung von der eindrucksvollen Stimme und teils wortgewaltigen Beschreibungen Dan Carlins, der mit seinem Podcast Hardcore History nicht von ungefähr ein Millionenpublikum gefunden hat.

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Während wir im Korb eines fragilen Zeppelins durch undurchdringliches, graues Sturmgewölk fliegen, erklärt Carlin, was den Ersten Weltkrieg einzigartig macht: Er markierte den historischen Augenblick, in dem die romantischen Kriegsvorstellungen des 19. Jahrhunderts auf die beginnende industrielle Kriegsführung des 20. Jahrhunderts prallten. U-Boote, Flugzeuge, Panzer, schwere Artillerie: Die Soldaten, die in den Ersten Weltkrieg zogen, mussten angesichts all dieser stählernen, motorisierten Kriegsgeräte das Gefühl gehabt haben, in einen Jules Verne-Roman geraten zu sein, sagt Carlin.

War Remains lebt von solchen Beschreibungen und Einordnungen. Der historische Kontext kommt jedoch zu kurz und wahrscheinlich mit Absicht. Wer weshalb Krieg führt: Diese Frage gerinnt in der grausamen Realität des Schützengrabens zu einer abstrakten Idee, die für die Soldaten ebenso wie für uns keine Rolle spielt. Die kurze VR-Erfahrung kann und will den Krieg nicht erklären. Sie will ihn stattdessen – zumindest ein kleines Stück weit – erfahrbar machen. Ob sie das in angemessener Art macht, darf angezweifelt werden: War Remains verzichtet auf leise Töne und kommt im Gewand eines hochästhetisierten Hollywood-Spektakels, das allzusehr auf die Wirkung von Schützengrabenklischees vertraut.

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Dass die Szenen trotz ihrer Überinszenierung und technisch nicht immer einwandfreien Umsetzung unter die Haut gehen, verdankt sich ihrem heftigen Material und der Art, wie sie erlebt werden: durch die VR-Brille. Aus dem Medium hätte man dennoch mehr herausholen können. War Remains erlaubt weder Interaktion noch Fortbewegung. So hat man eher das Gefühl, ein unbeteiligter Geist zu sein, als ein Soldat, dem befohlen wird, aus dem Schützengraben zu springen und in Richtung des gegnerischen Mündungsfeuers zu laufen.

In einer anderen Szene finden wir uns in einem Unterschlupf wieder und erleben heftigen Artilleriebeschuss. Während des Kriegs konnte dieses Bombardement ganze Tage und Nächte andauern und traumatisierte Soldaten bis an ihr Lebensende. In der Virtual Reality sind wir ihm nur ein oder zwei Minuten ausgesetzt.

Dass War Remains die Kriegserfahrung nur ungenügend einfangen und nur eine ungefähre Vorstellung von deren Grausamkeit vermitteln kann, darf man der VR-Erfahrung nicht anlasten. Schließlich ist sie konsequenzlos wie jedes andere Medium. VR-Brille ab, alles gut. Carlin zitiert an mehreren Stellen Augenzeugenberichte, etwa jene des britischen Künstlers Paul Nash, der seine Kriegserfahrungen in eindrücklichen Gemälden und Worten zu verarbeiten suchte, wohlwissend, dass sie im Grunde unbeschreiblich sind.

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Wenn Bilder und Texte versagen: Was bleibt dann vom Krieg in einem, nach dem man War Remains erlebt hat? Was lernen wir aus einer solchen Erfahrung, was uns die Geschichtsbücher nicht lehren könnten? Gemälde, Texte, Musik und Filme: Sie müssen als Medien und Werke für sich stehen und können mit Worten nicht vollends ausformuliert werden, ohne dass man ihre Eigenheit dabei zerstörte. Das Gleiche gilt für Virtual Reality und VR-Erfahrungen. Sie stellt eine eigene Kategorie des Wissens dar, die sich nicht vollständig in Worte übertragen lässt.

Müsste ich den Inhalt und die Wirkung dieser VR-Erfahrung dennoch in Worten beschreiben, so würde ich sagen, dass War Remains besser als alle anderen Medien die volle Tragweite der Sinnlosigkeit dieses Kriegs vor Augen führt. Nicht in einem abstrakten, philosophischen Sinne, sondern ganz konkret: Der Erste Weltkrieg degradierte Menschen in einer noch nie dagewesenen Dimension zu Kriegsmaterial, das nicht mehr wert war als Kugeln, Bomben und Giftgas und dem Feind blind und ohne Aussicht auf dauerhaften Erfolg entgegengeworfen wurde. Selten erschien der Tod so sinnlos und der Wert des Lebens so gering wie hier und War Remains ruft diese menschliche Verrohung warnend in Erinnerung.

Dieser Beitrag erschien am 24. Mai 2020 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.