Was den Künstler auszeichnet, ist der Zweck seines Tuns: Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der Rezipient entdecke. Was den Rezipienten auszeichnet, ist der Zweck seines Tuns: zu entdecken.
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§ 126. Der Künstler als Arrangeur einer ästhetischen Form des Lebens
Jede Entdeckung ist Vollzug und jeder Vollzug ist dadurch Vollzug, dass ihm das Leben als dasjenige zugrunde liegt, was schlechthin Vollzug ist. Deshalb ist jeder Vollzug eine Form des Lebens, aber auch die Kunst ist Vollzug und daher ebenfalls eine Form des Lebens, und zwar eine der Schönheit verpflichtete ästhetische Form des Lebens. Diese besteht in der Entdeckung, darin, dass man den Möglichkeitsraum der Verhältnisformen durchmisst, den Geist und Welt eröffnen, dass man des Lebens teilhaftig wird in noch unentdeckten Bestimmungsvollzügen des Geistigen, Sinnlichen und Wirklichen. Der Künstler kann folglich als der Arrangeur einer ästhetischen Form des Lebens aufgefasst werden, die man Kunst nennt.
§ 127. Künstlertum, Rezipiententum
Der Künstler geht darin auf, dass er vermöge der Welt als eines Gegenstands für andere eine ästhetische Form des Lebens arrangiert, der Rezipient geht darin auf, dass er vermöge seines Geistes und für sich eine ästhetische Form des Lebens vollzieht. Der Zweck eines Bestimmungsvollzugs besteht letzten Endes darin, den Gegenstand, den das Kunstwerk bereitstellt, mit dem Geist zu durchdringen, dergestalt, dass aus dem Bestimmungsvollzug heraus etwas entsteht, das im Geist als einem nicht verobjektivierbaren Subjektiven aufgeht und das als eine letzte, unaussprechbare Erfahrung weder weitergegeben werden will noch weitergegeben werden kann.
§ 128. Weshalb das Lebenswerk kein Kunstwerk ist
Dies ist auch bei der Zehnten Kunstform der Fall, denn selbst wenn sich der Geist in Gestalt eines Lebenswerks materialisiert, die Bedeutung dieser Materialisation liegt in der hierbei gewonnenen Erfahrung des Geistes, die eine rätselhafte Tiefe offenbart, in der ihr eigentlicher Wert besteht. Das Lebenswerk kann aber auch aus deshalb nicht als Kunstwerk gelten, weil der Künstler stets auf einer ontologisch höheren Ebene als das Kunstwerk operieren muss. Gerät er auf dieselbe Ebene und damit in sein eigenes Kunstwerk hinein, so verliert er damit notwendig einen bedeutenden Teil jener Bestimmungsmacht, die ihm als Künstler zukommt. So gesehen ist der Künstler für das Kunstwerk, was ein Gott für die Welt ist. Der Mensch hat keinen Einfluss auf die Welt als ein System der Gesetze und zuweilen nicht einmal auf sein Schicksal.
§ 129. Die Welt als Kunstwerk
Auch dem Künstler kommt immer noch dieselbe Aufgabe in demselben Maße zu: Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass man entdecke. Diese sind Ergebnis einer großen Zahl kritischer Bestimmungen, denn ein Kunstwerk ist nichts anderes als die Einheit eben solcher Bestimmungen, sofern solche den Zweck haben, Voraussetzungen für die Entdeckung eines Wahren, Schönen oder Guten zu schaffen. So gesehen zeichnet sich der Künstler durch seine Befähigung aus, diese Bestimmungen zu vollziehen. Dass dem Demiurgen dieselbe Aufgabe in demselben Umfang zukommt, bedeutet nun, dass die Zahl und der Anspruch gestalterischer Bestimmungen, der ein solches weltgewordenes Kunstwerk bedarf, nicht kleiner geworden sind. Was der Demiurg erschafft, ist eine gegebene Welt als die Einheit eines Wirklichen und Sinnlichen. Er schafft also nicht bloß die Gesetze einer Welt, sondern hat zugleich für deren sinnlich vermittelte Gestalt zu sorgen, eine Weltarchitektur. Der Erzählung kommt in einem solchen Kunstwerk ein neuer Ort zu. Sie würde zu einem abstrakten Strukturprinzip, das für ein bestimmtes Gefüge von Raum und Zeit und für ein Universum geordneter Umstände sorgt.