Die halbrunde Felsformation ragt hell leuchtend aus dem unbewegtem Gewässer. Ein Holzboot mit zwei Figuren schwebt geräuschlos zu einer kleinen Hafeneinfahrt. Die hintere Figur rudert, die vordere steht vor einem quer gelagerten, mit Blumen geschmückten Sarg und blickt, ganz in weiße Tücher gehüllt, zu dem einsamen Eiland und dem undurchdringlichen Dunkel der Zypressen, die in den dämmernden, sturmbewegten Himmel ragen.
Arnold Böcklins „Toteninsel“ gehört zu den bekanntesten Sujets der Malerei. Der Schweizer Künstler malte zwischen 1880 und 1886 fünf Fassungen des Motivs, die sich in Komposition und Farbgebung leicht unterscheiden. Einige der Gemälde haben eine bewegte Geschichte: Die dritte Fassung war eine Zeit lang im Besitz von Hitler und hängt heute in der Alten Nationalgalerie in Berlin, während die vierte während des Zweiten Weltkriegs zerstört wurde. Von ihr existieren heute nur noch Schwarzweißfotografien.
Die dritte Fassung von Arnold Böcklins „Toteninsel“ (1883).
Die Gemälde haben seit ihrer Entstehung unzählige Menschen in Bann gezogen. Deren Faszination verdankt sich neben der Anmut und Erhabenheit ihres Motivs auch dem Umstand, dass sie ihre Bedeutung nicht preisgeben. Der Schweizer Kunsthistoriker Franz Zelger sieht in den Bildern ein Symbol für die Einsamkeit des Genies und glaubt, dass Böcklin seine eigene Entrückung ins Reich der Toten gemalt hat.
Dass die Kunstwerke so geheimnisvoll wirken, liegt nicht zuletzt am Zypressenhain, an dem der Blick wie an einem schwarzen Vorhang abprallt. Was sich dahinter verbirgt, verschließt sich dem Betrachter, so wie das Totenreich selbst.
Vermutlich ist es gerade dieses Mystische, das beim Betrachter den Wunsch wach werden lässt, diesem Eiland selbst einmal entgegenzufahren, den Fuß auf die Insel zu setzen und mit eigenen Augen zu sehen, was sich hinter den Zypressen und in den Räumen verbirgt, die in den Felsen gehauen wurden.
Mehr als 130 Jahre nach der Entstehung der fünften und letzten Fassung wird dieser Traum demnächst in Erfüllung gehen: Das vierköpfige Entwicklerteam der Schweizer DNA Studios übertrug Böcklins dritte Fassung aus dem Jahr 1883 in ein originalgetreues 3D-Modell. Diesen Herbst soll man mit Hilfe einer VR-Brille in das Gemälde hineinsteigen und eine Reise zur Toteninsel antreten können.
Das dreidimensionale Gegenstück wurde auf der Grundlage hochauflösender Scans der Originalwerke in mühevoller Kleinarbeit angefertigt. „Es ist ein bisschen, als würde man ein altes Gemälde digital restaurieren“, sagt der Projektleiter Martin Charrière und fügt hinzu, dass jene Bereiche der Insel, die auf Böcklins Bild nicht zu sehen sind, von seinem Team ergänzt wurden.
Die VR-Rekonstruktion der dritten Fassung. | Bild: DNA Studios
Die Idee, klassische Kunstwerke der Malerei in die Virtual Reality zu übertragen, ist keinesfalls neu. Bislang wurden unter anderem Werke von Vermeer und Manet in das neue Medium überführt. Einige Umsetzungen halten sich sehr genau an ihre Vorlage, andere verstehen sich als freie Interpretation.
In einer Hommage an Van Gogh kann man sich wie ein Gast in dessen „Nachtcafé“ umtun und in einem Nebenraum sogar dem Künstler selbst begegnen. Oder man betritt Leonardo Da Vincis „Mona Lisa“ und sieht die berühmte Dame höchstpersönlich vor sich sitzen.
Mittlerweile haben Auktionshäuser und Kunstmuseen Virtual Reality für sich entdeckt und nutzen die Technologie für Marketingzwecke. So ließ Sotheby’s vor einer Auktion Werke 3D-Fassungen feilgebotener Kunstwerke anfertigen, die von Bietern vor der Versteigerung virtuell betreten werden konnten und seit Anfang 2016 können sich Besucher des Dalí-Museums in eine der Traumwelten des Surrealisten hineinbegeben.
„Wir wollen das Kunsterlebnis erweitern, sei es um traditionelle Mittel wie Texttafeln, Audiokommentare und Museumsführungen oder moderne Technologie wie Virtual-Reality-Erfahrungen“, sagt die Sprecherin des Museums Kathy Greif. All diese Elemente würden auf ihre Weise etwas zum Verständnis des Kunstwerks beitragen.
Tristan Weddigen, Professor für Kunstgeschichte an der Universität Zürich, sieht derartige Versuche kritisch. Er fürchtet, dass die Originale durch ihre Überführung in 3D-Erlebnisse eine Entwertung erfahren könnten: „Die Gefahr besteht darin, dass das Originalwerk für sich allein als unzulänglich wahrgenommen werden könnte.“ Letztlich müsse man sich fragen, worin der Mehrwert an Erkenntnis bestehte.
Der Schweizer Kunstwissenschaftler Felix Thürlemann sieht zwar Potenzial in professionellen 3D-Visualisierungen, die VR-Projekte seien jedoch eher als „Spielerei“ zu bewerten, die der Vermarktung von Kunst dienen und für Kunsthistoriker keinen zusätzlichen Erkenntniswert bieten.
Für Simon Baier, der in Böcklins Heimatstadt Basel Kunstgeschichte unterrichtet, stellt sich die Frage nach dem zusätzlichen Erkenntniswert gar nicht erst. „Ich denke, dass es falsch wäre, eine Übertragung in die Virtual Reality als Klärung, Verbesserung oder Verstärkung einer Kunstwerks zu beschreiben“, sagt Baier. „Jedes Kunstwerk ist in einem ganz bestimmten Medium hergestellt und an dessen Einschränkungen gebunden. Man erfährt also nicht mehr oder weniger, wenn man ein Kunstwerk in einem anderen Medium betrachtet, sondern man erfährt einfach etwas ganz anderes.“
Laut Baier lassen sich Kunstwerke unterschiedlicher Medien also nicht direkt vergleichen. Stattdessen müsste jedes Kunstwerk an der Erfahrung gemessen werden, die es innerhalb der Grenzen seines eigenen Mediums ermöglicht. Die VR-Adaption eines Gemäldes tritt folglich nicht in einen Wettbewerb zu ihrem „Original“, sondern muss für sich betrachtet werden. Ansonsten tut man beiden Werken Unrecht.
Die VR-Rekonstruktion von Jan Vermeers „Briefleserin am offenen Fenster“ | Bild: Art Plunge
3D-Umsetzungen klassischer Gemälde haben also durchaus eine Existenzberechtigung, sofern sie eine einzigartige Erfahrung ermöglichen. Dass neue Medien Inhalte und Sujets etablierter Kunstformen aufgreifen und in etwas Neues verwandeln, ist nichts Ungewöhnliches und eines der Grundmerkmale der Mediengeschichte. Auf diese Weise erforschten Künstler seit jeher die Möglichkeiten und Grenzen neuer Medien.
Im Falle von Böcklins Motiv und dessen 3D-Umsetzung stellt sich eine interessante Frage. Man nehme einmal an, dass die Toteninsel, wie eingangs beschrieben, gerade deshalb so fasziniert, weil sie ein undurchdringliches Geheimnis umgibt. Würde diese Bilderfahrung nicht zerstört, wenn man die Möglichkeit erhält, die Insel in der Virtual Reality zu betreten? Und wenn ja, was tritt an deren Stelle?
Ich erhielt von den Entwicklern Gelegenheit, die VR-Erfahrung auszuprobieren und die Reise zur Toteninsel anzutreten. In der letzten Sequenz wird man in den Körper der weißen Figur versetzt und schwebt auf dem Ruderboot zum Eiland, betritt die Hafeneinfahrt und gleitet an den Zypressen vorbei in einen ebenso tiefen wie finsteren Raum, der schließlich alles Licht verschluckt.
Die VR-Erfahrung wiederholt also Böcklins Bilderfahrung mit eigenen Mitteln: Das Totenreich, so erfährt man, ist dem menschlichen Zugriff entzogen und kann nicht gezeigt werden kann. Die Toteninsel bewahrt ihr Geheimnis. Auch hier, auch in der Virtual Reality.
Dieser Beitrag erschien am 23. September 2017 unter dem Titel „Ölgemälden Leben eingehaucht“ in der Schweiz am Wochenende und am 27. September 2017 in überarbeiteter und erweiterter Form bei MIXED.