Facebook ist tot, es lebe Meta!

Facebook ist das meistgehasste Unternehmen der Welt. Diesen Eindruck bekomme ich, wenn ich die Presseartikel der letzten zwei Wochen lese. Unvorstellbar, dass es eine Zeit gab, in der Facebook hip und Mark Zuckerberg ein gefeierter Unternehmer war.

Facebooks moralischer Fall geschah nicht von heute auf morgen. Wer Steven Levys Facebook-Historie „Weltmacht am Abgrund“ gelesen hat, weiß, dass das Unternehmen von Anfang nur nach aggressivem Wachstum strebte. Privatsphäre, Datenschutz und gesellschaftliche Auswirkungen sind nachrangig.

Die Enthüllungen der Whistleblowerin Frances Haugen und die Facebook Papers: So traurig diese jüngsten Armutszeugnisse Facebooks auch sind, sie sind nur ein weiteres Kapitel in einer endlosen Reihe von Skandalen und Grenzüberschreitungen, denen weitere folgen dürften, solange Facebook an seinem Geschäftsmodell festhält.

Keine Überraschung also, dass Facebooks Umbenennung und Neuausrichtung auf das Metaversum mit besonders viel Schrecken und Häme aufgenommen wurde. Erneut wurde eimerweise Verachtung über Mark Zuckerbergs Haupt gegossen, insbesondere seitens der Internetgemeinschaft, die sich mit einer Flut von Memes über den Facebook-Gründer und seine Metaverse-Pläne lustig macht.

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Mark Zuckerbergs Metaverse-Vision greift weit in die Zukunft und vieles von dem Gezeigten dürfte in der Form niemals Wirklichkeit werden, egal, wie gut die Technologie eines Tages wird. | Bild: Meta

Doch bei all dem Spaß sollte man eines nicht vergessen: dass Zuckerbergs Plan aufgehen könnte. Der ehemalige Harvard-Student ist ein gewiefter Unternehmer, der Facebook schon durch viele Krisen geführt hat. Seine Verbissenheit und sein Gespür für Trends und Marktentwicklungen könnten auch hier wieder zum Erfolg führen.

Bei aller Verachtung für Zuckerbergs Methoden: unternehmerisches Genie kann man ihm nicht absprechen. Wie oft hat die Öffentlichkeit Facebooks Produkte belächelt, um später eines Besseren belehrt zu werden?

Zuckerbergs bislang größter und gefährlichster Fehler war, die Smartphone-Revolution zu verschlafen. Doch wie so oft ging das Unternehmen gestärkt aus der Krise hervor und Facebooks Anzeigengeschäft explodierte dank der neuen allgegenwärtigen Plattform. Zuckerberg verwandelte das Smartphone in einen weiteren Steigbügel auf dem Weg zur Weltmacht Facebook.

Mit seinem Metaverse-Plan will Zuckerberg ein weiteres, folgenschweres Versäumnis dieser Größenordnung vermeiden. Agieren statt reagieren. Es wäre falsch, in dieser Vision nur ein Ablenkungsmanöver oder Lippenbekenntnis zu sehen. Metas Zahlen belegen das: Das Unternehmen steckte allein in diesem Jahr 10 Milliarden US-Dollar in die Entwicklung von Metaverse-Technologien. 10.000 Angestellte arbeiten bereits an VR und AR und in Europa sollen noch einmal so viel Fachkräfte rekrutiert werden.

Die Kühnheit von Zuckerbergs technologischer Wette ist enorm: Floppt die große Metaverse-Vision, könnte sie das Ende Metas bedeuten. Bewahrheitet sie sich, wäre sie Zuckerbergs bislang größter Streich. Dazwischen gibt es nicht viel.

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Meta arbeitet an ultrarealistischen Avataren, sogenannten Codec Avatars. | Bild: Meta

Die Zukunft des Metaversums: Sie wird bestimmt anders aussehen, als es sich Zuckerberg vorstellt. Zum Glück! Seine Metaverse-Fantasien sind weder neu noch besonders originell. In der Masse ankommen und gedeihen dürften das Metaversum und die zugrundeliegenden Technologien ohnehin nur dann, wenn sie das Leben sinnvoll ergänzen statt ersetzen.

Ich sehe keine Sci-Fi-Dystopie auf uns zukommen, in der die Gesellschaft sich vollends in virtuelle Welten verabschiedet. Zumindest nicht mit einer Technologie, die wir uns auf die Nase setzen. Hirn-Computer-Interfaces, die Matrix-gleiche Immersion ermöglichen: Das halte ich für eine Herausforderung des nächsten Jahrhunderts, wenn überhaupt.

Zuerst muss die aktuelle Technik reifen, die immer noch in den Kinderschuhen steckt. Virtual Reality und Augmented Reality sind heute vergleichsweise primitiv. Sie massentauglich zu machen, ist eine Herkulesaufgabe, die Meta fast allein stemmen muss. Google, Apple, Amazon und Microsoft: Sie forschen zwar an VR und AR, aber setzen andere Schwerpunkte wie Künstliche Intelligenz, smarte Alltagstechnik und Cloud-Infrastruktur.

Nur Meta setzt uneingeschränkt auf VR und AR und ist dafür bereit, die Technologien unter Aufwendung aller zur Verfügung stehenden Mittel in den Massenmarkt zu wuchten mit der Hoffnung, eines Tages die Bedingungen des Markts zu diktieren, wie Google und Apple es heute beim Smartphone können.

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Die Ray-Ban Stories, eine Sonnenbrille mit Kamera und Lautsprechern, die Meta in Kooperation mit Ray-Ban entwickelt – in Vorbereitung auf eine AR-Brille. | Bild: Meta / Ray-Ban

Wenn sich die übrigen Konzerne weiter in Zurückhaltung üben, wird Meta das technologische Wettrennen gewinnen. Doch für einen anhaltenden Erfolg muss das Unternehmen eine weitaus schwierigere Aufgabe meistern: Es muss das Vertrauen in die eigene Marke wiederherstellen.

Das kann Meta nur, wenn es den Datenschutz zur obersten Priorität erklärt und neue Geschäftsmodelle entwickelt. Naheliegend sind ein Metaverse-Marktplatz und Hardware-Verkäufe. Meta hat eine radikale Kehrtwende in Sachen Datenschutz angedeutet, doch Skepsis ist angebracht. Wenn die Öffentlichkeit etwas über Facebooks Geschäftsgebaren gelernt hat, dann dessen Rücksichtslosigkeit. Metas Wandel, wenn er denn stattfindet, wird viele Jahre dauern.

Wir leben in einer technologisch spannenden Zeit. Seit geraumer Zeit hört man, dass Virtual und Augmented Reality verändern könnten, wie Menschen mit Computern und der Welt interagieren. Bald werden wir erfahren, ob dem wirklich so ist. Denn niemals zuvor wurde in so kurzer Zeit so viel investiert, um die grundlegenden Probleme der Technologie zu lösen. In den nächsten fünf bis zehn Jahren wird sie sich am Markt etablieren – oder mit Meta in der Versenkung verschwinden.

Technologische Revolutionen sind keineswegs selbstverständlich. Sie sind, mit den Worten des Oculus-Chefarchitekten Atman Binstock, das Ergebnis harter Arbeit seitens Erfinderinnen und Erfinder, „die zur richtigen Zeit an den richtigen Problemen arbeiten.“ Dazu bedarf es massiver Investitionen in die Grundlagenforschung, die in diesem Umfang derzeit nur Meta zu leisten bereit ist.

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Die VR-Brille Quest 2. | Bild: Meta

Die Quest 2 ist für mich das außergewöhnlichste Gadget der letzten Jahre, eine technische Meisterleistung und ein rundum gelungenes Produkt, das auf dem Markt seinesgleichen sucht. Das macht Meta in meinen Augen schon jetzt zum innovativsten Techkonzern. Mir fällt keine andere technische Neuheit seit dem Smartphone ein, die so faszinierend ist und Unterhaltung, Arbeit und Kunst dermaßen revolutionieren könnte wie VR und AR. Wobei die größten Durchbrüche in dieser Technologie noch bevorstehen.

Bei aller Skepsis gegenüber Meta: Die Kompromisslosigkeit, Kühnheit und Hingabe, mit der sich das Unternehmen der eigenen Vision verpflichtet hat, nötigt mir Respekt ab. Denke ich an Google, Apple, Amazon und Microsoft, so sehe ich Konzerne, die an etablierten Paradigmen festhalten und neue Versionen alter Produkte entwickeln.

Die technologische Zukunft ist so aufregend wie noch nie. Und damit denke ich nicht das iPhone 18, Azure 2.0 oder Amazon Echo X. Ich denke an Meta.

Dieser Beitrag erschien am 13. November 2021 bei MIXED.

Lavrynthos: Ein VR-Gleichnis für den Irrgarten des Lebens

Der griechischen Mythologie nach baute der geniale Erfinder und Bauherr Dädalus dem kretischen König Minos ein gewaltiges Labyrinth. Dieses sollte einem gefährlichen Mischwesen, halb Mensch, halb Stier, als Gefängnis dienen: dem Minotauros. Das Labyrinth war so ausgeklügelt, dass selbst Dädalus nur mühevoll wieder herausfand, nachdem er sein Bauwerk vollendet hatte.

Nach einem blutigen Rachefeldzug mussten die von König Minos bezwungenen Athener alle neun Jahre einen grausamen Tribut zahlen und sieben junge Männer und Frauen nach Kreta senden, die in das Labyrinth gesperrt und so dem Minotauros geopfert wurden. An dieser Stelle setzt die Handlung der VR-Erfahrung Lavrynthos ein.

Wir schlüpfen in die Rolle von Cora, einer jungen Athenerin, die als Opfergabe auserwählt wurde und sich im Eingang des Labyrinths wiederfindet. Das Tor ist verriegelt, also gibt es nur einen Weg: in den Irrgarten hinein. Nach den ersten Schritten beginnt schon, was Lavrynthos so besonders macht: der Einsatz unmöglicher Räume.

Weil Trümmer den Weg versperren, biegen wir um eine Ecke und betreten einen vollkommen neuen Raum, der an dieser Stelle  unmöglich hätte stehen können. Unmöglich in der uns bekannten physischen Realität, nicht aber in der digitalen.

Eine Kontinuität des Raums im Sinne Euklids gibt es in Lavrynthos nicht. Und nun verstehen wir auch, wie das teuflische Labyrinth konstruiert ist: Man kann einen Gang hinuntergehen und in einem ganz anderen herauskommen. Im Körper- und Bewegungsmedium Virtual Reality verblüffen diese unmöglichen Räume wie nirgends sonst und machen den Irrgarten als solchen eindrucksvoll erfahrbar.

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Leider gibt es derzeit noch keine Bilder oder Videos aus der VR-Erfahrung zu sehen. Das obige Bild ist eine Konzeptzeichnung. | Bild: Delirium XR

Lavrynthos ist nicht die erste VR-Erfahrung, die unmögliche Räume nutzt. „Tea For God“ tat dies bereits vor Jahren. Und hier wie dort sind die unmöglichen Räume so konstruiert, dass sie VR-Nutzer:innen geschickt an den Grenzen des Spielbereichs entlang wieder in die Mitte leiten. Das Ergebnis ist ein prinzipiell endlose VR-Welt auf einer vergleichsweise kleinen Fläche. Das Einzigartige an Lavrynthos ist, dass die VR-Erfahrung unmögliche Räume mit einer Geschichte verbindet – und hiermit kommen wir zu Cora zurück.

In ihrer Rolle irren wir durch das Labyrinth und treffen schon bald auf Minotauros, der sich als jemand ganz anderes entpuppt, als die Legende erzählt. Aber auch Coras Charakter und Absichten laufen gängigen Erwartungen entgegen. Und so entwickelt sich eine Handlung, die ebenso witzig wie unvorhersehbar ist und mich ein ums andere Mal fragen lässt, welche räumliche und erzählerische Wendung hinter der nächsten Ecke wartet.

Denn nicht nur mit Räumen, auch mit Perspektiven spielt Lavrynthos. Einmal verkörpern wir Cora, dann wieder den Minotauros und manchmal einen scheinbar unbeteiligten Betrachter. Der Perspektivenwechsel geschieht nahtlos und unbemerkt bei Übergängen von einem Raum zum anderen. Und wieder kommen wir aus dem Staunen nicht heraus, was diese VR-Erfahrung alles mit uns anstellt.

Die weitere Handlung und das Ende will ich an dieser Stelle nicht verraten. Denn früher oder später wird Lavrynthos für Oculus Quest und PC-VR-Brillen erscheinen und dann könnt ihr die Geschichte um Cora und Minotauros selbst erleben.

Entwickelt hat die VR-Erzählung der Drehbuchschreiber Fabito Rychter und der Animationskünstler Amir Admoni, die schon mit ihrem ersten VR-Film Gravity VR für Aufsehen sorgten. Das VR-Debüt zeichnet sich wie Lavrynthos durch innovativen Einsatz von VR, einfühlsame Charakterzeichnung und viel Witz aus. Und beide Werke münden in einer eindrucksvollen philosophischen Parabel auf das Leben.

Lavrynthos soll nächstes Jahr erscheinen, auf welchen Plattformen steht noch nicht fest, schreibt mir Rychter.

Dieser Beitrag erschien am 03. Oktober 2021 bei MIXED.

End of Night: Eine bewegende Erinnerungsfahrt

End of Night erzählt die Geschichte eines Mannes, der mit seiner Familie vor den Nazis flüchtet. In einer Weise, wie es nur Virtual Reality kann.

Als die VR-Erfahrung beginnt, sitze ich in einem Ruderboot inmitten eines dunklen, stillen Ozeans. Mir gegenüber sitzt ein Mann im Herbst seines Lebens und blickt mich an. „Jede Nacht reise ich durch meine Erinnerungen“, sagt er und beginnt zu rudern. Während er von seiner Flucht vor den Nazis im Jahre 1943 erzählt, weicht die Dunkelheit und das Meer einer Stadt. Wir gleiten eine taghelle Straße entlang, zwängen uns in Gebäude und wieder hinaus und rudern schließlich in eine lange, tiefe Nacht hinein.

Nach und nach wird mir klar, was er mit seinen Worten meinte: Was wir durchqueren, sind seine Erinnerungen an die Stationen dieser viele Jahre zurückliegenden Flucht. Wir sehen den alten Mann in der uns umgebenden Szenerie als jungen Menschen, als Ehemann und Vater und erfahren Stück für Stück, was ihm und seiner Familie auf der Flucht von Dänemark ins neutrale Schweden widerfahren ist.

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Ohne Fluchtmöglichkeit: In „End of Night“ sitzt man wortwörtlich im gleichen Boot mit dem Protagonisten. | Bild: Makropol

Knapp 50 Minuten dauert das VR-Erlebnis und während dieser Zeit bin ich mit dem Mann im Ruderboot gefangen. Das schafft Nähe – und Beklemmung. Seinem Blick und seiner Erzählung ausgeliefert, verfolge ich den unerbittlichen Gang der Geschichte, die sich um uns herum entfaltet. Ich sehe Räume an mir vorbeiziehen, Schemen, die aus dem Nichts auftauchen und wieder in der Dunkelheit verschwinden.

50 Minuten sind eine qualvolle lange Zeit in Virtual Reality, wenn man nichts anderes tun kann, als still dazusitzen, zuzuhören und sich umzusehen. Dass mir der VR-Film die Handlungsfreiheit nimmt und mich auf die Folter spannt, ist beabsichtigt. Auf diese Weise lässt er mich die Ausweglosigkeit des Mannes, sein banges Warten auf das Ende einer endlos scheinenden Nacht nachempfinden.

Der VR-Film ist in grobkörnigem Schwarzweiß gehalten, so als wäre ich in einen alten Film hineinversetzt worden. Die mit Fotogrammetrie digitalisierten Straßen und Räumlichkeiten der Stadt, durch die wir im Ruderboot schweben, wirken echt und bruchstückhaft zugleich wie Erinnerungen. Das Gleiche gilt für die Figuren, die mit einer 3D-Kamera gefilmt wurden, sodass sie zwar räumlich, aber dennoch unvollständig erscheinen: mit geisterhaften Konturen, die zu den Seiten hin ausfransen.

Diese digitalen Fehler und Mangelhaftigkeiten sind ein Stilmittel, das den Traum- und Erinnerungscharakter der Geschichte perfekt wiedergibt. Ein Thema und eine Aufnahmetechnik, die Regisseur David Adler schon mit seinem vorangegangenen VR-Film A Taste of Hunger erforschte.

 

End of Night ist von Adlers Familiengeschichte inspiriert sowie von den Fluchtgeschichten seiner Heimatstadt. „Ich möchte, dass die Zuschauer eine persönliche Begegnung mit einem Asylsuchenden haben, mit jemandem, dessen Leben von Erinnerungen geprägt ist“, sagt Adler. „Flucht ist nicht etwas, dass anderen Menschen an anderen Orten widerfährt. Sie hat stattgefunden und findet auch in unserer Zeit statt.“

Es gibt vielerlei Fluchten: vor Krieg und Hass, aber auch vor der Wirklichkeit und in die Erinnerung, in der Hoffnung, Geschehenes ungeschehen zu machen. Der Mann im Ruderboot kennt beide Arten der Flucht. Seine Reise endet, so stelle ich zum Schluss betroffen fest, dort, wo sie angefangen hat.

End of Night war bislang nur im Rahmen von Festivals und Ausstellungen zu sehen. Das verantwortliche VR-Produktionshaus Makropol sucht derzeit Distributionsmöglichkeiten, um den VR-Film einem größeren Publikum verfügbar zu machen.

Dieser Beitrag erschien am 26. September 2021 bei MIXED.

Berlin 1927: VR-Ausflug in die Goldenen Zwanziger

Eine neue VR-Erfahrung entführt in das Berlin der Zwanzigerjahre. An der Seite dreier Zeitgenossen besucht man einen glamourösen Premierenabend im Großen Schauspielhaus, einem historischen Bauwerk mit bewegter Geschichte, das heute nicht mehr existiert.

Vom Theaterregisseur Max Reinhardt und seinem Architekten Hans Poelzig 1919 im expressionistischen Stil gestaltet, wurde das Große Schauspielhaus wegen seiner von der Kuppel hängenden Zapfen auch „Tropfsteinhöhle“ genannt. In den Zwanzigerjahren wurde dieser Ort dank der Revuen des Theaterleiters Erik Charell und Stars wie Fritzi Massary zum kulturellen Mittelpunkt Berlins.

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Der prunkvolle Saal des Großen Schauspielhauses in der VR-Erfahrung. | Bild: digital.DTHG

Nach der Machtübernahme der Nazis wurde das Bauwerk als „entartete Kunst“ verunglimpft und umgebaut, die Zapfen abgeschlagen und das Große Schauspielhaus in „Theater des Volkes“ umbenannt. Während der Endphase des Zweiten Weltkriegs durch Luftangriffe stark beschädigt, wurde das Gebäude schnell wieder aufgebaut und erlebte nun als Friedrichstadtpalast eine neue Blütephase. Wegen irreparabler Schäden wurde das Bauwerk in den 80er-Jahren abgerissen und unweit des alten Gebäudes der neue Friedrichstadt-Palast errichtet.

Die VR-Erfahrung „Ein Abend im Großen Schauspielhaus – Berlin 1927“ feiert das 100-jährige Jubiläum des in seiner ursprünglichen Form nicht mehr existierenden Bauwerks. Mit der VR-Brille reist man zum Abend des 23. Dezember 1927 zurück und besucht die Premiere der Operette „Mme Pompadour“.

Die Architektur und Feststimmung der Zwanzigerjahre erlebt man aus der Perspektive dreier Figuren: des Theaterbesuchers Walter Schatz, der gefeierten Sängerin und Darstellerin der Madame Pompadour Fritzi Massary und des jungen Beleuchters Otto Kempowski.

Diese teils fiktiven, teils realen Charaktere bringen einem das Große Schauspielhaus aus drei ganz unterschiedlichen und persönlichen Blickwinkeln nahe. Mit Schatz zusammen betreten wir das Theater durch den Haupteingang, spazieren durch das eindrucksvolle, lebhafte Foyer und treten schließlich ehrfurchtsvoll in den gigantischen Saal.

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Mit Walter Schatz durchstreifen wir das Foyer des Schauspielhauses. | Bild: digital.DTHG

Massary treffen wir am Seiteneingang, kämpfen uns an Kameras und Reportern vorbei und betreten den Backstage-Bereich und die Garderobe, wo sie uns in intimem Rahmen an ihren Gedanken und Sorgen teilnehmen lässt. An der Seite Kempowskis schließlich lernen wir das Leben der Schattenarbeiter und die aufwendige Technik des Schauspielhauses kennen.

„Mithilfe dieser Figuren können wir sowohl bestimmte Wege und somit Einblicke in das Gebäude bekommen, als auch gesellschaftliche, zeitpolitische und soziale Aspekte verhandeln“, sagt Pablo Dornhege, der das Projekt gemeinsam mit Franziska Ritter leitete.

Durch die Auffächerung der Perspektiven erlebt man Zeit und Raum auf drei unterschiedliche Weisen. Jede der drei Episoden endet im Saal und gipfelt in einer fulminanten Kamerafahrt, bei der wir uns im gewaltigen Kuppelbau über den Köpfen der Zuschauer bewegen.

Weil es sehr aufwendig wäre, die Räumlichkeiten und Besucher in allen Details zu animieren, sind diese stilisiert wiedergegeben: Die Wände sind monochrom und menschliche Figuren erscheinen als gezeichnete 2D-Silhouetten. Das Ergebnis ist dennoch stimmig und gefällt und überlässt Details der eigenen Vorstellungskraft, sodass sie deshalb wohl noch stärker wirken.

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In der Garderobe lernen wir den Menschen statt Star Fritzi Massary kennen. | Bild: digital.DTHG

Mit viel Aufwand aufgearbeitet und rekonstruiert wurde die Architektur und insbesondere der Saal. Ausgangspunkt war ein großer Fundus an Archiv-Material aus verschiedenen baugeschichtlichen Lebensphasen des Gebäudes. Dazu gehören Planungsunterlagen des Architekten Hans Poelzig, Interieur-Skizzen von Marlene Moeschke, spätere Umbaupläne aus der Zeit des Nationalsozialismus sowie viele Architekturfotografien, Texte, Baubeschreibungen und zeithistorische Veröffentlichungen und Dokumentationen.

„Trotz der Fülle an Material bleiben Lücken und Unklarheiten“, sagt Dornhege. „Bei den Plänen gibt es zum Beispiel starke Diskrepanzen und gerade der Backstage-Bereich ist kaum bildlich dokumentiert.“ Das Ergebnis sei eine Kombination aus wissenschaftlich fundierter Rekonstruktion und künstlerischer Freiheit an Stellen, die für die Nachwelt verloren sind.

Die VR-Erfahrung ist aus dem zweijährigen Forschungsprojekt “Im/material Theatre Spaces” der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft (DTHG) hervorgegangen, die für das Vorhaben mit dem Friedrichstadt-Palast kooperierte. Entwickelt wurde sie vom Team der digital.DTHG, dem DTHG-eigenen Kompetenzbereich für Digitalität und Neue Technologien. Gefördert wurde das Projekt außerdem durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Dank der Unterstützung des Stadtmuseums Berlin und verschiedener anderer Sammlungen und Archive konnte das Team Originalobjekte aus dieser Zeit digitalisieren und in die VR-Erfahrung integrieren, wodurch sie noch authentischer wirkt. Dazu gehören Plakate, Programmhefte, Eintrittskarten und aufwendige bühnentechnische Apparate wie der „Wolkenapparat“.

Dieser Beitrag erschien am 05. Juni 2021 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

Zeitreisen mit Augmented Reality

Die Zeit zerstört alles, heißt es in Gaspar Noés Film “Irréversible”. Mit Augmented Reality könnte man die Zeit zumindest visuell zurückdrehen. Wie das gehen könnte, zeigt das Experiment eines japanischen AR-Entwicklers.

Nicht nur wir verändern uns mit der Zeit, auch die Umgebung tut es. Wer an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt, weiß, wie schnell sich altbekannte Gegenden wandeln können: Geschäfte, Häuser, ja ganze Komplexe können verschwinden und wo früher vielleicht eine Wiese war, steht jetzt ein Hochhaus.

Gewöhnt man sich an den neuen Anblick – und das passiert recht schnell – so verblasst die Erinnerung an den früheren Zustand. Oft genug weiß man nicht einmal mehr, wie die Straße, das Einkaufszentrum oder der Park früher ausgesehen haben und ein Teil der Kindheit ist damit unwiederbringlich verloren.

Wie man einem solchen Erinnerungsverlust entgegenarbeiten könnte, demonstriert der Twitter-Nutzer Mechpilot. Der in Tokio lebende XR-Ingenieur veröffentlicht auf dem Kurznachrichtendienst Twitter regelmäßig AR-Experimente und neuerdings auch solche, die sich die AR-Brille Nreal Light zunutze macht.

Für sein neuestes Experiment holte er ein altes Tokioter Lokal per Augmented Reality zurück in die Gegenwart. Das traditionsreiche Kanda Shokudou Diner servierte seinen Gästen im Stadtviertel Akihabara 60 Jahre lang Speisen, bevor es 2018 schließen musste.

Ein Fotogrammetrie-Künstler scannte die Fassade des Lokals vor seiner Schließung und veröffentlichte das Ergebnis auf der 3D-Plattform Sketchfab. Mechpilot nahm dieses 3D-Modell und legte es passgenau über das neue Geschäft. So erscheint, durch die AR-Brille betrachtet, die altbekannte Straßenecke vor ihm. Auf Twitter zeigt er das Ergebnis seines AR-Experiments.

Natürlich muss man eine Fassade zuerst einscannen, um sie für derartige Zwecke nutzen zu können. Dank der fortschreitenden Digitalisierung der Welt dürfte dies in Zukunft kein großes Hindernis mehr darstellen: Kartendienste wie Google Maps und Apple Maps werden immer akkurater in der 3D-Rekonstruktion realer Orte und dank Smartphones mit Lidar-Scanner wird es zunehmend leichter, eigenständig Objekte und Straßenecken in 3D zu scannen und auf diese Weise digital zu verewigen.

Was noch fehlt, ist eine AR-Brille, die Orte erkennt und passende 3D-Modelle automatisch darüberlegt. Eine solche Software ist keine Zukunftsmusik mehr, wie Techpilot beweist. Der verlinkte 3D-Scan des Kanda Shokudou Diners diente als Vorlage für die Tokioter AR-Zeitreise.

Dieser Beitrag erschien am 08. April 2021 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.