Dadurch, dass eine Zehnte Kunstform in Erscheinung tritt, infolgedessen der Künstler zu einem Demiurgen und der Rezipient zu einem Handlungsträger innerhalb eines weltgewordenen Kunstwerks wird, ist die klassische Rollenverteilung von Künstler und Rezipienten nicht infrage gestellt, sie bedarf lediglich einer erneuten begrifflichen Prüfung. Es gibt zweifellos einen Unterschied zwischen demjenigen, der ein Kunstwerk hervorbringt, und demjenigen, der zu einem Kunstwerk ins Verhältnis tritt, aber dieser Unterschied ist nicht darin zu finden, dass der eine aktiv und der andere passiv ist. Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass es genauso schwierig ist, ein gutes Buch zu lesen, wie es zu schreiben. Der Rezipient ist nie ein bloßer Rezipient gewesen, sondern stets und notwendig ein Komplize des Künstlers im strengsten Sinne des Wortes. Wie die Welt durch ihre Beschaffenheit auf sonderbare Weise dem Geist entgegenkommt und dieser durch seine Beschaffenheit der Welt, dergestalt, dass beide in der untrennbaren Einheit des Lebens zueinander ins Verhältnis treten können, so kommt das Kunstwerk dem Geist und der Geist dem Kunstwerk entgegen und in der hieraus entstehenden Einheit des Bestimmungsvollzugs als eines Wechselspiels von Gabe und Empfängnis findet die Kunst zu sich.
Date Archives → März 2012
§ 125. Was den Künstler von dem Rezipienten unterscheidet
Was den Künstler auszeichnet, ist der Zweck seines Tuns: Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der Rezipient entdecke. Was den Rezipienten auszeichnet, ist der Zweck seines Tuns: zu entdecken.
§ 126. Der Künstler als Arrangeur einer ästhetischen Form des Lebens
Jede Entdeckung ist Vollzug und jeder Vollzug ist dadurch Vollzug, dass ihm das Leben als dasjenige zugrunde liegt, was schlechthin Vollzug ist. Deshalb ist jeder Vollzug eine Form des Lebens, aber auch die Kunst ist Vollzug und daher ebenfalls eine Form des Lebens, und zwar eine der Schönheit verpflichtete ästhetische Form des Lebens. Diese besteht in der Entdeckung, darin, dass man den Möglichkeitsraum der Verhältnisformen durchmisst, den Geist und Welt eröffnen, dass man des Lebens teilhaftig wird in noch unentdeckten Bestimmungsvollzügen des Geistigen, Sinnlichen und Wirklichen. Der Künstler kann folglich als der Arrangeur einer ästhetischen Form des Lebens aufgefasst werden, die man Kunst nennt.
§ 127. Künstlertum, Rezipiententum
Der Künstler geht darin auf, dass er vermöge der Welt als eines Gegenstands für andere eine ästhetische Form des Lebens arrangiert, der Rezipient geht darin auf, dass er vermöge seines Geistes und für sich eine ästhetische Form des Lebens vollzieht. Der Zweck eines Bestimmungsvollzugs besteht letzten Endes darin, den Gegenstand, den das Kunstwerk bereitstellt, mit dem Geist zu durchdringen, dergestalt, dass aus dem Bestimmungsvollzug heraus etwas entsteht, das im Geist als einem nicht verobjektivierbaren Subjektiven aufgeht und das als eine letzte, unaussprechbare Erfahrung weder weitergegeben werden will noch weitergegeben werden kann.
§ 128. Weshalb das Lebenswerk kein Kunstwerk ist
Dies ist auch bei der Zehnten Kunstform der Fall, denn selbst wenn sich der Geist in Gestalt eines Lebenswerks materialisiert, die Bedeutung dieser Materialisation liegt in der hierbei gewonnenen Erfahrung des Geistes, die eine rätselhafte Tiefe offenbart, in der ihr eigentlicher Wert besteht. Das Lebenswerk kann aber auch aus deshalb nicht als Kunstwerk gelten, weil der Künstler stets auf einer ontologisch höheren Ebene als das Kunstwerk operieren muss. Gerät er auf dieselbe Ebene und damit in sein eigenes Kunstwerk hinein, so verliert er damit notwendig einen bedeutenden Teil jener Bestimmungsmacht, die ihm als Künstler zukommt. So gesehen ist der Künstler für das Kunstwerk, was ein Gott für die Welt ist. Der Mensch hat keinen Einfluss auf die Welt als ein System der Gesetze und zuweilen nicht einmal auf sein Schicksal.