Virtuelles Reisen: Wie ich in Zeiten der Flugscham die Welt erkunde

Vor kurzem besuchte ich zum ersten Mal die Sixtinische Kapelle. Ich bestaunte die monumentalen Fresken, die Michelangelo Buonarroti im Auftrag des Papstes zwischen 1508 und 1512 an die Decke des sakralen Baus malte. Ein Kunsthistoriker gab mir derweil geduldig Auskunft zu jedem Bildmotiv, das mich interessierte.

Das war nur eine von vielen, unvergesslichen Reisen, die ich in diesem Jahr unternahm: Meine Expeditionen führten mich in den menschenverlassenen, nächtlichen Palast von Versailles, in die dreitausend Jahre alte Gruft der Pharaonengemahlin Nefertari, in die Tiefen des letzten deutschen Kohlebergwerks Prosper-Haniel, in die hitzeglühenden Weiten des amerikanischen Death Valley, auf die Spitze des Mount Everest und in die Tschernobyl-Geisterstadt Pripyat.

Nun ist mir bewusst, dass es in Zeiten der Flugscham unangemessen ist, sich solcher Reisen zu rühmen. Doch der CO2-Fußabdruck meiner Reisen war vergleichsweise gering: Genau genommen verbrauchte ich keinen Tropfen Kerosin. Ja, für mein Transportmittel musste ich nicht einmal das Haus verlassen. Ich reiste nämlich nicht per Flugzeug, sondern digital – mit einer VR-Brille.

„Il Divino“ heißt die in Anspielung an den „göttlichen“ Michelangelo getaufte VR-Erfahrung, für die ein Team aus Computerspezialisten den Innenraum der Sixtinischen Kapelle samt Decken- und Wandgemälden, Innendekoration und realistischer Beleuchtung fast auf den Zentimeter genau digital rekonstruierte. Das folgende Video gibt einen Eindruck davon, was virtuelle Besucher erwartet.

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Die digital rekonstruierte Sixtinische Kapelle | Bild: Christopher Evans

Möglich macht diese Präzision ein technisches Verfahren namens Fotogrammetrie, bei dem Algorithmen zahlreiche Fotografien eines Objekts oder Raums zu einem lebensechten 3D-Modell vernähen. Die Mühe hat sich gelohnt, denn das Ergebnis ist atemberaubend.

Ich weiß durchaus, dass ein digitales Duplikat und mag es noch so detailliert sein, eine physische Stätte niemals ersetzen kann. Die Aura eines Ortes wird auch von dessen Geruch, Temperatur, Luftfeuchtigkeit getragen und ist in die Erfahrung der Reise eingebettet, den Weg, den man auf sich nahm, um diesen Ort aufzusuchen. All dies kann auch die fortschrittlichste VR-Brille nicht vermitteln. Aber sie kann, wie im Beispiel der Sixtinischen Kapelle, die visuelle Substanz eines Raums einfangen. Dank digitaler Technologie konnte ich Michelangelos Fresken in einer Intimität und aus Perspektiven erleben, die Normalsterblichen verwehrt ist.

So war es mir möglich, auf das historische Holzgerüst zu steigen, auf dem Michelangelo arbeitete. Dort oben kam ich dem berühmtesten Motiv des Deckengemäldes, der Erschaffung Adams, so nahe, dass ich selbst einzelne Pinselstriche und Risse im Verputz ausmachen konnte. Und ich kann immer wieder zurückkehren, um den Ausführungen des digitalen Kunsthistorikers zu lauschen und mich in Details der Fresken zu verlieren: ohne stundenlanges Anstehen, ohne Gedränge, ohne den Schweißgeruch anderer Touristen in der Nase zu haben.

Virtuelle Reisen dieser Art sind in Zahl und Qualität begrenzt. Doch schreitet die Digitalisierung voran wie bisher, so wird man eines Tages weite Teile der Welt virtuell erkunden können. Googles und Apples Kartografierungfahrzeuge sind mit Lasersystemen ausgerüstet, die ihre Umgebung in 3D einscannen. Damit legten sie bereits Millionen von Kilometern zurück. Die räumlichen Daten fließen in die Verbesserung der firmeneigenen Kartendienste, lassen autonome Fahrzeuge unter realistischen Simulationsbedingungen trainieren und sind Baustein einer umfassenden 3D-Kartografierung der Welt.

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Das Wallace Arts Centre in Virtual Reality. | Bild: Realityvirtual.co

Mit der Virtual-Reality-App Google Earth VR kann man bereits den ganzen Erdball umrunden und in Sekundenschnelle zu jedem Ort der Welt flitzen.Zugleich werden Digitalisierungstechniken vereinfacht und einer größeren Zahl Menschen zugänglich gemacht. Für Fotogrammetrie braucht es keine Fachkenntnisse oder speziellen Geräte mehr: Mit der Smartphone-App Display.land erstellt man kinderleicht digitale Duplikate von Menschen, Objekten und ganzer Räume und teilt sie in sozialen Netzwerken. Das Startup will seine Plattform zu einer Art 3D-Instagram ausbauen, das zur schrittweisen 3D-Rekonstruktion der Welt beitragen soll. Das Unternehmen stellt lediglich die Infrastruktur.

Dass Interesse an solchen Inhalten besteht, beweist Sketchfab, die größte Onlineplattform für 3D-Objekte. Nutzer luden bislang mehr als drei Millionen handgefertigte 3D-Modelle hoch, darunter tausende in den Kategorien Architektur, Denkmäler und Sehenswürdigkeiten.

Man stelle sich vor, was eine 3D-Wikipedia, eine Wikipedia der Erfahrungen, leisten könnte, wenn jedes Objekt und jeder Ort jederzeit und von überall aus in dreidimensionaler Form zugänglich wäre. Zuerst auf dem Smartphone, später mittels fortschrittlicher VR- und AR-Brillen, die eine lebensechte Darstellung der 3D-Objekte und virtuelle Reisen ermöglichten. Das dürfte die Informationsvermittlung und das Lernen revolutionieren.

Dank der fortschreitenden Digitalisierung des Planeten werde ich mir die Welt früher oder später nach Hause holen, anstatt meine Körpermasse hunderte oder gar tausende Kilometer weit an einen bestimmten Punkt im Koordinatensystem zu transportieren. Schließlich ist es heute leichter, Bits als Atome zu bewegen, wie Facebook-Chef Mark Zuckerberg bei jeder sich bietenden Gelegenheit wiederholt. Das soziale Netzwerk investiert aus diesem Grund Milliarden US-Dollar in die 3D-Revolution und Zukunftstechnologien wie Virtual Reality und Augmented Reality. Könnte durch VR und AR eines Tages nur ein Teil der weltweiten Personenbeförderung reduziert werden, wäre damit schon einiges für das Klima und die Menschheit geleistet, argumentiert Andrew Bosworth, der Facebooks 3D-Zukunftsabteilung leitet.

Die Reiselust dürfte den Menschen trotz dieser neuen technischen Möglichkeiten zwar nicht vergehen. Für Flugzeigverweigerer und ökologisch Bewusste könnten sie jedoch eine Alternative werden, weit entfernte Orte kennenzulernen, ohne die Umwelt und das Portemonnaie übermäßig zu belasten.

Dieser Beitrag erschien am 21. Dezember 2019 unter dem Titel „Hiergeblieben!“ in der Schweiz am Wochenende und am 23. Februar 2020 in überarbeiteter und erweiterter Form bei MIXED.

Bei MIXED findet man außerdem eine von mir zusammengestellte Liste der besten Apps für VR-Reisen.