VR & AR

Wenn aus Bildern Orte werden: Böcklins „Toteninsel“ in der Virtual Reality

Die halbrunde Felsformation ragt hell leuchtend aus dem unbewegtem Gewässer. Ein Holzboot mit zwei Figuren schwebt geräuschlos zu einer kleinen Hafeneinfahrt. Die hintere Figur rudert, die vordere steht vor einem quer gelagerten, mit Blumen geschmückten Sarg und blickt, ganz in weiße Tücher gehüllt, zu dem einsamen Eiland und dem undurchdringlichen Dunkel der Zypressen, die in den dämmernden, sturmbewegten Himmel ragen.

Arnold Böcklins „Toteninsel“ gehört zu den bekanntesten Sujets der Malerei. Der Schweizer Künstler malte zwischen 1880 und 1886 fünf Fassungen des Motivs, die sich in Komposition und Farbgebung leicht unterscheiden. Einige der Gemälde haben eine bewegte Geschichte: Die dritte Fassung war eine Zeit lang im Besitz von Hitler und hängt heute in der Alten Nationalgalerie in Berlin, während die vierte während des Zweiten Weltkriegs zerstört wurde. Von ihr existieren heute nur noch Schwarzweißfotografien.

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Die dritte Fassung von Arnold Böcklins „Toteninsel“ (1883).

Die Gemälde haben seit ihrer Entstehung unzählige Menschen in Bann gezogen. Deren Faszination verdankt sich neben der Anmut und Erhabenheit ihres Motivs auch dem Umstand, dass sie ihre Bedeutung nicht preisgeben. Der Schweizer Kunsthistoriker Franz Zelger sieht in den Bildern ein Symbol für die Einsamkeit des Genies und glaubt, dass Böcklin seine eigene Entrückung ins Reich der Toten gemalt hat.

Dass die Kunstwerke so geheimnisvoll wirken, liegt nicht zuletzt am Zypressenhain, an dem der Blick wie an einem schwarzen Vorhang abprallt. Was sich dahinter verbirgt, verschließt sich dem Betrachter, so wie das Totenreich selbst. 

Vermutlich ist es gerade dieses Mystische, das beim Betrachter den Wunsch wach werden lässt, diesem Eiland selbst einmal entgegenzufahren, den Fuß auf die Insel zu setzen und mit eigenen Augen zu sehen, was sich hinter den Zypressen und in den Räumen verbirgt, die in den Felsen gehauen wurden.

Mehr als 130 Jahre nach der Entstehung der fünften und letzten Fassung wird dieser Traum demnächst in Erfüllung gehen: Das vierköpfige Entwicklerteam der Schweizer DNA Studios übertrug Böcklins dritte Fassung aus dem Jahr 1883 in ein originalgetreues 3D-Modell. Diesen Herbst soll man mit Hilfe einer VR-Brille in das Gemälde hineinsteigen und eine Reise zur Toteninsel antreten können.

Das dreidimensionale Gegenstück wurde auf der Grundlage hochauflösender Scans der Originalwerke in mühevoller Kleinarbeit angefertigt. „Es ist ein bisschen, als würde man ein altes Gemälde digital restaurieren“, sagt der Projektleiter Martin Charrière und fügt hinzu, dass jene Bereiche der Insel, die auf Böcklins Bild nicht zu sehen sind, von seinem Team ergänzt wurden.

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Die VR-Rekonstruktion der dritten Fassung. | Bild: DNA Studios

Die Idee, klassische Kunstwerke der Malerei in die Virtual Reality zu übertragen, ist keinesfalls neu. Bislang wurden unter anderem Werke von Vermeer und Manet in das neue Medium überführt. Einige Umsetzungen halten sich sehr genau an ihre Vorlage, andere verstehen sich als freie Interpretation.

In einer Hommage an Van Gogh kann man sich wie ein Gast in dessen „Nachtcafé“ umtun und in einem Nebenraum sogar dem Künstler selbst begegnen. Oder man betritt Leonardo Da Vincis „Mona Lisa“ und sieht die berühmte Dame höchstpersönlich vor sich sitzen.

Mittlerweile haben Auktionshäuser und Kunstmuseen Virtual Reality für sich entdeckt und nutzen die Technologie für Marketingzwecke. So ließ Sotheby’s vor einer Auktion Werke 3D-Fassungen feilgebotener Kunstwerke anfertigen, die von Bietern vor der Versteigerung virtuell betreten werden konnten und seit Anfang 2016 können sich Besucher des Dalí-Museums in eine der Traumwelten des Surrealisten hineinbegeben.

„Wir wollen das Kunsterlebnis erweitern, sei es um traditionelle Mittel wie Texttafeln, Audiokommentare und Museumsführungen oder moderne Technologie wie Virtual-Reality-Erfahrungen“, sagt die Sprecherin des Museums Kathy Greif. All diese Elemente würden auf ihre Weise etwas zum Verständnis des Kunstwerks beitragen.

Tristan Weddigen, Professor für Kunstgeschichte an der Universität Zürich, sieht derartige Versuche kritisch. Er fürchtet, dass die Originale durch ihre Überführung in 3D-Erlebnisse eine Entwertung erfahren könnten: „Die Gefahr besteht darin, dass das Originalwerk für sich allein als unzulänglich wahrgenommen werden könnte.“ Letztlich müsse man sich fragen, worin der Mehrwert an Erkenntnis bestehte.

Der Schweizer Kunstwissenschaftler Felix Thürlemann sieht zwar Potenzial in professionellen 3D-Visualisierungen, die VR-Projekte seien jedoch eher als „Spielerei“ zu bewerten, die der Vermarktung von Kunst dienen und für Kunsthistoriker keinen zusätzlichen Erkenntniswert bieten.

Für Simon Baier, der in Böcklins Heimatstadt Basel Kunstgeschichte unterrichtet, stellt sich die Frage nach dem zusätzlichen Erkenntniswert gar nicht erst. „Ich denke, dass es falsch wäre, eine Übertragung in die Virtual Reality als Klärung, Verbesserung oder Verstärkung einer Kunstwerks zu beschreiben“, sagt Baier. „Jedes Kunstwerk ist in einem ganz bestimmten Medium hergestellt und an dessen Einschränkungen gebunden. Man erfährt also nicht mehr oder weniger, wenn man ein Kunstwerk in einem anderen Medium betrachtet, sondern man erfährt einfach etwas ganz anderes.“

Laut Baier lassen sich Kunstwerke unterschiedlicher Medien also nicht direkt vergleichen. Stattdessen müsste jedes Kunstwerk an der Erfahrung gemessen werden, die es innerhalb der Grenzen seines eigenen Mediums ermöglicht. Die VR-Adaption eines Gemäldes tritt folglich nicht in einen Wettbewerb zu ihrem „Original“, sondern muss für sich betrachtet werden. Ansonsten tut man beiden Werken Unrecht.

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Die VR-Rekonstruktion von Jan Vermeers „Briefleserin am offenen Fenster“ | Bild: Art Plunge

3D-Umsetzungen klassischer Gemälde haben also durchaus eine Existenzberechtigung, sofern sie eine einzigartige Erfahrung ermöglichen. Dass neue Medien Inhalte und Sujets etablierter Kunstformen aufgreifen und in etwas Neues verwandeln, ist nichts Ungewöhnliches und eines der Grundmerkmale der Mediengeschichte. Auf diese Weise erforschten Künstler seit jeher die Möglichkeiten und Grenzen neuer Medien.

Im Falle von Böcklins Motiv und dessen 3D-Umsetzung stellt sich eine interessante Frage. Man nehme einmal an, dass die Toteninsel, wie eingangs beschrieben, gerade deshalb so fasziniert, weil sie ein undurchdringliches Geheimnis umgibt. Würde diese Bilderfahrung nicht zerstört, wenn man die Möglichkeit erhält, die Insel in der Virtual Reality zu betreten? Und wenn ja, was tritt an deren Stelle?

Ich erhielt von den Entwicklern Gelegenheit, die VR-Erfahrung auszuprobieren und die Reise zur Toteninsel anzutreten. In der letzten Sequenz wird man in den Körper der weißen Figur versetzt und schwebt auf dem Ruderboot zum Eiland, betritt die Hafeneinfahrt und gleitet an den Zypressen vorbei in einen ebenso tiefen wie finsteren Raum, der schließlich alles Licht verschluckt.

Die VR-Erfahrung wiederholt also Böcklins Bilderfahrung mit eigenen Mitteln: Das Totenreich, so erfährt man, ist dem menschlichen Zugriff entzogen und kann nicht gezeigt werden kann. Die Toteninsel bewahrt ihr Geheimnis. Auch hier, auch in der Virtual Reality.

Dieser Beitrag erschien am 23. September 2017 unter dem Titel „Ölgemälden Leben eingehaucht“ in der Schweiz am Wochenende und am 27. September 2017 in überarbeiteter und erweiterter Form bei MIXED.

Virtual Reality: Kann man virtuelles Gehen lernen?

In der Anfang des Jahres veröffentlichten VR-App „Freedom Locomotion VR“ können VR-Nutzer unterschiedliche Arten künstlicher Fortbewegung ausprobieren. Ich habe mich nur eine Stunde in der virtuellen Trainingshalle des Programms aufgehalten. Denn Freedom Locomotion VR ist eher Lernumgebung als Spiel. Hier lernt man zum einen eine Reihe virtueller Fortbewegungsarten, zum anderen sich selbst kennen, das heißt: wie man sich in der Virtual Reality fortbewegen möchte. Und wie das beim Lernen halt so ist, ist dieser Prozess kein Selbstläufer.

Von Beginn weg fühlte ich mich erschlagen von den Möglichkeiten und Einstellungen, die das Programm bietet. Ich kam mir wie ein Kleinkind vor, das das Gehen lernen muss. Also studierte ich die Erklärungen und begann zu experimentieren. Nach einer halben Stunde hatte ich eine Vorstellung davon, auf welche Weise ich mich durch VR bewegen möchte. Hierfür griff ich nicht auf eine, sondern gleich auf mehrere Fortbewegungstechniken zurück, die ich mittels Regler an meine eigenen Bedürfnisse feinangepasst habe.

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Freedom Locomotion VR ist ein aufregender Fortbewegungsparkour. | Bild: Huge Robot

Beim Ausprobieren kam mir der Gedanke, dass die Fortbewegung in Virtual Reality vielleicht etwas sein könnte, das nicht vom Medium an einen VR-Nutzer herangetragen wird, sondern vielmehr etwas, das gelernt sein will. So wie das Essen mit Besteck, das Schreiben und Lesen oder das Bedienen eines Computers mit Maus und Tastatur. So gesehen wäre die sachgemäße Interaktion mit Virtual Reality, zu der auch die künstliche Fortbewegung gehört, nichts anderes als eine Kulturtechnik.

Wer mit einer Spielkonsole aufgewachsen ist, vergisst leicht, wie komplex die Steuerung moderner Spiele ist. Die Probe aufs Exempel machen kann man, indem man einem Laien ein Gamepad in die Hand drückt. Er wird von den zahlreichen Knöpfen und dem, was auf dem Bildschirm vor sich geht, mit Sicherheit überfordert sein. Weshalb sollte Virtual Reality eine Ausnahme sein, etwas, das einem in den Schoß fällt?

Wenn der Umgang mit Virtual Reality etwas ist, dass man sich aneignen kann, so gilt das vielleicht auch für künstliche Fortbewegung. Heutzutage entscheiden meistens VR-Entwickler und nicht die Spieler, auf welche Weise man sich durch eine virtuelle Welt bewegt. Wahrscheinlich ist das in dieser frühen Phase des Mediums das beste Vorgehen.

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Valve bietet in Half-Life: Alyx gleich mehrere Fortbewegungsarten an. Spieler können wählen, was ihn am besten gefällt. | Bild: Valve

Aber zugleich kann man beobachten, dass einige Spiele die Möglichkeit bieten, zwischen unterschiedlichen Fortbewegungsarten zu wählen oder zumindest Anpassungen vorzunehmen. Diese Entwickler denken offenbar, dass der durchschnittliche VR-Nutzer einen gewissen Grad an Erfahrung und Wissen erreicht hat, um solche Entscheidungen für sich selbst treffen zu können.

Auch wenn dem nicht so sein sollte, so zeigt das Beispiel doch, dass der Umgang mit Virtual Reality bereits heute tiefere Kenntnisse voraussetzt. Die Interaktionen dürften eines Tages weitaus komplexer sein als bei einem Konsolenspiel. So gesehen wird Virtual Reality viel Zeit brauchen. Zeit, um diese Komplexität hervorzubringen und noch mehr Zeit, um die Menschen an sie zu heranzuführen.

Was, wenn das Problem der künstlichen Fortbewegung in Virtual Reality nicht per se ein Problem des Mediums ist, sondern vor allem ein Problem unseres Umgangs mit ihr? Hinzu kommt, dass die Art und Weise dieses Umgangs nicht in Stein gemeißelt ist, sondern eine Geschichte hat. Diese nehmen wir deshalb noch nicht als Geschichte wahr, weil sie gerade erst begonnen hat. Was Virtual Reality betrifft, beginnen wir gerade erst damit, zu lernen, was wir alles lernen müssen.

Dieser Beitrag erschien am 27. März 2017 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

Weshalb ich das Problem der künstlichen Fortbewegung als gelöst ansehe

Es ist ein sonderbarer Widerspruch: Virtual Reality ist wie kein anderes Medium dazu in der Lage, den Raum erfahrbar zu machen. Zugleich schränkt sie die natürliche Fortbewegung in diesem Raum stark ein.

Im Gegensatz zum physischen Raum kennt der virtuelle keine Grenzen: Bewegt man sich in ersterem fort, stößt man früher oder später entweder gegen eine Wand oder an die Grenzen des Trackingbereichs. Um dieses Problem zu umgehen, greifen Entwickler auf künstliche Fortbewegung zurück: Man bewegt seinen virtuellen Körper per Knopfdruck fort, während man sich mit dem physischen Körper nicht von der Stelle bewegt, so wie es bei Monitorspielen gang und gäbe ist. Das Problem ist, dass künstliche Fortbewegung in der Virtual Reality vielen Menschen auf den Magen schlägt.

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Der alte Traum vom Erkunden virtueller Welten. Mit Virtual Reality könnte er Wirklichkeit werden. | Bild: Screenshot aus Cryteks VR-Spiel Robinson: The Journrey

Diese VR-spezifische Reisekrankheit entsteht, wenn im Gehirn ein Konflikt zwischen dem, was das Auge sieht und dem, was das Innenohr spürt, auftritt. Bewegungsübelkeit ist eines der Probleme, die das neue Medium zurückhält. Mittlerweile wurden ganz unterschiedliche Ansätze entwickelt, um diesem Phänomen vorzubeugen, etwa Teleportation oder das Anordnen aller wichtigen Spielelemente um den Anwender herum, sodass künstliche Fortbewegung überflüssig wird.

Die Frage ist, ob diese Lösungsansätze das Problem nicht eher umschiffen, anstatt es anzugehen. Ich wünsche mir nämlich nichts mehr, als dass die Virtual Reality eine ganz bestimmte Erfahrung reproduziert, die ich aus dem meinem Leben, aber auch von explorativen Monitorspielen kenne: die Erfahrung, mit dem Körper Räume zu durchschreiten. Wenn man sich teleportiert, kommt diese Erfahrung nur bedingt auf und wenn man nur mit der unmittelbaren Umgebung interagiert – nun, dann bewegt man sich nicht.

Eine dritte Form von Lösung sind Laufmaschinen. Die sind zu teuer und zu sperrig, um größere Akzeptanz zu finden. Wenn sie denn überhaupt in der Lage sind, dem Spieler wirklich glaubhaft zu machen, dass er sich in der Virtual Reality bewegt. In dieselbe Kategorie fallen verschiedene Experimente, sich durch Laufen auf der Stelle oder durch Schwingen der Arme fortzubewegen.

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Budget Cuts macht Teleportation zum zentralen Element der Spielmechanik. | Bild: Neat Corporation

Diese Lösungsansätze haben mehrere Vorteile: Sie werden zum einen als besonders immersiv empfunden, weil sie reale Bewegungen in virtuelle übersetzen, zum anderen schlagen sie Spielern nicht auf den Magen. Dies deshalb, weil die sinnlichen Reize der Augen und des vestibulären Systems übereinstimmen. Allerdings stellt sich die Frage, wer am Ende eines Arbeitstages noch willens ist, sich in großem Stil körperlich zu betätigen, um von Punkt A über Punkt B nach Punkt C zu kommen.

Bislang gibt es kein Patentrezept für das Problem der Fortbewegung in der Virtual Reality. Und dennoch sehe ich es für mich als weitgehend gelöst an. Diese Einsicht hatte ich, als ich kürzlich wieder einmal „Robinson: The Journey“ spielte.

Das Spiel weist auf vielen Ebenen seines Designs Mängel auf. Dennoch bin ich gerne nach Tyson III zurückgekehrt. Der schönen Grafik allein kann es nicht geschuldet sein. Der Grund war einer anderer: Das Spiel reproduzierte für mich in genau jene Erfahrung, sich auf eine natürlich erscheinende Art und Weise durch eine künstliche Welt zu bewegen – ohne gravierende Einschränkungen und vor allem ohne Übelkeit.

Zum ersten Mal hatte ich annähernd das Gefühl, mich in der Virtual Reality so frei bewegen zu können wie in Monitorspielen. Natürlich gibt es auch bei Robinson nach wie vor Einschränkungen: Man kann nicht rennen und dreht sich in Schritten von 30 Grad um die eigene Achse. Aber diese Drehung geht so schnell vonstatten, dass ich sie nach einer Weile nicht mehr als störend empfand.

Crytek hat ohne Zweifel viel Zeit damit zugebracht, an den Parametern der künstlichen Fortbewegung zu schrauben und hierbei eine goldene Mitte gefunden zwischen Maßnahmen, die der Eindämmung von Bewegungsübelkeit dienen und dem Gebot, dem Spieler soviel Bewegungsfreiheit wie möglich zu lassen.

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In „Job Simulator“ interagiert man mit der unmittelbaren Umgebung statt Welten zu erkunden. | Bild: Owlchemy Labs

Damit hat Crytek für mich eine stille Revolution in Gang gesetzt und den Beweis erbracht, dass man explorative Monitorspiele für die Virtual Reality zugänglich machen kann. Ich habe infolgedessen viele Stunden in Robinson verbracht, was für mich bei VR-Spielen eher eine Seltenheit ist.

Hier kann man den Einwand bringen, dass ich wahrscheinlich weniger anfällig bin für Bewegungsübelkeit. Dieses Jahr dürfte sich auf jeden Fall zeigen, ob diese Art von künstlicher Fortbewegung auf breiter Basis akzeptiert wird oder nicht. Resident Evil 7 erscheint im Januar und Bethesda könnte Fallout 4 noch dieses Jahr herausbringen. Man darf gespannt sein, wieviele Menschen nach der Veröffentlichung über Bewegungsübelkeit klagen. Auf jeden Fall sollte man es selbst ausprobieren und sich dabei auch Zeit lassen.

Ich möchte im Übrigen keineswegs behaupten, dass es nur diese Art von VR-Spielen geben sollte. Ich finde ebenso Gefallen an vielen anderen Spielkonzepten, die eigens und von Grund auf für die Virtual Reality entwickelt wurden, darunter auch solche, die die Welt nicht aus der Blickperspektive eines Protagonisten zeigen oder keine Fortbewegung im Raum erfordern.

Der Reiz von Spielen wie Robinson: The Journey, die an der künstlichen Fortbewegung festhalten, besteht für mich darin, dass sie eine Brücke zwischen Monitorspielen und der Virtual Reality schlagen und damit zum ersten Mal eine Erfahrung möglich machen, von der ich seit meinem ersten Computerspielerlebnis träume.

Dieser Beitrag erschien am 02. Januar 2017 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

“Here They Lie” – Das erste Arthouse-Spiel der Virtual Reality

Here They Lie hat vieles mit Albträumen gemein. Zum Beispiel, dass sich einem dessen Ästhetik mit der gleichen Kompromisslosigkeit aufzwingt, die Albträumen eigen ist, in der alles nach einer eigenen, undurchschaubaren, verdrehten Logik geschieht. Man wird nicht gefragt, ob es einem gefällt und viele Dinge, mit denen man in diesem Spiel konfrontiert wird, hat man vorher noch in keinem anderen Medium gesehen. Das macht es zu einem Erlebnis und einem Kunstwerk ohnegleichen.

Während ich es spielte, habe ich mich immer wieder gefragt, ob es einen Albtraum seines Protagonisten wiedergibt. Aber diese Frage ergibt keinen Sinn, weil das Spiel seine Ästhetik konsequent durchhält. Das heißt, dass es keinen Wachzustand kennt, in welchem die Dinge so erscheinen könnten, wie sie wirklich sind. Der Protagonist und wir in seiner Haut schlafen nie ein, aber wir erwachen auch nie. Wie für die Figuren in Kafkas Erzählungen ist der Albtraum Wirklichkeit geworden, aus dem es kein Entrinnen gibt.

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Der Protagonist erblickt sich im Spiegel und wir uns mit ihm. | Bild: Santa Monica Studio / Tangentlemen

Hier sind die Gesetze, die in der uns bekannten Welt herrschen, außer Kraft gesetzt. Aber auch die Wahrnehmung ist verändert: Es ist, als sähe man die Welt durch einen Schleier: Alles ist grau und schummrig und verschwommen, so als wäre man in einen alten Schwarzweißfilm versetzt – oder in einen Albtraum, der einen jede Nacht von neuem heimsucht und der sich darüber abgenutzt hat.

Gekonnt werden unstimmige Größenverhältnisse genutzt, um Unbehagen auszulösen: Wenn man in Here They Lie Zimmer betritt, will man den Kopf einziehen, weil man das Gefühl hat, man sei viel zu groß für die Welt oder die Welt zu klein für einen. Ein Gefühl der Enge befällt den Spieler, als würden die schwitzigen Wände auf einen eindrücken. Welches andere Medium ist in der Lage, eine körperliche Erfahrung wie diese zu erzeugen?

Der Schlaf der Vernunft gebiert bekanntlich Ungeheuer. Und die Ungeheuer in diesem Spiel haben es in sich: widerliche Bestien, halb Mensch, halb Tier, deren Augen in der Dunkelheit leuchten. Schlimmer noch als ihr Erscheinungsbild sind die Geräusche, die jeder Beschreibung spotten und einem durch Mark und Bein gehen.

Ich habe in Here They Lie etwas gelernt: Anders als es in Filmen gezeigt wird, dreht man sich nicht um, während man vor einem namenlosen Schrecken flieht. Die Vorstellung, sich umzudrehen und in dessen kalte Augen zu schauen, ist zu grauenhaft. Stattdessen rennt man mit halb zugekniffenen Augen und hofft, dass die Geräusche hinter einem leiser werden.

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In Here They Lie dominieren dunkle Töne. | Bild: Santa Monica Studio / Tangentlemen

Obwohl von Rennen kaum die Rede sein kann. Wer kennt es nicht, in Albträumen auf der Flucht zu sein und das Gefühl zu haben, auf der Stelle zu treten? In Here They Lie bewegt man sich, selbst wenn man rennt, so langsam fort, dass man diese Erfahrung im Wachzustand machen kann. Da man keine Mittel hat, sich gegen die Monster zur Wehr zu setzen, liegt es nahe, sich auf das Schleichen zu verlegen.

Im ersten Drittel des Spiels gibt es eine längere Schleichpassage. Nie zuvor hatte ich in einem Spiel über einen längeren Zeitraum hinweg eine solch konstant hohe Anspannung verspürt: Die Zeit wird zu einer zähen Masse, man spürt das Herzklopfen im Ohr und nachdem alles vorbei ist, schnappt man nach Luft.

Leider wiederholen sich solche Schleichpassagen im späteren Verlauf des Spiels. Ich bedauere das nicht, weil sie so anstrengend sind, sondern weil sich deren Effekt abnutzt und weil sie mich daran erinnern, dass ich ein Spiel spiele.

Klugerweise verzichtet Here They Lie ansonsten vollständig auf Spielmechaniken: Man muss keine Missionsziele erreichen, keine Gegenstände sammeln, keine Rätsel lösen. Es sagt sich los vom Imperativ des Spielspaßes und lässt den Traum der Spiele, Kunst zu sein, Wirklichkeit werden, weil es allein vom Durchschreiten und Erleben seiner Welt getragen wird.

Here They Lie ist auch deshalb ein Kunstwerk, weil es den Spieler wie ein selbstständig denkendes Wesen behandelt. Es nimmt ihn nicht an der Hand und erklärt sich ihm auch nicht. Wer ist zum Beispiel der Mann mit dem Aktenkoffer, der den Spieler stets von neuem heimsucht? Den Schlüssel zu seiner Symbolik gibt das Spiel nicht so schnell preis. Das hat manche Kritiker dazu verleitet, das Spiel prätentiös zu nennen – oder „artsy-fartsy“, wie die Amerikaner sagen.

Here They Lie lebt von seinen verstörenden, wuchtige Bildern. Bild: Santa Monica Studio / Tangentlemen

Es ist leicht, dieses Spiel nicht zu mögen. Here They Lie ist kein Spaziergang. Es zeichnet den Abstieg eines Individuums in seine gequälte Psyche, in die tiefsten Gewölbe seines Unbewussten nach. Hier unten, am tiefsten Grund des Selbst, liegen und lügen sie, die Dämonen. Der Titel deutet es an: Die Hölle ist ein Ort, an dem die Wahrheit nicht existiert.

Here They Lie mag nicht das Citizen Kane der Virtual Reality sein, aber vielleicht deren Eraserhead: Rätselhaft, rauh, verstörend und damit das erste Arthouse-Spiel für das neue Medium. Apropos Film: Die Entwickler haben eine Liste von 13 Filmen veröffentlicht, von denen Here They Lie inspiriert ist. Darunter finden sich Werke von starken Vorbildern wie Lars von Trier, Stanley Kubrick und David Cronenberg.

Here They Lie ist für mich eines der wenigen VR-Spiele, die vollumfänglich halten, was das neue Medium verspricht. Jedes Mal, wenn ich mir die VR-Brille aufsetzte, wusste ich, dass ich Alice gleich durch einen Spiegel in eine andere Welt eintrete. Genau diese Art von Erfahrung ist es, die mich wieder und wieder in die Virtual Reality zurückholt und mich an die Zukunft des Mediums glauben lässt.

Dieser Beitrag erschien am 29. Dezember 2021 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

„Thumper“ – Ein bild- und klanggewaltiges VR-Spiel

Wenn es nach mir geht, gibt es derzeit in der Virtual Reality nichts Schöneres zu erleben als Thumper. Und das, obwohl es fast alle Erwartungen unterläuft, die man an ein VR-Spiel stellen kann.

Als ich zum ersten Mal in Thumpers Welt eintauchte, fühlte ich mich wie der Astronaut David Bowman, der hinter Jupiter durch das Sternentor in eine andere Dimension tritt. Mir war, als würden meine Augen und Ohren zu Gruben, in die sich Sturzbäche von Farben und Klängen ergießen. Die sinnliche Wucht dieses Spiels lässt sich kaum in Worte fassen.

Das liegt daran, dass es auf realistische Elemente weitgehend verzichtet und mich in eine Welt eintauchen lässt, die nur aus Formen und Farben besteht. Wie ein abstraktes Kunstwerk entzieht es sich einer sprachlichen Rekonstruktion und kann nur über die Sinne adäquat erfahren werden.

Thumper

Das gilt in noch größerem Umfang für Musik, von der man sagen könnte, dass sie die sinnlichste und deshalb auch mächtigste aller Kunstformen ist. Man denke an Homers Odyssee, in der der antike Dichter Homer von Sirenen erzählt, die vorbeifahrende Seeleute mit ihrem Gesang so stark betören, dass sie ihr Schiff auf die Felsen zusteuern und sterben. Thumper entwickelt mit seiner Musik eine ähnliche, fast rauschhafte Sogwirkung.

Das Spiel hat dennoch einige figurative Elemente und wollte man ihm eine Bedeutung zuschreiben, so könnte man in Thumpers irrer Fahrt ins Ungewisse eine Metapher für das Leben sehen. Die Straße, die man hinunterjagt, wäre dann nichts anderes als ein Bild für den Lebensweg, der sich fortwährend aus einem unbekannten Punkt herauswälzt: einem Weltenei, einer Vulva oder einer Singularität, je nachdem, ob man eine mythische, sexuelle oder physikalische Beschreibung bevorzugt.

Das Leben zu meistern würde heißen, die zahlreichen Hindernisse, die es einem in den Weg legt, als Elemente eines Tanzes zu begreifen. Hat man dessen Rhythmus verinnerlicht, werden Energien entfesselt, die zurückgeworfen werden können und weitere Türen einer endlosen Zimmerflucht öffnen.

Es erstaunt, dass Thumper so gut funktioniert, obwohl es viele Erwartungen an ein VR-Spiel unterläuft. Statt Spieler in eine möglichst realistisch wirkende Welt zu versetzen, hüllt es sie in Formen, Farben und Klänge und bietet auf diese Weise eine sinnliche Erfahrung, die ihresgleichen sucht.

Thumper setzt auch kaum auf physische Bewegung. Man kann sich zwar nach vorne und zur Seite neigen, diese Bewegung ist aber nicht essenziell für das Spiel. Im Grunde könnte man aufs räumliche Tracking verzichten. Trotzdem lässt einen das Spiel Raum und Geschwindigkeit in einer Weise erfahren, die hypnotisierend ist. Thumper verzichtet zudem auf Bewegungscontroller und setzt stattdessen auf das Gamepad. Auch dieser Umstand schadet dem Spiel nicht.

Hieraus kann man zwei Dinge lernen. Erstens: Kunst kennt keine absoluten Regeln. Zweitens: Kunst findet immer Wege, Einschränkungen jedweder Art zu ihrem Vorteil zu nutzen.

Dieser Beitrag erschien am 26. November 2016 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.