Der griechischen Mythologie nach baute der geniale Erfinder und Bauherr Dädalus dem kretischen König Minos ein gewaltiges Labyrinth. Dieses sollte einem gefährlichen Mischwesen, halb Mensch, halb Stier, als Gefängnis dienen: dem Minotauros. Das Labyrinth war so ausgeklügelt, dass selbst Dädalus nur mühevoll wieder herausfand, nachdem er sein Bauwerk vollendet hatte.
Nach einem blutigen Rachefeldzug mussten die von König Minos bezwungenen Athener alle neun Jahre einen grausamen Tribut zahlen und sieben junge Männer und Frauen nach Kreta senden, die in das Labyrinth gesperrt und so dem Minotauros geopfert wurden. An dieser Stelle setzt die Handlung der VR-Erfahrung Lavrynthos ein.
Wir schlüpfen in die Rolle von Cora, einer jungen Athenerin, die als Opfergabe auserwählt wurde und sich im Eingang des Labyrinths wiederfindet. Das Tor ist verriegelt, also gibt es nur einen Weg: in den Irrgarten hinein. Nach den ersten Schritten beginnt schon, was Lavrynthos so besonders macht: der Einsatz unmöglicher Räume.
Weil Trümmer den Weg versperren, biegen wir um eine Ecke und betreten einen vollkommen neuen Raum, der an dieser Stelle unmöglich hätte stehen können. Unmöglich in der uns bekannten physischen Realität, nicht aber in der digitalen.
Eine Kontinuität des Raums im Sinne Euklids gibt es in Lavrynthos nicht. Und nun verstehen wir auch, wie das teuflische Labyrinth konstruiert ist: Man kann einen Gang hinuntergehen und in einem ganz anderen herauskommen. Im Körper- und Bewegungsmedium Virtual Reality verblüffen diese unmöglichen Räume wie nirgends sonst und machen den Irrgarten als solchen eindrucksvoll erfahrbar.
Lavrynthos ist nicht die erste VR-Erfahrung, die unmögliche Räume nutzt. „Tea For God“ tat dies bereits vor Jahren. Und hier wie dort sind die unmöglichen Räume so konstruiert, dass sie VR-Nutzer:innen geschickt an den Grenzen des Spielbereichs entlang wieder in die Mitte leiten. Das Ergebnis ist ein prinzipiell endlose VR-Welt auf einer vergleichsweise kleinen Fläche. Das Einzigartige an Lavrynthos ist, dass die VR-Erfahrung unmögliche Räume mit einer Geschichte verbindet – und hiermit kommen wir zu Cora zurück.
In ihrer Rolle irren wir durch das Labyrinth und treffen schon bald auf Minotauros, der sich als jemand ganz anderes entpuppt, als die Legende erzählt. Aber auch Coras Charakter und Absichten laufen gängigen Erwartungen entgegen. Und so entwickelt sich eine Handlung, die ebenso witzig wie unvorhersehbar ist und mich ein ums andere Mal fragen lässt, welche räumliche und erzählerische Wendung hinter der nächsten Ecke wartet.
Denn nicht nur mit Räumen, auch mit Perspektiven spielt Lavrynthos. Einmal verkörpern wir Cora, dann wieder den Minotauros und manchmal einen scheinbar unbeteiligten Betrachter. Der Perspektivenwechsel geschieht nahtlos und unbemerkt bei Übergängen von einem Raum zum anderen. Und wieder kommen wir aus dem Staunen nicht heraus, was diese VR-Erfahrung alles mit uns anstellt.
Die weitere Handlung und das Ende will ich an dieser Stelle nicht verraten. Denn früher oder später wird Lavrynthos für Oculus Quest und PC-VR-Brillen erscheinen und dann könnt ihr die Geschichte um Cora und Minotauros selbst erleben.
Entwickelt hat die VR-Erzählung der Drehbuchschreiber Fabito Rychter und der Animationskünstler Amir Admoni, die schon mit ihrem ersten VR-Film Gravity VR für Aufsehen sorgten. Das VR-Debüt zeichnet sich wie Lavrynthos durch innovativen Einsatz von VR, einfühlsame Charakterzeichnung und viel Witz aus. Und beide Werke münden in einer eindrucksvollen philosophischen Parabel auf das Leben.
Lavrynthos soll nächstes Jahr erscheinen, auf welchen Plattformen steht noch nicht fest, schreibt mir Rychter.
Dieser Beitrag erschien am 03. Oktober 2021 bei MIXED.