In der allgemeinen Form des Lebens sehe ich jene Form der Zehnten Kunstform verwirklicht, vermöge welcher zugleich ein und ihr Wahres, Schönes und Gutes hervortritt. Aber damit sind jene Fragen nicht beantwortet und der Entwurf einer Zehnten Kunstform nicht abgeschlossen, denn sie fragen ja, inwiefern durch eine Formbestimmung ein und ihr Wahres, Schönes und Gutes hervortrete.
§ 97. Die Beantwortung der ersten Frage als Beantwortung jener Fragen, die das Bestimmungsparadox aufwirft
Inwiefern vermag die Form, welche ich dem begrifflichen Entwurf einer Zehnten Kunstform zugrunde lege, die allgemeine Form des Lebens der Form ihres Mediums, mithin der Form eines Allgemeinen zu entsprechen? Auf diese Frage habe ich eine vorläufige Antwort gegeben. Die allgemeine Form des Lebens entspricht ihrem Medium insofern, als sie die Form eines Allgemeinen schlechthin annimmt. Es existiert eine weitere Reihe von Argumenten, aber das Bedeutendste besteht darin, dass die allgemeine Form des Lebens einen Lösungsansatz für jenes Bestimmungsparadox bereithält, das sich in abstracto auf der Ebene der Begriffe, wie auch in concreto auf der Ebene der Erscheinungen manifestiert. Eine Antwort auf die erste Frage zu finden, heißt folglich auch, eine Antwort zu finden auf die Fragen, welche das Bestimmungsparadox aufwirft.
§ 98. Bestimmungsmacht, Bestimmungskraft, Bestimmungsvollzug
Solches manifestiert sich in concreto in der ersten und letzten Frage, die sich der Zehnten Kunstform stellt: Welche Handlungen ermöglicht sie, welche Handlungen ermöglicht sie nicht? Anders formuliert: Wie viel Bestimmungsmacht erhält der Rezipient, wie viel Bestimmungsmacht erhält das Kunstwerk? Wir haben es folglich mit der Teilhabe zweier Bestimmungskräfte an einem Bestimmungsvollzug zu tun. Das Bestimmungsparadox erscheint in concreto als etwas, das eine Aufteilung der Bestimmungsmacht nicht bloß notwendig, sondern auch schwierig macht, weshalb eine solche Aufteilung, wenn sie glückt, zu den bedeutendsten Leistungen des Kunstwerks gezählt werden kann.
§ 99. Die Offenheit des Kunstwerks
In traditionellen Kunstformen stellt sich eine solche Frage gar nicht, weil die Aufteilung der Bestimmungsmacht von vornherein feststeht. Dem Rezipienten eines literarischen Werks oder musikalischen Werks würde es nicht einfallen, in das Syntagma und Paradigma eines Textes oder einer Partitur einzugreifen. Seine Bestimmungsmacht erstreckt sich allein auf das Reich des Geistigen, ist aber dennoch beträchtlich, zumal er eine vorgestellte Welt schafft, von all den anderen Geisteskräften, die von der Lektüre angeregt wirksam werden, ganz zu schweigen. Man könnte hierüber zur Auffassung gelangen, dass dasjenige, was zur Beschäftigung mit Kunstwerken anregt, in solchem Bestimmungsvollzug selbst gründet. Aus dieser Perspektive stellt das Kunstwerk nichts Abgeschlossenes dar. Ganz im Gegenteil. Es besitzt eine radikale Offenheit und stellt einen weiten Raum zur Verfügung, innerhalb dessen sich der Geist frei bewegt und schöpferisch tätig ist.
§ 100. Über das Wechselspiel von Gabe und Empfängnis
Der Bestimmungsvollzug der Kunst besitzt wie der Bestimmungsvollzug des Spiels drei Strukturelemente. Denn erst wenn sich jemand zum Kunstwerk ins Verhältnis setzt, kommt es ganz zu sich. Das Kunstwerk steht wie das Regelwerk des Spiels nicht allein, es stellt immer schon eine Einheit dar, die in der Vermittlung von Mensch und Kunstwerk, Mensch und Regelwerk aufgeht. Aber das Anregende dieser Vermittlung liegt in solcher selbst. Sie kann nur dadurch begreiflich werden, dass der Mensch, der mit dem Kunst- oder Regelwerk in Berührung kommt, bei solchem Bestimmungsvollzug zugleich etwas gibt und etwas empfängt. Dies Wechselspiel von Gabe und Empfängnis liegt allen Verhältnisformen zugrunde. Die Entdeckung als Durchmessen des Möglichkeitsraums der Verhältnisformen, die Geist und Welt eröffnen, geschieht vermittels desselben.