§ 41. Das Wirkliche, Sinnliche und Geistige als die drei Dimensionen des Lebens

Ich sehe nämlich gerade in diesen Qualitäten die drei Dimensionen des Lebens entfaltet. Für eine solche Einteilung steht die Geschichte der Philosophie selbst Modell. So lassen sich Kants Kritiken, die Bausteine seines philosophischen Systems, diesen drei Qualitäten zuordnen, aber bereits bei Platon zeichnet sich eine ähnliche Dreiteilung ab in der Vorstellung dreier höchster Ideen, der Idee des Wahren, der Idee des Schönen und der Idee des Guten. Denn das Wahre ist vornehmlich eine Kategorie des Geistigen, das Schöne vornehmlich eine Kategorie des Sinnlichen und das Gute vornehmlich eine Kategorie des Wirklichen.

§ 42. Die drei Dimensionen des Lebens aus philosophiegeschichtlicher Perspektive

Während die Verhältnisqualität des Geistigen die Philosophie seit ihren Anfängen beschäftigt hat, entstand ein Bewusstsein für die Bedeutsamkeit des Sinnlichen als einer eigenen Form von Erkenntnis erst spät und mit der Gründung einer neuen philosophischen Teildisziplin, der Ästhetik. Dass dieser Vorgang eines Bewusstwerdens der Bedeutsamkeit des Sinnlichen noch nicht abgeschlossen ist, zeigt sich an der jüngeren Wissensgeschichte, namentlich der Ikonischen Wende, die sich in ihren Theorieentwürfen darum bemüht, die Eigenständigkeit und Bedeutung einer Sprache der Bilder begrifflich herauszuarbeiten. Innerhalb der Wissensgeschichte hat die dritte Verhältnisqualität, diejenige des Wirklichen, insofern einen Sonderstatus, als für sie nicht nur keine Begrifflichkeit existiert, sie wurde als erkenntnisstiftende Verhältnisqualität, von wenigen Ausnahmen abgesehen, noch nicht einmal entdeckt. Das Wirkliche stellt die Grundlage für jedwede Art von Geschehnis dar, für den Menschen wird sie in Gestalt der Handlung bedeutsam. Auf diese Weise bildet das Wirkliche zwar das Fundament der praktischen Philosophie, aber inwiefern der Umstand, dass wir handeln, dass wir im handelnden Austausch mit der Welt stehen, zur Erkenntnis beiträgt, diese Frage wurde, zumindest in diesem Kontext und in dieser radikalen Form, noch gar nicht gestellt.

§ 44. Wodurch sich der Umfang einer Verhältnisform definiert

Das Kriterium der Quantität betrifft den Ort, welchen die Verhältnisform zwischen dem Allgemeinen und Besonderen einnimmt, und bestimmt deren Umfang, indem sie diesen Ort zunächst für die drei Verhältnisqualitäten der Verhältnisform bestimmt. Das Allgemeine und Besondere bezeichnen zwei Pole, zwischen denen sich der Grad an Verhältnispotenzialität bestimmt, über welche die Verhältnisqualitäten im Einzelnen und die Verhältnisform im Ganzen verfügt. Setzen wir uns zu einem Stillleben, das einen Korb von Früchten zeigt, ins Verhältnis, so wird solche Verhältnisform, sofern wir bloß betrachten, durch die Verhältnisqualität des Sinnlichen dominiert, deren Umfang sich im Sehen erschöpft. Setzen wir uns hingegen zu einem sich vor uns befindenden realen Korb von Früchten ins Verhältnis, so besteht der Umfang der sinnlichen Verhältnisqualität dieser Verhältnisform nicht bloß im Sehen, sondern der Möglichkeit nach ebenso im Riechen oder Tasten. Die Verhältnisqualität des Sinnlichen hat an Umfang zugenommen, sie ist allgemeiner geworden, und zwar insofern, als in ihr ein Stück mehr jener Möglichkeit zu Tage tritt, welche dieser Verhältnisqualität innewohnt. Deshalb auch die Redeweise von der Verhältnispotenzialität oder dem Umfang, welchen die Verhältnisform im Ganzen aufweist.

§ 45. Zu dem Umfang der Verhältnisform des Lebens

Worin besteht der Charakter des Lebens als einer Verhältnisform? Der Umfang einer Verhältnisform ist definiert durch seine Bedingungen, folglich ist der Umfang der Verhältnisform des Lebens durch Geist und Welt bestimmt, welche als erste und letzte Bedingungen die Grundlage aller Verhältnisformen bilden. Das Leben nimmt als Verhältnisform den größtmöglichen Umfang an und ist als die Form des Allgemeinen schlechthin Maßstab für alle anderen Verhältnisformen, die sich innerhalb ihrer eröffnen. Doch wie steht es um die Gestalt dieser Verhältnisform?