Wenn ein Mensch stirbt, dann bleibt nur noch die Erinnerung an ihn. Aber Erinnerungen sind instabil und steter Veränderung unterworfen: Wer mit Liebe an einen verstorbenen Menschen zurückdenkt, muss zugleich fürchten, dass die Erinnerung verlöscht und dass man ihn auf diese Weise zum zweiten Mal verliert.
Vestige (Deutsch: Überbleibsel, Spur, Rest) erzählt die wahre Geschichte von Lisa Elin, deren Lebenspartner Erik Craighead 40-jährig sehr plötzlich unter tragischen Umständen verschied. Der Regisseur des VR-Films Aaron Bradbury traf Elin und zeichnete in langen Gesprächen auf, wie die junge Frau von ihrem Ehemann und ihrem gemeinsamen Leben erzählt. Dieser Prozess sollte die Trauerarbeit unterstützen und die Erinnerung wachhalten. Er wurde zur Grundlage von Vestige.
Im VR-Film betritt man, von Elins Stimme begleitet, die Erinnerungen der jungen Frau und erlebt Schlüsselszenen ihrer Liebesbeziehung. Dargestellt wird das Paar von zwei professionellen Schauspielern, die mediengerecht in 3D statt mit einer herkömmlichen Kamera eingefangen wurden: Beim Dreh kam ein Tiefensensor und die Software Depthkit zum Einsatz, die bereits für andere namhafte VR-Projekte wie Zero Days VR, TheWaveVR und Terminal 3 verwendet wurde.
Nun ist volumetrische Aufnahmetechnik längst nicht so ausgereift, dass sie ein perfektes 3D-Abbild gefilmter Menschen erstellen kann – auch wenn es bereits recht eindrucksvolle Beispiele gibt. Vestige zielt gar nicht erst auf Wirklichkeitstreue ab und verkehrt die technischen Unvollkommenheiten in ihr Gegenteil, indem sie sie zum Stilmittel macht.
So wird die Unvollständigkeit der digitalen Information zu ästhetischem Selbstzweck: Die Charaktere und Umgebungen erscheinen nicht als realistisches 3D-Hologramm, stattdessen sieht man nichts als Bündel zitternder Lichtstreifen, deren fragile Struktur in der Dunkelheit aufleuchten und die wunderschön aussehen.
Auf diese Weise entwickelt der Film seine ganz eigene Mixed-Reality-Ästhetik, die ihren zweifachen Ursprung nicht leugnet und eine reale und zugleich digitale Anmutung hat. Der VR-Film spiegelt damit nicht nur die Eigenheiten seines Mediums wider, er bildet zugleich akkurat die Eigenschaften jenes Mediums ab, von dem er handelt: der menschlichen Erinnerung als eines prinzipiell unvollständigen, instabilen Gefüges aus Bildern und Emotionen. Somit ist Vestige ein schönes Beispiel dafür, wie Inhalt und Form eines Kunstwerks Hand in Hand gehen können.
Wie sich Menschen erinnern, ist ebenfalls in die Struktur des Films eingelassen: Je nachdem, wo man sich in der Szene aufhält und wohin man blickt, erscheinen ohne merklichen Übergang andere Szenen, gerade so, als würde man assoziieren und von Erinnerung zu Erinnerung springen. So kann man selbst nach wiederholtem Ansehen neue Erinnerungsfragmente entdecken.
Die Lichtfiguren verändern sich, wenn man an sie herantritt: Aus mittlerer Entfernung wirken sie fast real, kommt man ihnen näher, verschwimmen Details und man sieht nur noch vibrierende Lichtstreifen. So wie Erinnerungen, die verwischen, wenn man ihnen nachforscht.
Dieser Beitrag erschien am 08. Dezember 2018 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.