“The Isle of the Dead” – Eine VR-Reise zum Totenreich

Die Toteninsel ist eines der berühmtesten und eindrucksvollsten Motive der Malerei. Der Schweizer Künstler Arnold Böcklin (1827 – 1901) malte fünf Fassungen des Sujets, die sich nur leicht unterscheiden (siehe Wikipedia). Einige der Gemälde haben eine bewegte Geschichte: Das vierte wurde während des Zweiten Weltkriegs zerstört, während die dritte Fassung eine Zeit lang in Hitlers Besitz war. Sie hängt und heute in der Alten Nationalgalerie in Berlin. Die Entwickler der VR-Erfahrung „The Isle of the Dead“ nahmen diese dritte Fassung als Vorlage.

Über Sinn und Zweck von VR-Umsetzungen klassischer Gemälde habe ich vor knapp zwei Jahren am Beispiel einer früheren VR-Adaption von Böcklins Toteninsel nachgedacht und bin dabei auch auf die Bedeutung des Werks eingegangen (siehe Beitrag Wenn aus Bildern Orte werden).

Diese erste VR-Umsetzung des Motivs, eine Koproduktion der SRG und der Schweizer DNA Studios, enttäuschte nach Erscheinen sowohl auf technischer als auch künstlerischer Ebene. Umso besser, dass jetzt eine neue, von ARTE France und der Pariser Medienagentur Les Produits Frais produzierte VR-Adaption greifbar ist, die Böcklin weitaus gerechter wird und auf den 75. Filmfestspielen von Venedig sogar Preis für die beste VR-Story gewonnen hat.

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Die Toteninsel in Virtual Reality. | Bild: Les Produits Frais / ARTE France

Anstatt den VR-Nutzer lediglich in eine 3D-Rekonstruktion des weltberühmten Motivs zu versetzen, sucht die VR-Erfahrung einen eigenen Zugang zu Böcklins Gemälde. Das tut sie durch eine erweiterte Darstellung der Reise zum Totenreich, die das Diesseits umfasst.

Die VR-Erfahrung beginnt in einer Stadtwohnung, in der alles ganz normal erscheint – bis die bekannte Wirklichkeit auseinanderbricht und einer Traumwelt weicht, die glatt aus Christopher Nolans „Inception“ stammen könnte. Die umgebende Stadt und selbst die eigenen vier Wände stürzen in sich zusammen und versinken allmählich in einer Meeresflut.

Aus der Tiefe des grenzenlosen Ozeans steigen Bruchstücke der Zivilisation und antike Ruinen, bis in der Ferne hinter Nebelschwaden die Toteninsel erscheint. Dazu erklingt Sergeis Rachmaninoffs musikalische Interpretation der Toteninsel aus dem Jahr 1908. So ist die Szene an Dramatik kaum mehr zu überbieten.

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Die VR-Erfahrung bildet die Reise zum Totenreich als Übergang nach. | Bild: Les Produits Frais / ARTE France

Die VR-Erfahrung zeigt mehrere Perspektiven: Man steht zunächst selbst im Kahn, während man auf das Eiland zuschwebt. Später erscheint die weiße Figur vor einem, sodass man ihr wie in der klassischen Ansicht des Gemäldes über die Schulter sieht.

In der letzten Szene steht man umschlossen von der halbkreisförmigen Felsformation und nur wenige Meter von der Treppe entfernt, die ins dunkle, von Zypressen und Sträuchern verdeckte Innere der Insel führen. Weiter geht es nicht, denn das Totenreich selbst bleibt den Lebenden verschlossen – im Gemälde und in der Virtual Reality.

Begleitet wird die VR-Erfahrung von einer Stimme, die mehr über Böcklins Motiv und dessen Entstehung erzählt. Das ist zwar durchaus lehrreich, ich hätte mir jedoch gewünscht, dass man den Audiokommentar abschalten kann, um sich voll und ganz auf die VR-Erfahrung einzulassen.

Dieser Beitrag erschien am 07. Juli 2019 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

Wen Virtual Reality glücklich macht

Drei Jahre nach Markstart ist noch immer unklar, ob Virtual Reality eine Zukunft als Spielemedium haben wird. Die Masse der Spieler lässt die Technologie nach wie vor kalt: Nur jeder zwanzigste PS4-Besitzer griff zu einer Playstation VR und gerade einmal ein Prozent aller Steam-Nutzer haben eine VR-Brille an ihren PC angeschlossen.

Ein Durchbruch ist zumindest für die nächsten Jahre nicht zu erwarten. Die Technologie ist längst nicht ausgereift und über Nacht dürften die VR-Brillen nicht so leicht, kabelfrei und hochperformant werden, wie es für ein signifikant größeres Publikum erforderlich wäre.

Aller Kinderkrankheiten zum Trotz: Mir bereitet Virtual Reality noch immer große Freude. Ich habe 2016 viel Geld ausgegeben für die ersten VR-Systeme und ich bereue es nicht. Virtual Reality erfüllte, ja übertraf meine Erwartungen trotz seiner technischen Unzulänglichkeiten. Zumindest bei mir hat die Technologie ein ganz bestimmtes Bedürfnis befriedigt. Aus diesem lässt sich wahrscheinlich schließen, für wen VR-Brillen schon heute eine lohnenswerte Anschaffung sind.

Ich spiele seit dreißig Jahren Videospiele. Doch das allein erklärt nicht, weshalb mich Virtual Reality so fasziniert. An Videospielen interessiert mich weniger die Spielmechanik. Auch habe ich kein Verlangen, nächtelang zu spielen, um mich mit anderen Gamern zu messen.

Was mich an Videospielen fasziniert, ist ihr Kunstcharakter: dass ein Videospiel Wirklichkeit auf eine neue Weise darstellt. Anders gesagt: Videospiele lassen mich etwas wissen, spüren oder tun, was ich so noch nicht gewusst, gespürt oder getan habe. Sie erweitern meinen Erfahrungshorizont und verändern damit, wie ich die Welt wahrnehme.

Natürlich interessiere ich mich auch für Technologie, aber nicht um ihrer selbst willen. Ich finde sie interessant, weil sie die Grundlage für neue Erfahrungen liefert. Genau das tut Virtual Reality: Sie schafft eine neue Perspektive, die das menschliche Streben nach neuen Erfahrungen befriedigt.

Mein Videospielfaszination hat vor zehn Jahren stark nachgelassen. Zu konventionalisiert und festgefahren schienen mir die Videospiele, wie Aufgüsse der immergleichen Spielkonzepte und Spielemarken. Was meine Leidenschaft für Videospiele erneut weckte, war die damals aufkommende Welle experimentierfreudiger Indie- und Kunstspiele und ein paar Jahre später Virtual Reality.

Wer die gleiche Neugierde und Experimentierfreude spürt, Kunst und neue Medienerfahrungen liebt und vor Technik nicht zurückschreckt, dürfte von Virtual Reality reich belohnt werden. Für die oder den könnte sich damit eine neue, aufregende Welt auftun.

Dieser Beitrag erschien am 28. Juni 2020 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

“I, Philip” – Im Bewusstsein einer Künstlichen Intelligenz

Kann eine Künstliche Intelligenz fühlen und denken, ein Bewusstsein haben? Was ist das überhaupt, ein Bewusstsein? Und inwiefern macht es das Menschsein aus? Diese großen Fragen stellt „I, Philip“, ein 360-Grad-Film, den jeder VR-Enthusiast gesehen haben sollte.

2005 schuf der amerikanische Robotiker David Hanson einen Androiden nach dem Vorbild des 1982 verstorbenen, berühmten Sci-Fi-Autor Philip K. Dick. Die Sprachverarbeitungs-KI des Roboters fütterte Hanson mit Tausenden von Seiten aus Dicks Tagebüchern, Briefen und Werken.

Im selben Jahr verschwand der Kopf des Roboters unter mysteriösen Umständen. Der 360-Grad-Film „I, Philip“ ist von dieser wahren Begebenheit inspiriert und stellt sich die Frage, wie die Welt für den Androiden ausgesehen haben mochte, gesetzt, er hätte ein Bewusstsein entwickelt.

Zu Beginn erlebe ich durch die VR-Brille mit, wie sich die Realität des Roboters bruchstückhaft zusammensetzt. Philip kommt in einem Forschungslabor zu Bewusstsein und sieht als Erstes seine Schöpfer, die ihn eifrig befragen. Eine ungewöhnliche Geburt. Er kann sich umsehen, aber besitzt keinen Körper, mit dem er aufstehen und mit der Welt interagieren kann. Das Gleiche trifft auf mich zu, den Zuschauer eines 360-Grad-Films, sodass ich mich in den Roboter einfühlen kann. Philips Wissen, seine Erinnerungen sind nicht erworben, sondern einprogrammiert und somit fremd. So kommen sie auch uns vor, wenn wir sie durch die VR-Brille erleben.

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Die Welt, wie sie Philip wahrnimmt. Und wir. | Bild: OKIO Studio, Arte

In einer anderen Szene führt der Robotiker Hanson den Androiden vor versammeltem Publikum vor. Ein Mann fragt Philip, ob er denken könne. Die KI sagt: „Viele Menschen fragen mich, ob ich in der Lage bin, Entscheidungen zu treffen oder ob alles programmiert ist. Meine Antwort ist: Jeder Mensch, jedes Tier und jeder Roboter ist zu einem gewissen Grad programmiert.“

Als Betrachter eines 360-Grad-Films habe ich den gleichen, stark eingeschränkten Weltzugang wie der Roboter. Das stärkt die Immersion und die Empathie für die ins Dasein geworfene Künstliche Intelligenz und lässt den Film plausibler wirken. Würden wir uns in einem Menschen wiederfinden, dann würde das die Illusion zunichtemachen. Man würde sich zu Recht fragen: Wieso kann ich mich nicht bewegen, nicht mit der Welt interagieren?

Später beginnt der Roboter zu assoziieren und Erinnerungsfetzen aus dem Leben des echten Philip K. Dick tauchen in seinem Bewusstsein auf. Die KI erlebt Krankheit, Tod und Liebe und ich entdecke durch die Augen der KI ein Stück weit von Neuem, was es heißt, ein Mensch zu sein. Das ist es, was I, Philip so ergreifend macht.

Dieser Beitrag erschien am 30. März 2019 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

Das große Virtual-Reality-Versprechen: Was bleibt vom Hype?

Der Journalist David Ewalt erlebte den großen Virtual-Reality-Hype hautnah mit. In seinem Buch “Defying Reality: The Inside Story of the Virtual Reality Revolution” berichtet er über eine Revolution, die keine werden sollte.

Das Buch beginnt euphorisch. Der Autor schildert, was ihn dazu brachte, ein Buch über die Anfänge der jüngsten VR-Welle zu schreiben: Ewalt sitzt in einem Hotelzimmer in Los Angeles und setzt sich zum ersten Mal eine Oculus Rift auf. Das war 2014, einige Monate nachdem Facebook für drei Milliarden US-Dollar Oculus gekauft und damit einen gewaltigen Hype losgetreten hatte.

Das VR-Erlebnis machte aus Ewalt einen begeisterten Verfechter der Technologie. Im Prolog spricht der Journalist vom Anbruch einer neuen Ära, einem Moment in der Mediengeschichte, der mindestens so bedeutend sei wie die Geburtsstunde des Radios oder Fernsehens. Virtual Reality, so der Autor, werde eines Tages den Alltag von Milliarden Menschen prägen, ja sie stelle gar den Anfang eines fundamentalen Wandels der menschlichen Existenz dar.

Die Euphorie ist Programm: Der Autor wirbt damit ebenso für Virtual Reality wie für sein Buch. Dass Virtual Reality später nicht annähernd zu der von Vermarktern, Journalisten und Analysten ausgerufenen Medienrevolution wurde, passt nicht zu Ewalts Prognosen. Der Kontrast zwischen dem, was der Autor zu Beginn des Buchprojekts von Virtual Reality erwartete und dem, was gegen dessen Ende eintraf, fällt auf.

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Das Buch dokumentiert die wichtigsten Ereignisse der VR-Industrie zwischen 2012 und Anfang 2017: von Palmer Luckeys Kickstarter-Kampagne über die Facebook-Übernahme und den Marktstart der ersten Generation VR-Brillen bis hin zum ersten Urteil im Zenimax-Prozess. Doch bevor der Autor mit seiner Chronologie beginnt, holt er weit aus und liefert eine kleine Geschichte immersiver Medientechniken.

Ewalt beginnt bei den Höhlenmalereien von Lascaux, beschreibt die Anfänge der Panoramamalerei im 18. Jahrhundert, behandelt die Erfindung und Entwicklung des Stereoskops und erzählt von den 3D-Kinofilmen der 20er und 50er Jahre. Interessant: Schon damals sorgte der Anblick von 3D-Brillen tragenden Menschen für mehr Aufsehen als die Inhalte selbst. Das legt ein von Ewalt zitierter Artikel des Life-Magazins aus dem Jahr 1952 nahe.

Danach handelt der Autor die Anfänge der VR-Technologie ab: Er spricht von Morton Heiligs Sensorama, Ivan Sutherlands früher AR-Brille, das als”Sword of Damocles” in die Geschichte einging, Thomas Furness’ Flugsimulatoren und dem 1983 vom VR-Pionier Jaron Lanier gegründeten Unternehmen VPL Research, das eines der ersten war, das VR-Technologie herstellte und verkaufte, darunter VR-Brillen, Datenhandschuhe und Ganzkörpertrackinganzüge.

Die Hype-Zyklen und das Scheitern der Technologie in den 80er und 90er Jahren samt popkultureller Sci-Fi-Fantasien in Form von Büchern und Filmen wird ebenfalls thematisiert. Die beiden großen Krisen spiegeln sich in der Entwicklung von VPL Research wider, das einmal 1990 und erneut 1998 Insolvenz anmelden musste. Auf das zweite Mal folgte das endgültige Aus: Sun Microsystems erwarb die Patente, brachte jedoch niemals ein VR-Produkt auf den Markt. Virtual Reality verschwand wieder von der Bildfläche.

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2016 kamen die ersten VR-Brillen für Endverbraucher auf den Markt: HTC Vive, Playstation VR und Oculus Rift (v.l.n.r.) | Bild: HTC, Sony, Facebook

Mehr als 15 Jahre sollten vergehen, bis sich Virtual Reality erneut ernsthaft anschickte, den Massenmarkt zu erobern. Hier beginnt das Herzstück des Buches und die Geschichte Palmer Luckeys, der mit 19 Jahren Oculus VR gründete und zwei Jahre später durch die Facebook-Akquisition über Nacht zum Multimillionär wurde. Ewalt stellt die Entwicklung aus Oculus’ Perspektive dar und schenkt den Anfängen von Valves VR-Forschung weniger Aufmerksamkeit, obwohl diese unter der Leitung Michael Abrashs spätestens ab 2011 und unabhängig von Palmer Luckey an Fahrt aufnahm. Das hängt wohl damit zusammen, dass Oculus und Luckey von Anfang im medialen Rampenlicht standen und Valve eher im Hintergrund agierte.

Die Rekapitulation dieser aufregenden Zeit, von Luckeys Kickstarter-Kampagne im Jahre 2012 bis zum Marktstart der ersten Generation VR-Brillen, bildet den Höhepunkt des Buches und wartet mit einer Vielzahl interessanter Details und Anekdoten auf. Ewalt beschreibt hier die Geburtsstunde einer Industrie, die von Brüchen, Allianzen und einem atemlosen Wettrennen um die beste Ausgangsposition geprägt ist. Zur Geschichte dieser Jahre gehört die Erzählung über einen beispiellosen Hype. Ewalt gibt diesem viel Raum, jedoch ohne kritische Distanz. In ausufernder Weise und mit der unverhohlenen Begeisterung eines Kindes, vor dem sich eine neue Welt auftut, beschreibt der Autor über mehrere Kapitel hinweg eine Flut von Startups, VR-Erfahrungen und hochfliegenden Geschäftsideen.

Dieser unverstellte, forschende Blick dürfte für den praxisfremden VR-Laien oder Historiker interessant sein, für Marktbeobachter und VR-Enthusiasten der ersten Stunde sind die seitenlangen Ausführungen hingegen nicht mehr als kalter (Hype-)Kaffee. Der in diesen Jahren herrschende überbordende Enthusiasmus und die unrealistischen Markterwartungen, die ihren Niederschlag in einer Vielzahl weltfremder Produkte fanden, wirken aus heutiger Sicht bizarr. Die Mehrheit der im Buch erwähnten Unternehmen dürften mittlerweile entweder pleitegegangen oder in der Bedeutungslosigkeit versunken sein. Für die ersten, frühen VR-Erfahrungen, die damals noch als revolutionär galten, hat man heute kein müdes Lächeln mehr übrig.

In gesonderten Kapiteln geht der Autor auf die ersten VR-Filme, VR-Pornografie und Augmented Reality ein. In letzterem kommt er auf Magic Leap zu sprechen und tappt voll in die Werbefalle: Die AR-Brille des Unternehmens wird als technisches Wunder beschrieben, das die Tech-Industrie umkrempeln und sämtliche Monitore ersetzen soll. Doch auch hier kam bekanntlich alles anders als erwartet.

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Der Hype um AR-Brillen war vielleicht noch größer und verschlang im Falle von Magic Leap Milliarden an Investitionskapital. Das Produkt selbst floppte am Markt.  | Bild: Magic Leap

Das Ausbleiben des großen VR-Markterfolgs wird eher am Rande und gegen Ende des Buchs zum Thema. Das überrascht nicht, schließlich widerspricht das verhaltene Interesse seitens Konsumenten der eingangs aufgestellten Prämisse, dass Virtual Reality eine disruptive, mediale Revolution werden würde. “Trotz des ganzen Hypes und all den Versprechen: Virtual Reality hat die Welt nicht verändert und sie wird es auch nicht auf absehbare Zeit. Die Industrie und die Technologie steckt noch immer in den Kinderschuhen”, schreibt Ewalt auf der letzten Seite.

Defying Reality ist ein gutes Buch für all jene, die einen Einstieg in die Geschichte der Virtual Reality suchen oder mehr Einzelheiten über die Anfänge der dritten und jüngsten VR-Welle erfahren möchten. Gerade diese Kapitel lesen sich selbst für VR-Kenner äußerst spannend. Wer jedoch eine kritische oder vertiefte Auseinandersetzung mit den Entwicklungen dieser Jahre sucht, wird nicht fündig: Defying Reality ist noch ganz im Geiste des Hypes geschrieben und nutzt die gleichen rhetorischen Mittel wie die Marktschreier, ohne sie zu hinterfragen.

Dieser Beitrag erschien am 27. Januar 2019 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

Ist weniger Virtual Reality eigentlich mehr?

Virtual Reality soll in der maximalen Ausbaustufe sämtliche Sinnesreize simulieren. Die Umsetzung dieser Vision mittels Laufmaschinen und haptischer Handschuhe ist teuer, aufwendig und technisch vergleichsweise primitiv. Doch brauchen wir den ganzen Krempel überhaupt, um uns glaubhaft in eine andere Welt zu versetzen?

Als der große Hype um Virtual Reality einsetzte, hieß es, die Matrix sei nur noch eine Frage der Zeit. Wie lässt es sich anders erklären, dass Investoren Abermillionen US-Dollar in die Entwicklung exotischen VR-Zubehörs steckten, von dem man bei nüchterner Betrachtung annehmen musste, dass sie keine Käufer finden werden?

Knapp zehn Jahre später sind wir der Matrix kaum näher gekommen: Während sich VR-Brillen konstant weiterentwickeln und unseren Augen und Ohren eine immer lebensechtere Welt vorgaukeln, sind bei der Simulation anderer Sinne keine signifikanten Fortschritte zu verzeichnen.

Laufmaschinen sind groß, laut und schränken die Bewegungsfreiheit zu sehr ein. Haptische Handschuhe mit einem einigermaßen realistischen Tastgefühl sind so schwer und wuchtig, dass man fremde Hilfe braucht, um sie anzulegen. Diesen und ähnlichen Produkten ist eines gemein: Das Mehr an Immersion rechtfertigt den Aufwand und die Anschaffungskosten nicht. Der Matrix-Vision wird man sich wohl nur durch eine Gehirnschnittstelle nähern können und die bleibt Science-Fiction.

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Die haptischen Handschuhe des Start-ups HaptX gelten als die fortschrittlichsten Geräte dieser Kategorie.

Die gute Nachricht ist, dass wir keinen Hirnchip oder dergleichen brauchen, um uns glaubhaft in andere Welten zu versetzen. Unser Hirn leistet das von sich aus. Man denke an die imaginären Welten, die beim Lesen entstehen oder noch basaler daran, was bei der Wahrnehmung passiert: Das Hirn fügt unterschiedlichste Sinneseindrücke zu einem stabilen Ganzen zusammen, das wir „Realität“ nennen.

Nutzen wir Virtual Reality, so greift der gleiche kognitive Mechanismus. Nur dank der Interpretationskunst unseres Gehirns entsteht zum Beispiel das Gefühl, dass wir uns durch einen Raum bewegen, obwohl wir in Wirklichkeit mit einer VR-Brille im Gesicht auf einem Stuhl sitzen.

Jedes immersive Medium abstrahiert mehr oder weniger von realen Sinnesreizen. Das wird auf lange Zeit auch Virtual Reality tun. Jedenfalls so lange, bis eine Technologie auftaucht, die dem Hardware-Overkill ein Ende setzt.

Bis dahin ist der Virtual Reality mit einem bescheideneren Anspruch als dem einer perfekten Simulation besser gedient. Zum Beispiel mit dem eines Mediums, das uns digitale Welten räumlicher und körperlicher erleben lässt als andere technische Medien. Das leistet Virtual Reality schon jetzt – ohne Laufmaschinen, haptische Handschuhe und ähnlichen Schnickschnack.

Dieser Beitrag erschien am 27. Dezember 2018 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.