§ 70. Zu den Grenzen der Zehnten Kunstform

Der Mensch schafft Artefakte, die Fragmente des Lebens realisieren, das heißt stets auch dessen Komplexität reduzieren. Denn alles, was erscheint, sei es natürlichen oder künstlichen Ursprungs, verweist auf das Leben, in das es eingelassen ist. Dies gilt auch für die Zehnte Kunstform, welche zwar die allgemeine Form des Lebens annimmt, aber wie der Begriff nahelegt, auch nur dessen Form und auch solches unvollständig. Dennoch erwächst hieraus eine bedeutende Frage, und zwar diejenige nach der Form, welche das Leben unter dem Vorzeichen der Kunst annimmt, den Umstand, dass das Leben, genauer: die Welt zum Gegenstand gestalterischer Kräfte wird.

§ 71. Die Welt als Gegenstand der Zehnten Kunstform. Die gegebene Welt und die vorgestellte Welt. Die zwei großen Sprünge in der Mediengeschichte.

Die Form von Artefakt, welche der Zehnten Kunstform als einer Verhältnisform zugrunde liegt, zeichnet sich dadurch aus, dass es das Wirkliche und Sinnliche zum ersten Mal in jene Einheit zurückführt, welche uns in Gestalt der gegebenen Welt begegnet, wodurch das Welthafte der Welt wie nie zuvor unter die Bedingungen der Herstellbarkeit und Formbarkeit tritt. Man könnte sagen, dass diese Entwicklung einen großen Sprung in der Mediengeschichte darstellt, vermutlich sogar den größten Sprung seit der Entstehung der Sprache. Man versuche sich einmal vorzustellen, dass die Sprache für den Geist dieselbe Funktion erfülle wie ein Tonsystem für die Musik, dergestalt, dass die Worte als dessen Notationselement nicht etwa Klängen, sondern Vorstellungen entsprechen. Die Literatur könnte man sich dann als eine Kunstform denken, deren Handwerk darin besteht, etwas zu schaffen, das man Vorstellungspartituren nennen könnte, die in einer kunstvollen Lenkung sämtlicher geistiger Vermögen besteht, insbesondere aber darin, im Kopfe des Lesers eine vorgestellte Welt hervorzubringen. Man könnte folglich sagen, dass mit der Entstehung der Sprache und deren ureigener Kunstform, der Literatur, die vorgestellte Welt wie noch nie zuvor unter die Bedingungen der Herstellbarkeit und Formbarkeit trat, geradeso wie mit dem Computer und dessen ureigener Kunstform die gegebene Welt. Dass das Hervortreten dieser Kunstformen einen großen Sprung in der Mediengeschichte darstellt, liegt in der Ganzheitlichkeit der Erfahrungen, die sie ermöglichen. Diese Ganzheitlichkeit gründet nicht bloß darin, dass beide Kunstformen in der Lage sind, Welten zu schaffen, sie gründet vielmehr darin, dass diese Kunstformen vermöge der Welten, die sie schaffen, aus Geist und Welt als den beiden dem Leben zugrundeliegenden Wirkungsgrössen ganzheitlich zu schöpfen und diese Ganzheitlichkeit für sich fruchtbar zu machen verstehen.

§ 72. Das ludologische und das narratologische Paradigma

Tritt ein neues Medium hervor, so sucht die Wissenschaft es sich zunächst dadurch begreiflich zu machen, dass sie das Medium von vertrauten Erscheinungen herleitet. Für die Wissenschaft, die sich mit dem befasst, was man gemeinhin das Computerspiel nennt, gab es vornehmlich zwei solcher Phänomene: das Spiel und die Erzählung. Hieraus erwuchsen das ludologische Paradigma, wonach das Computerspiel als eine Form des Spiels aufzufassen sei, und das narratologische Paradigma, wonach das Computerspiel als eine Form der Erzählung aufzufassen sei.

§ 73. Was die junge Wissenschaft auszeichnet, ist die Unmöglichkeit einer widerspruchsfreien Bestimmung ihres Gegenstandes

Ein solches Verfahren entspricht zwar durchaus den Gewohnheiten der Wissenschaft, bemerkenswert aber ist in diesem Falle, wie unterschiedlich die Phänomene sind, an denen man sich orientierte, denn es wird nicht unmittelbar einsichtig, was Spiel und Erzählung gemein haben, ja man könnte, wie in einigen frühen Arbeiten geschehen, die Auffassung vertreten, es handle sich um Gegensätze, wofür die Schwierigkeit spricht, etwas zu denken, das im engeren Sinne sowohl Spiel als auch Erzählung ist. Das Erste, was die junge Wissenschaft ans Licht brachte, war demzufolge ein Widerspruch, ein Widerspruch, der von solcher Tragweite ist, dass ihre Einheit und damit letztlich ihr Status als Wissenschaft infrage gestellt werden muss, da sie nicht in der Lage ist, ihren Gegenstand widerspruchsfrei zu bestimmen. Wir haben es mit einer Wissenschaft zu tun, die sich gegenüber den anderen Wissenschaften dadurch auszeichnet, dass sie ihren Gegenstand nicht bloß nicht bestimmen kann, die maßgeblichen Bestimmungsversuche stehen überdies in einem Widerspruch zueinander.

§ 74. Zur Notwendigkeit dieser Widersprüchlichkeit

Nun wäre es verfehlt, zu glauben, dass dieser Widerspruch auf Versäumnisse jener Wissenschaft zurückzuführen ist, denn er verläuft ebenso durch deren Mitte wie durch die Mitte ihres Gegenstands selbst, er manifestiert sich sowohl in abstracto auf der Ebene der Begriffe als auch in concreto auf der Ebene der Erscheinungen. Dass die junge Wissenschaft ausgerechnet zwei Paradigmen hervorbrachte, die überdies im Widerspruch zueinander stehen, ist so gesehen bloße Folge einer Auseinandersetzung mit ihrem Gegenstand und Ausdruck jener beiden widerstreitenden Dimensionen, welche den Gegenstand durchherrschen und für welche der Begriff des Spiels und der Begriff der Erzählung nur eine mögliche Form von Bezeichnung ist. Die Schwierigkeit, eine Einheit von Spiel und Erzählung zu denken, könnte man auf den Widerspruch zurückführen, dass Ersteres letztlich darin gründet, dass man bestimme, während Letzteres letztlich darin gründet, dass es bestimme.