§ 124. Die Komplizenschaft des Rezipienten. Die Welt und das Kunstwerk sind so gearbeitet, dass sie zu dem Geist hin, der sie durchdringt, auf sonderbare Weise geöffnet sind

Dadurch, dass eine Zehnte Kunstform in Erscheinung tritt, infolgedessen der Künstler zu einem Demiurgen und der Rezipient zu einem Handlungsträger innerhalb eines weltgewordenen Kunstwerks wird, ist die klassische Rollenverteilung von Künstler und Rezipienten nicht infrage gestellt, sie bedarf lediglich einer erneuten begrifflichen Prüfung. Es gibt zweifellos einen Unterschied zwischen demjenigen, der ein Kunstwerk hervorbringt, und demjenigen, der zu einem Kunstwerk ins Verhältnis tritt, aber dieser Unterschied ist nicht darin zu finden, dass der eine aktiv und der andere passiv ist. Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass es genauso schwierig ist, ein gutes Buch zu lesen, wie es zu schreiben. Der Rezipient ist nie ein bloßer Rezipient gewesen, sondern stets und notwendig ein Komplize des Künstlers im strengsten Sinne des Wortes. Wie die Welt durch ihre Beschaffenheit auf sonderbare Weise dem Geist entgegenkommt und dieser durch seine Beschaffenheit der Welt, dergestalt, dass beide in der untrennbaren Einheit des Lebens zueinander ins Verhältnis treten können, so kommt das Kunstwerk dem Geist und der Geist dem Kunstwerk entgegen und in der hieraus entstehenden Einheit des Bestimmungsvollzugs als eines Wechselspiels von Gabe und Empfängnis findet die Kunst zu sich.