§ 69. Zu der Unendlichkeit, an die Kunstwerke rühren

Mit der Wucht, mit der das Meer durch einen Riss in ein Gefäß dringt, das auf seinem tiefsten Grund liegt, mit derselben Gewalt drückt das Leben sich in das Kunstwerk hinein. Denn die Unendlichkeit, die uns in einem Kunstwerk begegnet, ist nichts anderes als das Leben, an das es rührt. Deshalb ist es eine irreführende Vorstellung, dass ein Künstler oder selbst ein Philosoph sein eigenes Werk zur Gänze verstehen oder über dasselbe vollständig Rechenschaft ablegen könne. Wäre es möglich, Kant zum Leben zu erwecken, so dass er leibhaftig und seiner vollen Geisteskraft teilhaftig vor uns erscheinen würde, um von ihm die endgültigen Antworten auf all jene Fragen zu erhalten, welche die Philosophie seit Menschengedenken umtreibt, so würde er wohl nichts anderes tun, als auf sein Werk zu verweisen. Es besteht sogar die Möglichkeit, dass ein Künstler oder Philosoph seinem Werk Unrecht tut, wenn er sich dazu herablässt, es für andere zu deuten, ja selbst die Absichten, die er mit dessen Erschaffung verfolgte, können für dasselbe ganz unerheblich sein. Das Werk muss für sich selbst sprechen, denn im Werk hat das Leben einen Abdruck hinterlassen.

§ 70. Zu den Grenzen der Zehnten Kunstform

Der Mensch schafft Artefakte, die Fragmente des Lebens realisieren, das heißt stets auch dessen Komplexität reduzieren. Denn alles, was erscheint, sei es natürlichen oder künstlichen Ursprungs, verweist auf das Leben, in das es eingelassen ist. Dies gilt auch für die Zehnte Kunstform, welche zwar die allgemeine Form des Lebens annimmt, aber wie der Begriff nahelegt, auch nur dessen Form und auch solches unvollständig. Dennoch erwächst hieraus eine bedeutende Frage, und zwar diejenige nach der Form, welche das Leben unter dem Vorzeichen der Kunst annimmt, den Umstand, dass das Leben, genauer: die Welt zum Gegenstand gestalterischer Kräfte wird.

§ 71. Die Welt als Gegenstand der Zehnten Kunstform. Die gegebene Welt und die vorgestellte Welt. Die zwei großen Sprünge in der Mediengeschichte.

Die Form von Artefakt, welche der Zehnten Kunstform als einer Verhältnisform zugrunde liegt, zeichnet sich dadurch aus, dass es das Wirkliche und Sinnliche zum ersten Mal in jene Einheit zurückführt, welche uns in Gestalt der gegebenen Welt begegnet, wodurch das Welthafte der Welt wie nie zuvor unter die Bedingungen der Herstellbarkeit und Formbarkeit tritt. Man könnte sagen, dass diese Entwicklung einen großen Sprung in der Mediengeschichte darstellt, vermutlich sogar den größten Sprung seit der Entstehung der Sprache. Man versuche sich einmal vorzustellen, dass die Sprache für den Geist dieselbe Funktion erfülle wie ein Tonsystem für die Musik, dergestalt, dass die Worte als dessen Notationselement nicht etwa Klängen, sondern Vorstellungen entsprechen. Die Literatur könnte man sich dann als eine Kunstform denken, deren Handwerk darin besteht, etwas zu schaffen, das man Vorstellungspartituren nennen könnte, die in einer kunstvollen Lenkung sämtlicher geistiger Vermögen besteht, insbesondere aber darin, im Kopfe des Lesers eine vorgestellte Welt hervorzubringen. Man könnte folglich sagen, dass mit der Entstehung der Sprache und deren ureigener Kunstform, der Literatur, die vorgestellte Welt wie noch nie zuvor unter die Bedingungen der Herstellbarkeit und Formbarkeit trat, geradeso wie mit dem Computer und dessen ureigener Kunstform die gegebene Welt. Dass das Hervortreten dieser Kunstformen einen großen Sprung in der Mediengeschichte darstellt, liegt in der Ganzheitlichkeit der Erfahrungen, die sie ermöglichen. Diese Ganzheitlichkeit gründet nicht bloß darin, dass beide Kunstformen in der Lage sind, Welten zu schaffen, sie gründet vielmehr darin, dass diese Kunstformen vermöge der Welten, die sie schaffen, aus Geist und Welt als den beiden dem Leben zugrundeliegenden Wirkungsgrössen ganzheitlich zu schöpfen und diese Ganzheitlichkeit für sich fruchtbar zu machen verstehen.

§ 72. Das ludologische und das narratologische Paradigma

Tritt ein neues Medium hervor, so sucht die Wissenschaft es sich zunächst dadurch begreiflich zu machen, dass sie das Medium von vertrauten Erscheinungen herleitet. Für die Wissenschaft, die sich mit dem befasst, was man gemeinhin das Computerspiel nennt, gab es vornehmlich zwei solcher Phänomene: das Spiel und die Erzählung. Hieraus erwuchsen das ludologische Paradigma, wonach das Computerspiel als eine Form des Spiels aufzufassen sei, und das narratologische Paradigma, wonach das Computerspiel als eine Form der Erzählung aufzufassen sei.

§ 73. Was die junge Wissenschaft auszeichnet, ist die Unmöglichkeit einer widerspruchsfreien Bestimmung ihres Gegenstandes

Ein solches Verfahren entspricht zwar durchaus den Gewohnheiten der Wissenschaft, bemerkenswert aber ist in diesem Falle, wie unterschiedlich die Phänomene sind, an denen man sich orientierte, denn es wird nicht unmittelbar einsichtig, was Spiel und Erzählung gemein haben, ja man könnte, wie in einigen frühen Arbeiten geschehen, die Auffassung vertreten, es handle sich um Gegensätze, wofür die Schwierigkeit spricht, etwas zu denken, das im engeren Sinne sowohl Spiel als auch Erzählung ist. Das Erste, was die junge Wissenschaft ans Licht brachte, war demzufolge ein Widerspruch, ein Widerspruch, der von solcher Tragweite ist, dass ihre Einheit und damit letztlich ihr Status als Wissenschaft infrage gestellt werden muss, da sie nicht in der Lage ist, ihren Gegenstand widerspruchsfrei zu bestimmen. Wir haben es mit einer Wissenschaft zu tun, die sich gegenüber den anderen Wissenschaften dadurch auszeichnet, dass sie ihren Gegenstand nicht bloß nicht bestimmen kann, die maßgeblichen Bestimmungsversuche stehen überdies in einem Widerspruch zueinander.