Kann Virtual Reality das Unbeschreibliche darstellen?

Eines Tages, so spekuliert der Historiker und Podcaster Dan Carlin, werde man Erfahrungen abspeichern können. In die Geschichtsbücher würden dann neben Texten, Bildern und Filmen auch Erlebnisse eingehen. Doch was genau vermittelten diese Erfahrungen?

Die VR-Erfahrung War Remains wird als „immersive Erinnerung“ beschrieben. Erinnert wird der Schrecken des Ersten Weltkriegs. In einer Reihe kurzer, ausschnitthafter Szenen erleben wir die grausamsten Facetten des Grabenkriegs: den fast schon sicheren Tod auf zerbombten Schlachtfeldern, den unablässigen Artilleriebeschuss und Giftgasangriffe. Begleitet wird die Erfahrung von der eindrucksvollen Stimme und teils wortgewaltigen Beschreibungen Dan Carlins, der mit seinem Podcast Hardcore History nicht von ungefähr ein Millionenpublikum gefunden hat.

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Während wir im Korb eines fragilen Zeppelins durch undurchdringliches, graues Sturmgewölk fliegen, erklärt Carlin, was den Ersten Weltkrieg einzigartig macht: Er markierte den historischen Augenblick, in dem die romantischen Kriegsvorstellungen des 19. Jahrhunderts auf die beginnende industrielle Kriegsführung des 20. Jahrhunderts prallten. U-Boote, Flugzeuge, Panzer, schwere Artillerie: Die Soldaten, die in den Ersten Weltkrieg zogen, mussten angesichts all dieser stählernen, motorisierten Kriegsgeräte das Gefühl gehabt haben, in einen Jules Verne-Roman geraten zu sein, sagt Carlin.

War Remains lebt von solchen Beschreibungen und Einordnungen. Der historische Kontext kommt jedoch zu kurz und wahrscheinlich mit Absicht. Wer weshalb Krieg führt: Diese Frage gerinnt in der grausamen Realität des Schützengrabens zu einer abstrakten Idee, die für die Soldaten ebenso wie für uns keine Rolle spielt. Die kurze VR-Erfahrung kann und will den Krieg nicht erklären. Sie will ihn stattdessen – zumindest ein kleines Stück weit – erfahrbar machen. Ob sie das in angemessener Art macht, darf angezweifelt werden: War Remains verzichtet auf leise Töne und kommt im Gewand eines hochästhetisierten Hollywood-Spektakels, das allzusehr auf die Wirkung von Schützengrabenklischees vertraut.

War_Remains_Schuetzengraben

Dass die Szenen trotz ihrer Überinszenierung und technisch nicht immer einwandfreien Umsetzung unter die Haut gehen, verdankt sich ihrem heftigen Material und der Art, wie sie erlebt werden: durch die VR-Brille. Aus dem Medium hätte man dennoch mehr herausholen können. War Remains erlaubt weder Interaktion noch Fortbewegung. So hat man eher das Gefühl, ein unbeteiligter Geist zu sein, als ein Soldat, dem befohlen wird, aus dem Schützengraben zu springen und in Richtung des gegnerischen Mündungsfeuers zu laufen.

In einer anderen Szene finden wir uns in einem Unterschlupf wieder und erleben heftigen Artilleriebeschuss. Während des Kriegs konnte dieses Bombardement ganze Tage und Nächte andauern und traumatisierte Soldaten bis an ihr Lebensende. In der Virtual Reality sind wir ihm nur ein oder zwei Minuten ausgesetzt.

Dass War Remains die Kriegserfahrung nur ungenügend einfangen und nur eine ungefähre Vorstellung von deren Grausamkeit vermitteln kann, darf man der VR-Erfahrung nicht anlasten. Schließlich ist sie konsequenzlos wie jedes andere Medium. VR-Brille ab, alles gut. Carlin zitiert an mehreren Stellen Augenzeugenberichte, etwa jene des britischen Künstlers Paul Nash, der seine Kriegserfahrungen in eindrücklichen Gemälden und Worten zu verarbeiten suchte, wohlwissend, dass sie im Grunde unbeschreiblich sind.

War_Remains_Bunker

Wenn Bilder und Texte versagen: Was bleibt dann vom Krieg in einem, nach dem man War Remains erlebt hat? Was lernen wir aus einer solchen Erfahrung, was uns die Geschichtsbücher nicht lehren könnten? Gemälde, Texte, Musik und Filme: Sie müssen als Medien und Werke für sich stehen und können mit Worten nicht vollends ausformuliert werden, ohne dass man ihre Eigenheit dabei zerstörte. Das Gleiche gilt für Virtual Reality und VR-Erfahrungen. Sie stellt eine eigene Kategorie des Wissens dar, die sich nicht vollständig in Worte übertragen lässt.

Müsste ich den Inhalt und die Wirkung dieser VR-Erfahrung dennoch in Worten beschreiben, so würde ich sagen, dass War Remains besser als alle anderen Medien die volle Tragweite der Sinnlosigkeit dieses Kriegs vor Augen führt. Nicht in einem abstrakten, philosophischen Sinne, sondern ganz konkret: Der Erste Weltkrieg degradierte Menschen in einer noch nie dagewesenen Dimension zu Kriegsmaterial, das nicht mehr wert war als Kugeln, Bomben und Giftgas und dem Feind blind und ohne Aussicht auf dauerhaften Erfolg entgegengeworfen wurde. Selten erschien der Tod so sinnlos und der Wert des Lebens so gering wie hier und War Remains ruft diese menschliche Verrohung warnend in Erinnerung.

Dieser Beitrag erschien am 24. Mai 2020 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

„Museum of Other Realities“ – Das außergewöhnlichste Kunstmuseum der Welt

Ich stattete dem Museum of Other Realities oder kurz: MOR im vergangenen Sommer zum ersten Mal einen Besuch ab. Schon damals war ich beeindruckt von dem virtuellen Bau und seiner VR-Kunst.

Das Museum wurde seither stetig weiterentwickelt und Anfang des Jahres eröffnete es neu, mit komplett neuer, spektakulärer Architektur. Durch seine schiere Größe und architektonische Extravaganz ist das Museum selbst schon ein Kunstwerk und das Durchqueren und Erforschen ein wesentlicher Bestandteil des VR-Erlebnisses.

Viele Räume und Hallen wurden eigens für die VR-Kunstwerke gestaltet, die sie beherbergen. So gehen Architektur und Kunst eine Einheit ein. Ein Beispiel ist die monumentale Farb- und Formlandschaft Devalaya Rupanam des Hollywood-Tricktechnikers Kevin Mack. Hier tritt man in einen nach oben offenen Raum, in dessen Mitte ein organisch wirkender Klumpen schwebt, der dank stetig seine Formen und Farben verändert.

Museum-of-Other-Realitites-Architektur

Das Bauwerk ließe so manchen Stararchitekten vor Neid erblassen.

Mack nennt diese Gebilde “Blorts” und entwickelte mit Blortasia eine VR-Erfahrung, die endlose Varianten dieser hypnotisierenden Erscheinungen generiert. In diesem Raum kann man schwerelos durch die Luft schweben und sich das riesige, klingende Gebilde von allen Seiten und aus der Nähe ansehen – eine erhabene Erfahrung!

Das MOR ist ausladend groß und verwinkelt. Damit man den Überblick behält, findet man gleich im ersten Raum ein Hologramm des Museums, das den Grundriss zeigt. Sollte man die Orientierung verlieren, kann man sich jederzeit zum Hologramm hin- und zurückteleportieren. Auf der Karte sieht man außerdem, wo sich Freunde aufhalten und man kann eine Route planen oder direkt zu einem Kunstwerk springen.

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Kevin Macks Riesenblort fasziniert durch seine sinnliche Erscheinung und die Art des Erlebnisses.

In der Lobby lernen Besucher, wie sie sich durch das virtuelle Museum bewegen, wie man mit anderen Museumsbesuchern und Kunst interagiert und wie man Fotos macht. Fremde Besucher erscheinen als geisterhafte Gestalt. Erst wenn man sich mit ihnen anfreundet, sie in eine Gruppe einlädt oder selbst eingeladen wird, nehmen ihre Avatare eine feste Form an und sind ansprechbar. Der eigene Avatar besteht aus abstrakten Formen und lässt sich anpassen. Lobenswert ist, dass die Entwickler fast vollständig auf flache Benutzeroberflächen verzichtet und intuitive Arten der Interaktion gefunden haben. So interagiert man durchgehend mit räumlichen Inhalten und den eigenen Händen.

Wer im MOR einen Rembrandt oder Van Gogh zu sehen hofft, ist an der falschen Adresse. Der Großteil der Kunst im MOR wurde für und mit Virtual Reality kreiert. Auf der offiziellen Internetseite gibt es ein Verzeichnis aller ausgestellten Künstler und Kunstwerke sowie der Werkzeuge, mit denen die digitalen Artefakte kreiert wurden. Hier ist die gesamte Palette an VR-Kreativprogrammen vertreten: von Google Blocks über Quill und Oculus Medium bis hin zu Gravity Sketch und Tilt Brush.

Museum-of-Other-Realitites-Tilt-Brush

In viele Kunstwerke kann man sich hineinteleportieren und so aus einer komplett neuen Perspektive erleben.

Die Kunstwerke wurden größtenteils händisch in 3D gezeichnet und gemalt und so sollen sie auch erleben werden: indem man sie von allen Seiten betrachtet oder sich in sie hineinteleportiert und durchquert. Dabei schrumpft man zuweilen auf die Größe einer Maus und steht plötzlich inmitten der handgezeichneten Miniaturwelt. Dieses Spiel mit Größenverhältnissen und Perspektiven macht VR-Kunst aus und ermöglicht ein neue Art, Kunst zu erleben.

VR-Kunst ist digitale Kunst und kann als solche Artefakte erzeugen, die in der physischen Realität nicht umsetzbar wären. Man denke an Hologramme, Partikelwolken, Blorts.

Das Besondere an VR-Kunst als einer Unterkategorie der digitalen Kunst ist, dass sie eine körperliche Erfahrung simuliert und annähernd wie das „echte Leben“ anmutet: Man starrt nicht bloß auf einen Bildschirm, sondern hat dank der VR-Brille das Gefühl, an einem realen Ort zu sein. VR-Kunst schlägt eine Brücke zwischen digitaler Kunst und einem annähernd analogen Wirklichkeitserlebnis und verbindet so das Beste zweier Welten. Genau das ist es, was das Museum of Other Realities so aufregend macht und kein anderes Kunstmuseum der Welt bietet: Man besucht einen Ort, der real wirkt, aber irreale Dinge beherbergt, Dinge, deren Sein nicht durch physikalische Gesetze eingeschränkt sind.

Museum-of-Other-Realitites-Hologramm-Künstler

Der US-Künstler Isaac Cohen spricht über seine Kunst – in Form eines wunderschönen anzusehenden Punkte-Hologramms.

Das Museum of Other Realities soll eine führende Plattform für Virtual-Reality-Kunst werden, ein Forum für die VR-Kunstgemeinschaft und kunstinteressierte VR-Nutzer und VR-Künstler unterstützen. Die ausgestellten Arbeiten werden wie von einer echten Kunstgalerie beworben und die Künstler nach Möglichkeit entlohnt. Wer ein Eintrittsticket kauft, unterstützt VR-Kunst und kann dem Museum immer wieder einen Besuch abstatten. Das soll sich lohnen, weil regelmäßig neue Kunstwerke hinzukommen und virtuelle Kunstparties veranstaltet werden, auf denen man die Künstler treffen kann.

Mich hat der Besuch im neuen MOR noch stärker beeindruckt als beim ersten Mal. Das liegt an der Museumsarchitektur, dem gelungenen VR-Interface und der erweiterten Kunstsammlung. Die Entwickler beweisen, dass sie den nötigen Ehrgeiz haben, um eine solche Plattform voranzutreiben. Das nächste Mal nehme ich jemanden auf meinen VR-Museumsbesuch mit, denn Kunst wird noch schöner, wenn sie gemeinsam erlebt und diskutiert wird.

Dieser Beitrag erschien am 17. Mai 2020 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

Die besten VR-Apps für virtuelle Reisen

Im Laufe der letzten Jahre testete ich eine Vielzahl von VR-Apps, die mich an fotorealistische Duplikate realer Orte führten. Viele dieser Landschaften und Kulturstätten wurden mithilfe von Fotogrammetrie digitalisiert. Bei diesem Verfahren wird eine Umgebung aus zahlreichen Perspektiven fotografiert und die Einzelbilder anschließend zu einem digitalen 3D-Ebenbild des Ortes vernäht. Mit einer VR-Brille kann man die digitale Kopie anschließend von allen Seiten betrachten und begehen.

Interessierten kann ich folgende VR-Apps empfehlen:

  • Blautopf VR
  • Blueplanet VR
  • Chernobyl VR Project
  • Everest VR
  • Il Divino: Michelangelo’s Sistine Ceiling in VR
  • The Last Goodbye
  • Nefertari: Journey to Eternity
  • Realities
  • The Homestead
  • Titanic VR
  • Versailles VR
  • Zen Universe

Mehr Informationen sowie Links zu den Apps stehen bei MIXED.

Virtuelle Orte der Vergangenheit: Wie Virtual Reality meine Erinnerungen wachhält

Im Juni 2016 sagte ich der Schweiz Lebewohl. Mit nichts als einem Koffer in der Hand, der so ziemlich alles enthielt, was mir aus der Schweiz geblieben war, bestieg ich das Flugzeug am Basler Euroairport und wanderte nach Kroatien aus.

Mein erster voller Sommer an der Adria war schön. So schön, dass er mich das Land, in dem ich aufwuchs und mein bisheriges Leben verbrachte, vorübergehend vergessen ließ. Das änderte sich, als der Herbst allmählich in den Winter überging und ich unverhofft Gelegenheit erhielt, Basel einen Besuch abzustatten. In der Grenzstadt hatte ich die letzten zehn Jahre meines Lebens verbracht, studiert und Freunde gefunden. Meine Reise nach Basel war ungewöhnlicher Natur: Ich reiste nicht etwa mit dem Flugzeug, der Bahn oder dem Bus in die Schweiz. Ich begab mich mittels VR-Brille nach Basel.

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Der Rhein und das Basler Münster von der Wettsteinbrücke aus gesehen.

Im November 2016 erschien die VR-App Google Earth VR, eine neue Version von Googles digitalem Globus, die von Grund auf für Virtual Reality entwickelt wurde und blitzschnelle virtuelle Reisen an jeden Ort der Welt erlaubt. Da stehe ich also in meiner Wohnung, rücke mir die VR-Brille zurecht und starte voller Erwartung Google Earth VR.

Im nächsten Augenblick schwebe ich mitten im Weltall und sehe die Erdkugel erhaben vor mir schweben. Eine Seite des Planeten ist in Licht, die andere in Dunkelheit getaucht. Ich gehe etwas näher heran und erkenne im Dunkel die glitzernden Lichter der Zivilisation. Mit dem Controller greife ich nach der Kugel und drehe sie und sehe Afrika, Asien, Amerika in Sekunden an mir vorüberfliegen. Dann zeige ich auf einen Punkt an der Adria und stürze der Erde entgegen, die sich in alle Richtungen ausbreitet, während ich selbst kleiner und kleiner werde. Während meines Flugs werfe ich einen Blick zur Seite und erkenne, dass ich in jene magische Zone zwischen Himmel und Erde eintrete, in welcher die Planetenoberfläche rund und zugleich flach erscheint.

Als Erstes besuche ich die Küstenstadt Split, in der ich den Sommer verbrachte. Während draußen in der physischen Welt ein eiskalter Wind bläst, suche ich in Virtual Reality die sommerlichen Orte und Strände auf, in denen ich wenige Monate zuvor meine Freizeit verbrachte. Danach mache ich einen kurzen Abstecher nach New York und Paris und schaue mir Sehenswürdigkeiten an. Dabei stampfe ich wie Godzilla mit Riesenschritten durch die Städte, die sich wie eine Modellbauwelt um mich herum ausbreitet.

Mein letztes Reiseziel ist Basel. Dort angekommen, lasse ich mich auf die Größe eines Menschen schrumpfen und besuche der Reihe nach die Orte, die mir etwas bedeuten: das Universitätsgelände, die äußeren Quartiere, in die ich regelmäßige Ausflüge unternahm und den Kannenfeldpark, in dessen Nähe ich wohnte. Dabei wird mir bewusst, wie wenig ich in den vergangenen Monate an die Stadt und mein früheres Leben in der Schweiz dachte.

Wirkte das virtuelle Basel aus der Entfernung noch sehr real, verflüchtigt sich jetzt die Illusion, eine echte Stadt vor mir zu haben: Die 3D-Modelle wirken grob und deren Oberflächen eilig bemalt. Aus der Nähe sieht das virtuelle Basel aus, als hätte der Verhüllungskünstler Christo sie unter bunten Tüchern versteckt. Zum Schluss besuche ich die Kleinbasler Altstadt und laufe die Rheinpromenade hinab, die ich während der letzten zehn Jahre unzählige Male hinauf- und hinabging. Mit dem Controller greife ich nach der Sonne und schleife sie entlang ihrer Bahn bis zum Horizont, sodass es Nacht wird und die Sterne hervortreten.

Nun ist es ganz still. Und während ich so am Rhein sitze, allein in dieser Geisterstadt, die zugleich Basel ist und nicht ist, überkommt mich urplötzlich und unerwartet ein rasendes Heimweh, das noch Stunden andauert und mich in den folgenden Nächten wieder und wieder von der Stadt träumen lässt.

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Am virtuellen Rhein sitzend.

Die Macht dieser Erfahrung zeigt, dass Google Earth VR zu den stärksten Anwendungen der Virtual Reality gehört. Man könnte sagen, dass sie in der Technologie ihr ideales Medium gefunden hat: Weil die Welt räumlich und begehbar ist, funktioniert Google Earth in Virtual Reality viel besser als auf einem Monitor. Man sieht die Welt nicht bloß, man erfährt sie.

„Es liegen Welten dazwischen, ob man eine Beschreibung darüber liest, wie es ist, durch Paris zu spazieren, ob man ein Video über Paris anschaut, oder ob man Paris tatsächlich besucht“, sagt Clay Bavor, der Googles Abteilung für Virtual und Augmented Reality leitet. Bavor sieht in der Erfahrung die mächtigste und reichhaltigste Art von Information, für deren Vermittlung sich Virtual Reality wie kein anderes Medium eigne.

Es muss dieses ganzheitliche Erleben gewesen sein, dieses Gefühl von Anwesenheit, das so urgewaltig all die Erinnerungen an diese Stadt weckte. In Google Earth VR ist erst ein verschwindend geringer Teil der Erdoberfläche als 3D-Modell umgesetzt und selbst diese Gebiete spiegeln das Erscheinungsbild der Welt nur unzureichend wider.

Mit der fortschreitenden Digitalisierung der Welt dürfte sich das ändern, wodurch virtuelle Ausflüge und Zeitreisen denkbar wären, da man die architektonische Entwicklung von Städten beobachten können wird. Das heutige Google Earth VR kratzt derzeit nur an der Oberfläche dessen, was möglich wäre, wenn die Welt erst einmal vollständig digitalisiert ist.

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Basels Marktplatz in Virtual Reality.

Aber besteht dadurch nicht die Gefahr, dass die virtuelle die reale Welt eines Tages ersetzt? Werden Menschen überhaupt noch vor die Tür gehen wollen, wenn man mit der VR-Brille überallhin reisen können wird? Der französische Philosoph Jean Baudrillard sah in der fortschreitenden Digitalisierung eine große Gefahr. Die Menschheit würde an einen Punkt kommen, an dem sie zwischen dem Reellen und Virtuellen nicht mehr unterscheiden kann. Dann gäbe es nur noch das „Hyperreale“, das auf keinen realen Gegenstand mehr verweist, warnte der Philosoph.

Im Frühjahr 2017 stattete ich Basel erneut einen Besuch ab. Dieses Mal ganz konventionell mit dem Flugzeug. Ich war auf der Durchreise und hatte nur wenig Zeit, sodass es lediglich für einen kurzen Spaziergang am Rhein entlang reichte. Zu meinem Erstaunen hat das Wiedersehen mit dem echten Basel kein so starkes Heimweh ausgelöst wie meine virtuelle Reise wenige Monate zuvor. Womöglich lag das daran, dass das virtuelle Basel unvollendet und nur ein vergleichsweise grobes Modell der wirklichen Stadt war. In dieser abstrakteren Form konnte es, einem Traumgebilde ähnlich, zu einer Projektionsfläche meiner Erinnerungen, Gefühle und Sehnsüchte werden.

Am Ende war es also nicht das echte Basel, sondern sein virtuelles Gegenstück, das Erinnerungen an reale Orte und Begebenheiten hervorrief. Darin leben, das würde ich nicht wollen. Aber hin und wieder in das virtuelle Basel zurückkehren – in Ermangelung der Möglichkeit physischen Reisens – und in der Vergangenheit schwelgen. Kann das etwas Schlechtes sein?

Dieser Beitrag erschien am 18. März 2017 unter dem Titel „So real fühlen sich virtuelle Reisen“ in der Schweiz am Wochenende und am 21. März 2020 in überarbeiteter und erweiterter Form bei MIXED.

Verjüngungskur für alte Filme

Paris, 1896. Die Brüder Lumière führen einem gespannten Publikum den ersten Kinofilm der Geschichte vor: Er dauert 50 Sekunden und zeigt einen Zug, der in den Bahnhof der französischen Küstenstadt La Ciotat einfährt. Die Zuschauer sollen so sehr ob der bewegten Bilder erschrocken sein, dass sie in Panik das Weite suchten.

Knapp 125 Jahre später modernisierte ein Russe den Schwarz-Weiß-Film mit Hilfe Künstlicher Intelligenz. Algorithmen rechneten das historische Filmmaterial auf 4K-Auflösung hoch, ergänzten, wo nötig, Details und fügten neue Einzelbilder ein, sodass Bewegungen geschmeidiger wirken.

Das Ergebnis verblüfft und lässt das berühmte Stück Film so lebensecht wie nie zuvor erscheinen. Wie hätten die Besucher der ersten Kinovorführung der Geschichte wohl erst auf diese Aufnahme reagiert?

Moderne Betrachter sind jedenfalls begeistert: Mehr als drei Millionen Mal wurde das auf Youtube veröffentlichte Video bislang abgerufen. „Heiliger Bimbam. Ich sah gerade Menschen aus dem 19. Jahrhundert, als wäre es heute“, kommentiert ein Youtuber-Nutzer.

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Das Medieninteresse und die Popularität des Videos überraschte den Urheber der KI-gestützten Filmverjüngung, den in Moskau lebenden Produktmanager Denis Shiryaev.

„Ich habe das Video aus Spaß gemacht und weil ich neugierig auf das Resultat war“, sagt er. Der 31-Jährige ist kein KI-Fachmann, auch wenn er sich seit Jahren hobbymäßig mit maschinellem Lernen befasst. Er will laut eigenen Aussagen nichts Einzigartiges geschaffen und lediglich KI-Algorithmen genutzt haben, die frei im Internet erhältlich sind. „Jeder kann es mir nachmachen“, meint er. Die Ehre gebühre den Entwicklern, welche die Algorithmen programmierten.

Drei Tage und drei Nächte waren die künstlichen neuronalen Netze mit der digitalen Frischzellenkur beschäftigt. Shiryaev selbst musste sich lediglich in Geduld üben. „Der schwerste Teil war, neben den Arbeitsgeräuschen des Rechners zu schlafen“, sagt der KI-Tüftler.

Nachdem sein Video viral ging und zahlreiche Internetseiten darüber berichteten, trudelten bei Shiryaev ein halbes Dutzend Anfragen von Filmunternehmen ein. „Sie wollten alle nur eines wissen: Ob sie meine Software für die Modernisierung ihrer Filmarchive nutzen dürfen.“

Davon angespornt, will Shiryaev als Nächstes seine Arbeitsabläufe automatisieren und als kostenpflichtigen Verjüngungsdienst für alte Filme und Archivmaterial anbieten. Auf seinem Youtube-Kanal sollen regelmäßig neue Videos erscheinen, ein weiteres hat er bereits veröffentlicht: Es zeigt den US-Astronauten John Young während der Apollo-16-Mission.

Shiryaev glaubt, dass es schon bald einen umkämpften Markt geben wird für das KI-Facelifting alter Filme. Die Zukunft der Technologie ist vielversprechend, zumal aktuelle KI-Algorithmen nur teilweise für diese Aufgabe ausgelegt sind. Bei näherem Hinsehen merkt man das Shiryaevs Videos an: Man erkennt Bildartefakte und manche Details, wie weiter entfernte Gesichter, bleiben unscharf.

Um ihre volle Wirkung zu entfalten, müssten die KI-Algorithmen zuerst mit geeignetem Material trainiert werden, anhand dessen sie digitale Restaurierung gleichsam „lernen“. Dann könnten sie auch freier arbeiten.

„KI-Algorithmen könnten nicht nur Bilder hochskalieren, sie könnten sie vollkommen neu berechnen mittels spezieller Datensätze. Ein KI-Algorithmus wird unkenntliche Gesichter neu zeichnen, ein anderer wird die Szene nachkolorieren und wieder ein anderer wird Bildrauschen beseitigen“, meint Shiryaev. Spätestens in fünf Jahren soll es so weit sein.

Historische Aufnahmen vergangener Epochen und Ereignisse könnten so in neuem Glanz erstrahlen und für zeitgenössische Betrachter einen neuen Bezug zur Vergangenheit schaffen. Man denke etwa an Aufnahmen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, der ersten Mondlandung oder Martin Luther Kings berühmter Rede vor dem Lincoln-Denkmal. „Das Potenzial ist riesig“, sagt Shiryaev. „In der Zukunft werden alle Filme mit KI aufgemöbelt. Daran habe ich keine Zweifel.“

Dieser Beitrag erschien am 22. Februar 2020 in der Schweiz am Wochenende und am 1. März 2020 unter dem Titel „Neue Details in alten Filmen: KI macht’s möglich“ bei MIXED.