Mitte März, auf dem Höhepunkt der Coronakrise, lud der Smartphone-Hersteller HTC zu einer Konferenz. Mehrere hundert Teilnehmer trafen sich und saßen dicht an dicht auf einer halbkreisförmigen Tribüne, um den Worten des neuen CEOs Yves Maitre zu lauschen. Die Gesellschaft fand sich unter strahlend blauem Himmel ein und genoss die Sicht auf die Golden Gate Bridge.
Es war eine außergewöhnliche Veranstaltung, und das nicht nur der Begleitumstände wegen. Denn es war die erste große Konferenz eines Unternehmens, die komplett in Virtual Reality stattfand. Menschen aus aller Welt hatten sich in der Quarantäne eine VR-Brille aufgesetzt und sich in ein virtuelles San Francisco gebeamt. Angst vor dem Coronavirus? Fehlanzeige. Im virtuellen Raum besteht keine Ansteckungsgefahr.
Der einstige Smartphone-Gigant HTC stellt seit 2016 auch VR-Brillen her und sieht in der Coronakrise eine Riesenchance für Virtual Reality. Videokonferenzen gehören seit der Quarantäne zum Alltag vieler Menschen und könnten den Arbeitsplatz in Zukunft stärker prägen, als man bis vor kurzem gedacht hätte. Technisch aber liegt noch mehr drin. Ein Nachteil von Skype, Zoom, Teams und Co. ist, dass sie das Nonplusultra der Kommunikation, das Gespräch von Angesicht zu Angesicht, nur unvollständig simulieren können. Die Webkamera fängt nur einen Teil menschlicher Ausdrucksmittel ein und das soziale Miteinander ist ein anderes, wenn es durch einen Monitor vermittelt wird.
Genau hier soll Virtual Reality helfen. Die Technologie wird als Distanzvernichterin vermarktet, als Heim-Teleporter, der Nutzer in Bits und Bytes verwandelt und mühelos binnen Sekunden überallhin gebracht, um Menschen beinahe leibhaftig zu begegnen, ohne Gefahr einer Ansteckung. Wenn jetzt nicht die Stunde der Nischentechnologie Virtual Reality geschlagen hat, wann dann?
Tatsächlich sind seit Beginn der Coronakrise viele VR-Brillen immer wieder ausverkauft oder nur schwer lieferbar, was teils auf die Nachfrage, teils auf die in Stocken geratene Fließbänder chinesischer Fabriken zurückzuführen ist. Laut Facebook, einem führenden Hersteller von VR-Brillen, nahm die VR-Nutzung während der Quarantäne durch die Bank zu. Ein Großteil dieser Aktivität entfiel auf Dinge, die Menschen während der Isolation vermissten: Sie trieben Fitness in VR und nutzten soziale Apps, die es erlauben, sich mit anderen Menschen virtuell zu treffen – zum Spielen, Plaudern oder Filmeschauen.
Die App Spatial ermöglicht 3D-Konferenzen.
Zu einer ernsthaften Alternative für Skype, Zoom und Teams sind die VR-Brillen nicht geworden, obwohl entsprechende Apps in den vergangenen Monaten wie Pilze aus dem Boden schossen. Eine der vielsprechendsten Anwendungen für VR-Meetings heißt Spatial. In ihr können sich Nutzer in virtuellen Sitzungsräumen treffen, Dokumente austauschen und auf Whiteboards schreiben. Wer keine VR-Brille besitzt, kann sich mit dem Smartphone oder Desktop-Computer teilnehmen. Nestlé, Pfizer und BNP Paribas gehören zu den Unternehmen, die Spatial bereits einsetzen.
Eine gute Alternative ist die auf Lernen und Zusammenarbeit spezialisierte VR-Plattform Engage, auf deren Grundlage die HTC-Konferenz durchgeführt wurde. Wer eine kostenlose, besonders einfache und mit fast allen VR-Brillen kompatible Lösung sucht, findet sie im Open-Source-Projekt Mozilla Hubs. Die Software lässt sich auf Firmenservern installieren und betreiben und ist deshalb besonders sicher.
Dass sich Spatial und Co. vorerst nur schwerlich im Arbeitsalltag durchsetzen dürften, liegt an den VR-Brillen. Die Geräte sind noch zu unbequem und zu kompliziert in der Handhabe – genau das, was sie nicht sein dürfen, sofern sie sich gegen Videokonferenzen behaupten wollen.
Hinzu kommt der hohe Anschaffungspreis und eine Technik, die lediglich Kopf- und Handbewegungen sowie die Stimme erfasst und in die Virtual Reality überträgt. Trifft man sich mit der VR-Brille, so hat man annähernd das Gefühl, mit einem Menschen im gleichen Raum zu stehen, es fehlen jedoch Mimik und feine Gestik. Die Folge: Das ohnehin meist nur comichaft dargestellte Gegenüber wirkt eher wie eine Marionette als ein Mensch aus Fleisch und Blut.
Wenn selbstverständliche Dinge wie Notizen machen, auf der Tastatur schreiben und das Smartphone bedienen, schwierig bis unmöglich werden, weil man eine VR-Brille auf der Nase sitzen hat, ist klar, wie tief Virtual Reality noch in den Kinderschuhen steckt.
Das könnte sich ändern. Facebook sieht in Virtual und Augmented Reality die Zukunft der Kommunikation und Arbeit und tüftelt mit Hochdruck an Technologie für fotorealistische Avatare, die Augenbewegungen, Mimik und selbst feinste Fingerbewegungen erfasst und Menschen verlustfrei in den virtuellen und digital erweiterten Raum bringt. Mit hoch technisierten Brillen soll man eines Tages digitale Bildschirme frei im Raum verankern und per Sprach-, Blick- und Gestensteuerung bedienen können. Adieu, Maus und Tastatur.
Menschen sollen sich unabhängig von ihrem realen Standort jederzeit virtuell treffen und zusammenarbeiten können. Wo man wohnt, soll durch die eigene Präferenz und nicht mehr durch den Arbeitsweg bestimmt werden. Das soziale Netzwerk geht hier mit gutem Beispiel voran und kündigt an, dass es in den nächsten fünf bis zehn Jahren etwa der Hälfte seiner aktuell knapp 50.000 Angestellten erlauben will, dauerhaft von zu Hause aus zu arbeiten. Virtual und Augmented Reality sollen helfen, diese Vision umzusetzen.
Bis dahin ist es allerdings ein weiter Weg. So weit, dass man sagen kann, die Coronakrise wäre ein Jahrzehnt zu früh gekommen, um Virtual Reality zum Durchbruch zu verhelfen. Denn technisch muss noch viel passieren, bis das Sitzungszimmer 2.0 so funktioniert, wie es sich die Silicon-Valley-Visionäre erträumen.
Dieser Beitrag erschien am 20. Juni 2020 in der Schweiz am Wochenende.