In traditionellen Kunstformen stellt sich eine solche Frage gar nicht, weil die Aufteilung der Bestimmungsmacht von vornherein feststeht. Dem Rezipienten eines literarischen Werks oder musikalischen Werks würde es nicht einfallen, in das Syntagma und Paradigma eines Textes oder einer Partitur einzugreifen. Seine Bestimmungsmacht erstreckt sich allein auf das Reich des Geistigen, ist aber dennoch beträchtlich, zumal er eine vorgestellte Welt schafft, von all den anderen Geisteskräften, die von der Lektüre angeregt wirksam werden, ganz zu schweigen. Man könnte hierüber zur Auffassung gelangen, dass dasjenige, was zur Beschäftigung mit Kunstwerken anregt, in solchem Bestimmungsvollzug selbst gründet. Aus dieser Perspektive stellt das Kunstwerk nichts Abgeschlossenes dar. Ganz im Gegenteil. Es besitzt eine radikale Offenheit und stellt einen weiten Raum zur Verfügung, innerhalb dessen sich der Geist frei bewegt und schöpferisch tätig ist.
Date Archives → März 2012
§ 100. Über das Wechselspiel von Gabe und Empfängnis
Der Bestimmungsvollzug der Kunst besitzt wie der Bestimmungsvollzug des Spiels drei Strukturelemente. Denn erst wenn sich jemand zum Kunstwerk ins Verhältnis setzt, kommt es ganz zu sich. Das Kunstwerk steht wie das Regelwerk des Spiels nicht allein, es stellt immer schon eine Einheit dar, die in der Vermittlung von Mensch und Kunstwerk, Mensch und Regelwerk aufgeht. Aber das Anregende dieser Vermittlung liegt in solcher selbst. Sie kann nur dadurch begreiflich werden, dass der Mensch, der mit dem Kunst- oder Regelwerk in Berührung kommt, bei solchem Bestimmungsvollzug zugleich etwas gibt und etwas empfängt. Dies Wechselspiel von Gabe und Empfängnis liegt allen Verhältnisformen zugrunde. Die Entdeckung als Durchmessen des Möglichkeitsraums der Verhältnisformen, die Geist und Welt eröffnen, geschieht vermittels desselben.
§ 101. Die differentia specifica der Zehnten Kunstform ist weder an dem Begriff der Aktivität noch an dem Begriff der Interaktivität festzumachen. Die Dringlichkeit einer neuen Ästhetik
Ganz gleichgültig, wozu man sich ins Verhältnis setzt, es ist nicht denkbar, dass die hieraus entstehende Verhältnisform keine Interaktivität aufweise, und zwar aus einer metaphysischen Notwendigkeit heraus. Der Begriff der Interaktivität ist mit dem Begriff der Vermittlung oder dem des Mediums verwandt und besitzt dieselbe metaphysische Fundamentalität. Aber auch an dem etwas weniger schwierigen Begriff der Aktivität ist der Unterschied zwischen der Zehnten Kunstform und den traditionellen Kunstformen nur unzureichend festzumachen, zumal der Geist in seinem Reich, dem Reich des Geistigen gleichermaßen aktiv ist wie der Körper in seinem Reich, dem Reich des Wirklichen. Die Frage besteht folglich nicht darin, ob das eine oder das andere Aktivität darstelle, sondern worin sich diese Aktivitäten als Aktivitäten unterscheiden. Hierzu bedarf es einer Beschreibung der Form geistiger und körperlicher Vollzüge: dem, was wir tun, wenn wir denken, und dem, was wir tun, wenn wir handeln. Die Beantwortung jener Frage bedarf der Ausarbeitung einer eigenen Ästhetik, einer Ästhetik, die zu den ersten und letzten Bedingungen hinabführt. Aber darin zeigt sich nicht bloß die Dimension dieser Frage, sondern auch, weshalb sie so schwierig zu beantworten ist.
§ 102. Der Bestimmungsvollzug traditioneller Kunstformen wird in zwei Reichen, der Bestimmungsvollzug der Zehnten Kunstform in einem Reich ausgetragen
Der Bestimmungsvollzug traditioneller Kunstformen wird seinem Wesen nach in zwei getrennten Reichen ausgetragen, zwischen welchen die Bestimmungsmacht aufgeteilt wird. Die Bestimmungsmacht des Künstlers erstreckt sich auf das Reich des Wirklichen, die Bestimmungsmacht des Rezipienten, der sich zum Kunstwerk ins Verhältnis setzt, erstreckt sich auf das Reich des Geistigen und das Reich des Sinnlichen und beiden kommt innerhalb ihrer Reiche eine beträchtliche Bestimmungsmacht zu. Dadurch aber, dass die Zehnte Kunstform eine Kunstform ist, die im Wirklichen aufgeht, existiert hier nur noch ein Reich, das Reich des Wirklichen, auf das beide Bestimmungskräfte Anspruch erheben, wodurch eine Aufteilung der Bestimmungsmacht innerhalb eines Reichs notwendig wird.
§ 103. Worin das Bestimmungsparadox besteht. Der Streit um die Bestimmung eines Gegenstands und der gegebenen Welt
Die Natur des Problems, das hieraus erwächst, wird erst auf der Ebene der Begriffe einsichtig. Das Bestimmungsparadox erscheint in abstracto nämlich insofern, als es undenkbar ist, dass zwei Bestimmungskräfte denselben Gegenstand zugleich auf unterschiedliche Weise bestimmen. Es ist von Bedeutung, dass hier der Gegenstand als ein Entgegenstehendes (§ 58) gemeint ist, mithin etwas, das einer gegebenen Welt angehört. Die vorgestellte Welt kann wie der Geist niemals Gegenstand werden, sie ist vielmehr dasjenige, was aus dem Wechselspiel von Gabe und Empfängnis vermöge des Geistes und innerhalb desselben hervorgeht. Die gegebene Welt kann stets nur auf eine Weise bestimmt sein, so wie ein literarisches Werk, das als Gegenstand unzweideutig bestimmt ist durch das Paradigma und Syntagma seines Textes.