Berlin 1927: VR-Ausflug in die Goldenen Zwanziger

Eine neue VR-Erfahrung entführt in das Berlin der Zwanzigerjahre. An der Seite dreier Zeitgenossen besucht man einen glamourösen Premierenabend im Großen Schauspielhaus, einem historischen Bauwerk mit bewegter Geschichte, das heute nicht mehr existiert.

Vom Theaterregisseur Max Reinhardt und seinem Architekten Hans Poelzig 1919 im expressionistischen Stil gestaltet, wurde das Große Schauspielhaus wegen seiner von der Kuppel hängenden Zapfen auch „Tropfsteinhöhle“ genannt. In den Zwanzigerjahren wurde dieser Ort dank der Revuen des Theaterleiters Erik Charell und Stars wie Fritzi Massary zum kulturellen Mittelpunkt Berlins.

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Der prunkvolle Saal des Großen Schauspielhauses in der VR-Erfahrung. | Bild: digital.DTHG

Nach der Machtübernahme der Nazis wurde das Bauwerk als „entartete Kunst“ verunglimpft und umgebaut, die Zapfen abgeschlagen und das Große Schauspielhaus in „Theater des Volkes“ umbenannt. Während der Endphase des Zweiten Weltkriegs durch Luftangriffe stark beschädigt, wurde das Gebäude schnell wieder aufgebaut und erlebte nun als Friedrichstadtpalast eine neue Blütephase. Wegen irreparabler Schäden wurde das Bauwerk in den 80er-Jahren abgerissen und unweit des alten Gebäudes der neue Friedrichstadt-Palast errichtet.

Die VR-Erfahrung „Ein Abend im Großen Schauspielhaus – Berlin 1927“ feiert das 100-jährige Jubiläum des in seiner ursprünglichen Form nicht mehr existierenden Bauwerks. Mit der VR-Brille reist man zum Abend des 23. Dezember 1927 zurück und besucht die Premiere der Operette „Mme Pompadour“.

Die Architektur und Feststimmung der Zwanzigerjahre erlebt man aus der Perspektive dreier Figuren: des Theaterbesuchers Walter Schatz, der gefeierten Sängerin und Darstellerin der Madame Pompadour Fritzi Massary und des jungen Beleuchters Otto Kempowski.

Diese teils fiktiven, teils realen Charaktere bringen einem das Große Schauspielhaus aus drei ganz unterschiedlichen und persönlichen Blickwinkeln nahe. Mit Schatz zusammen betreten wir das Theater durch den Haupteingang, spazieren durch das eindrucksvolle, lebhafte Foyer und treten schließlich ehrfurchtsvoll in den gigantischen Saal.

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Mit Walter Schatz durchstreifen wir das Foyer des Schauspielhauses. | Bild: digital.DTHG

Massary treffen wir am Seiteneingang, kämpfen uns an Kameras und Reportern vorbei und betreten den Backstage-Bereich und die Garderobe, wo sie uns in intimem Rahmen an ihren Gedanken und Sorgen teilnehmen lässt. An der Seite Kempowskis schließlich lernen wir das Leben der Schattenarbeiter und die aufwendige Technik des Schauspielhauses kennen.

„Mithilfe dieser Figuren können wir sowohl bestimmte Wege und somit Einblicke in das Gebäude bekommen, als auch gesellschaftliche, zeitpolitische und soziale Aspekte verhandeln“, sagt Pablo Dornhege, der das Projekt gemeinsam mit Franziska Ritter leitete.

Durch die Auffächerung der Perspektiven erlebt man Zeit und Raum auf drei unterschiedliche Weisen. Jede der drei Episoden endet im Saal und gipfelt in einer fulminanten Kamerafahrt, bei der wir uns im gewaltigen Kuppelbau über den Köpfen der Zuschauer bewegen.

Weil es sehr aufwendig wäre, die Räumlichkeiten und Besucher in allen Details zu animieren, sind diese stilisiert wiedergegeben: Die Wände sind monochrom und menschliche Figuren erscheinen als gezeichnete 2D-Silhouetten. Das Ergebnis ist dennoch stimmig und gefällt und überlässt Details der eigenen Vorstellungskraft, sodass sie deshalb wohl noch stärker wirken.

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In der Garderobe lernen wir den Menschen statt Star Fritzi Massary kennen. | Bild: digital.DTHG

Mit viel Aufwand aufgearbeitet und rekonstruiert wurde die Architektur und insbesondere der Saal. Ausgangspunkt war ein großer Fundus an Archiv-Material aus verschiedenen baugeschichtlichen Lebensphasen des Gebäudes. Dazu gehören Planungsunterlagen des Architekten Hans Poelzig, Interieur-Skizzen von Marlene Moeschke, spätere Umbaupläne aus der Zeit des Nationalsozialismus sowie viele Architekturfotografien, Texte, Baubeschreibungen und zeithistorische Veröffentlichungen und Dokumentationen.

„Trotz der Fülle an Material bleiben Lücken und Unklarheiten“, sagt Dornhege. „Bei den Plänen gibt es zum Beispiel starke Diskrepanzen und gerade der Backstage-Bereich ist kaum bildlich dokumentiert.“ Das Ergebnis sei eine Kombination aus wissenschaftlich fundierter Rekonstruktion und künstlerischer Freiheit an Stellen, die für die Nachwelt verloren sind.

Die VR-Erfahrung ist aus dem zweijährigen Forschungsprojekt “Im/material Theatre Spaces” der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft (DTHG) hervorgegangen, die für das Vorhaben mit dem Friedrichstadt-Palast kooperierte. Entwickelt wurde sie vom Team der digital.DTHG, dem DTHG-eigenen Kompetenzbereich für Digitalität und Neue Technologien. Gefördert wurde das Projekt außerdem durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Dank der Unterstützung des Stadtmuseums Berlin und verschiedener anderer Sammlungen und Archive konnte das Team Originalobjekte aus dieser Zeit digitalisieren und in die VR-Erfahrung integrieren, wodurch sie noch authentischer wirkt. Dazu gehören Plakate, Programmhefte, Eintrittskarten und aufwendige bühnentechnische Apparate wie der „Wolkenapparat“.

Dieser Beitrag erschien am 05. Juni 2021 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.