§ 134. Der Begriff der Kunstform. Das Medium als das Fundament der Kunst, die Kunst als der Zweck des Mediums

Jeder Kunstform liegt als ihr Erstes ein Medium zugrunde als eine Einheit von Bedingungen in concreto. Man könnte vom Medium auch als der Materie, die jeder Kunstform zugrunde liegt, sprechen. Jeder Kunstform liegt als ihr Zweites die Kunst zugrunde als eine Einheit von Bedingungen in abstracto. Man könnte von der Kunst auch als der Idee, welche jeder Kunstform zugrunde liegt, sprechen. Die Idee der Kunst besteht darin, dass sie ein ihr zugrundeliegendes Medium mit einem Zweck versieht. Dabei ist es einerlei, ob man sagt, dass die Kunst diesen Zweck hat, oder ob man sagt, dass die Kunst dieser Zweck ist. Der Zweck der Kunst liegt in der Entdeckung eines Wahren, Schönen und Guten in concreto. Das Verhältnis, das Medium und Kunst in der Kunstform zueinander eingehen, ist folgendes: Das Medium ist das Fundament, das der Kunst zuteilwird, die Kunst ist der Zweck, der dem Medium zuteilwird.

§ 135. Zwischen Medium und Kunst

Wie schon im ersten Teil geht es auch im zweiten Teil um die dialektische Neubestimmung des Verhältnisses zweier Begriffe. Die Begriffe, die in ein neues Verhältnis zueinander treten, sind der Begriff des Mediums und der Begriff der Kunst. Die Fragen, die hieraus erwachsen, lauten: Welche Form nimmt das Medium an, wenn ihm der Zweck der Kunst zuteilwird, und welche Form nimmt die Kunst an, wenn ihr das Fundament des Mediums zuteilwird? Sowohl der Begriff des Mediums als auch der Begriff der Kunst geraten durch das Hervortreten einer Zehnten Kunstform in Bewegung. Damit ist das Feld, das die zweite Frage eröffnet und den zweiten Teil eines Entwurfs der Zehnten Kunstform bildet, hinreichend abgesteckt.

§ 136. Zwischen Leben und Kunst. Der dritte und ethische Teil eines Entwurfs der Zehnten Kunstform

Die dritte Frage, mit welcher sich der Entwurf einer Zehnten Kunstform zu befassen hat, lautet: Inwiefern vermag die Form, welche dem begrifflichen Entwurf einer Zehnten Kunstform zugrunde liegt, von Wert zu sein für das Leben? Während die Aufgabe des ersten und zweiten Teils darin besteht, die Form der Zehnten Kunstform in abstracto zu bestimmen und diese Form anschließend in concreto zu denken, besteht die Aufgabe des dritten und letzten Teils darin, nach dem Einfluss zu fragen, 106 den die Zehnte Kunstform auf das Leben hat. Denn alles, was der Mensch tut, ist in das Leben eingelassen. Wir treten ebenso wenig aus dem Leben heraus, wenn wir uns einem Kunstwerk zuwenden, als wir in es eintreten, sobald wir uns vom Kunstwerk abwenden. Das Kunstwerk kann nur vermöge des Lebens auf uns wirken, aber zugleich wirkt es auch auf dasselbe zurück, weil es uns stets eine Vorstellung dessen eingibt, was das Leben ist und sein kann. Wir sehen, dass auch der dritte Teil eine Neubestimmung des Verhältnisses zweier Begriffe notwendig macht, denn mit dem Hervortreten einer Zehnten Kunstform geraten die Begriffe der Kunst und des Lebens in Bewegung. Die Fragen, die hieraus erwachsen lauten: Welche Form nimmt das Leben unter dem Vorzeichen der Kunst und welche Form nimmt die Kunst unter dem Vorzeichen des Lebens an?

§ 137. Die Dimension des Guten

Die Frage nach dem Einfluss, den die Kunst auf das Leben hat, ist keinesfalls neu, aber diese Frage und der in dieser Frage laut gewordene Anspruch, die Kunst solle in einer Weise wirken, die dem Leben zuträglich sei, stellt sich für keine andere Kunstform mit solch einem Nachdruck wie für die Zehnte Kunstform, und zwar deshalb, weil die Zehnte Kunstform die allgemeine Form des Lebens selbst annimmt. Dadurch besteht die Gefahr, dass sie in einen Wettstreit mit dem Leben tritt, das als solches nicht den Vorzug hat, in demselben Maße einer gestalterischen Ordnung unterworfen zu sein. Was sich infolgedessen auftut, ist der Abgrund einer Lebensflucht. Im dritten Teil soll versucht werden, die Form der Zehnten Kunstform, die als allgemeine Form des Lebens bestimmt wurde, als etwas zu denken, das für das Leben in gleichem Maße einen Wert besitzt wie die Form bestehender Kunstformen. Gelingt dies, so tritt mit der allgemeinen Form des Lebens ein und ihr Gutes hervor. Damit soll zugleich eine Antwort auf die Fragen einer kulturpessimistischen Perspektive gegeben werden.

§ 138. Inwiefern der dritte Teil einen Vorrang besitzt

Erst mit den Betrachtungen des dritten Teils kann deutlich werden, was ein Entwurf der Zehnten Kunstform letzten Endes bezweckt, ja worin dessen eigentliche Bedeutung liegt. Wie bereits gesagt, hat der erste Teil insofern einen Vorrang vor dem zweiten und dritten Teil, als er deren Fundament bildet. Denn erst wenn die Form der Zehnten Kunstform bestimmt ist, kann die zweite und dritte Frage einsetzen, die nach dem Schönen und nach dem Guten dieser Form fragt. Aber mit gleichem Recht kann man sagen, dass der dritte Teil einen Vorrang vor dem ersten und zweiten Teil besitzt, weil alle Betrachtungen zu diesem hinführen als ihrem letzten Ziel. Denn worum es letztlich geht, ist das Leben. Alles, was der Mensch tut, ist in das Leben eingelassen, dergestalt, dass alle Wege, ja selbst der Weg der Theorie, im Sinne der Abhebung (§ 16), vom Leben wegführend, zum Leben hinführt. Deshalb kann es der Theorie letztlich um nichts anderes gehen, als dass das Leben sich zum Guten hin entfalte. Dieses letzte Ziel eines Entwurfs der Zehnten Kunstform und jenes, worin das Gute einer Zehnten Kunstform hervortritt, nenne ich die Wiederentdeckung der Welt.