2022 war ein schwieriges Jahr für die VR- und AR-Branche, trotz oder gerade wegen des Metaverse-Hypes. Doch 2023 macht Hoffnung.
Das VR-Jahr stand zweifellos im Zeichen von Facebooks Umbenennung und Umorientierung aufs Metaverse. Das Metaverse: Es ist ein mysteriöses Ding, das mannigfaltige Definitionen hat, teilweise schon existiert, teilweise weit entfernte Sci-Fi-Fantasie ist und VR oder AR nicht zwingend voraussetzt. Eine verwirrende Sache, dieses Metaverse. Nicht einmal Experten können sich darauf einigen, was es genau ist, geschweige denn die Konsumenten.
Nach einem anfänglichen Wirbel, der die Industrie regelrecht überflutete und unschöne Erinnerungen an 2016 weckte, ging dem Metaverse schnell die Puste aus. Die Metaverse-Begeisterung wich der Metaverse-Müdigkeit.
In einem Blogpost, in dem Metas Technikchef Andrew Bosworth aufs vergangene Jahr zurückblickt, fällt das M-Wort kein einziges Mal. Stattdessen hört man ihn nur noch von „der Zukunft“ reden. Eine Zukunft, die ein Jahrzehnt oder noch weiter entfernt ist und der die aktuelle Technik kaum gerecht werden kann. Womit sich die Frage stellt, ob Zuckerberg mit seiner Metaverse-Wette nicht zu früh dran ist. Weshalb so viel Aufhebens machen um etwas, das noch so weit weg ist und peinliche Vergleiche (Second Life und Co.) provoziert?
Für den wichtigsten Treiber der VR- und AR-Industrie war es das bislang schwierigste Jahr der Unternehmensgeschichte. Die starke Konkurrenz seitens TikTok, Apples App-Tracking-Maßnahmen, die allgemeine Wirtschaftslage und nicht zuletzt Zuckerbergs Metaverse-Obsession ließen Metas Aktie ins Bodenlose stürzen. Ein Umstand, der sich in gestoppten Projekten und Massenentlassungen entlud.
Zuckerbergs berühmt-berüchtigter Horizon-Worlds-Selfie. | Bild: Meta
Neben dem Kerngeschäft hatte Meta auch im VR- und AR-Bereich Rückschläge hinzunehmen. Metas Prestige-Projekt und schwach besuchtes Proto-Metaverse Horizon Worlds sorgte immer wieder für negative Schlagzeilen, zuletzt durch Zuckerbergs leblosen Avatar-Selfie, der Meme-Status erlangte und Meta auf Jahre hin verfolgen könnte. Eine geplante Expansion der virtuellen Welten in Richtung Smartphone und Browser wurde aufs nächste Jahr verschoben. Ein Gerichtsstreit mit der US-Wettbewerbsbehörde FTC, der Stopp eines wichtigen XR-Projekts und die Verschiebung von Metas erster AR-Brille ins Jahr 2026 waren weitere Tiefpunkte für Meta.
Trotz dieser Rückschläge: Zuckerberg hält weiter an der Metaverse-Vision fest und will langfristig in VR und AR investieren. Seine Überzeugung, dass ein neues Computerzeitalter kommt, ist nicht gespielt. Eine spontane Kehrtwende ist nicht zu erwarten. Dafür müsste Meta noch stärker ins Taumeln geraten als 2022.
Andere wichtige Akteure hätten VR und AR 2022 mittragen können, verzichteten aber größtenteils darauf. Playstation VR 2 wurde zwar endlich im Detail vorgestellt, aber der Launch ins nächste Jahr verschoben. Das französische Mixed-Reality-Headset Lynx R1 startet offiziell ebenfalls erst im Februar 2023 und mit fast einem Jahr Verspätung. Und was ist mit Apple? Das Mixed-Reality-Headset, dessen Erscheinen schon seit vielen Jahren prophezeit wird, soll nun 2023 vorgestellt werden, behaupten ein gut informierter Apple-Leaker und Lieferkettenanalyst. Darauf wetten würde ich allerdings nicht.
2022 hätte ein bombastisches Hardware-Jahr werden können. Die Geräte, die am Ende tatsächlich auf den Markt kamen, sind technisch hochinteressant, aber irrelevant für Verbraucher. Sie werden den Markt nicht entscheidend voranbringen. Das AR-Headset Magic Leap 2 kam im September auf den Markt, richtet sich an Unternehmen und machte beim Start kaum Schlagzeilen. Meta Quest Pro erhielt mehr Beachtung von der Presse, entpuppte sich jedoch als überteuertes Devkit, dem richtige Software und Anwendungen fehlen.
Meta Quest Pro läutete die Ära der Mixed-Reality-Headsets ein. Hier mit Controllern und Ladestation. | Bild: Meta
Viele Fragezeichen warf dieses Jahr Microsofts AR-Strategie auf. Im Februar machten Gerüchte die Runde, dass die Entwicklung von Hololens 3 gestoppt sei. Ein paar Monate später verließ Microsofts AR-Visionär und Hololens-Erfinder Alex Kipman das Unternehmen. Aber auch die Entwicklung der Militär-Hololens hatte mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Immerhin: Ende des Jahres deutete Microsofts Vizepräsident für Mixed Reality an, dass ein Nachfolger zur Hololens 2 in Arbeit ist. Sehr überzeugend klingen diese Bekenntnisse allerdings nicht, zumal Microsoft-CEO Satya Nadella deutlich machte, dass Microsofts Metaverse-Schwerpunkt in Zukunft auf der Software liegt. Eine im Herbst angekündigte Software-Partnerschaft mit Meta passt in diesen Kontext.
Bis die Industrie fortschrittliche und zugleich schlanke AR-Brillen bauen kann, dürften noch viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte vergehen. Deswegen versucht sie es jetzt mit der Entwicklung von Mixed-Reality-Headsets. Der Formfaktor dieser Brillen hat große Vorteile, aber auch Nachteile gegenüber klassischen AR-Headsets mit transparenter Optik.
Die im Oktober 2022 erschienene Meta Quest Pro ist eine solche Mixed-Reality-Brille, von denen in den nächsten Jahren noch viele folgen dürften, darunter Apples erste XR-Hardware.
Eine gute Nachricht gab es dieses Jahr für deutsche VR-Nutzer und solche, die es werden wollen: Nach der Einführung von Meta-Kontos wagte sich Meta Ende des Jahres erneut auf den hiesigen Markt und startete mit dem Verkauf von Meta Quest 2 und Meta Quest Pro. Mit dem Launch der Pico 4 im Herbst standen deutschen Verbrauchern zum Weihnachtsgeschäft sogar zwei autarke VR-Headsets zur Auswahl – eine positive Marktentwicklung. Ein Jahr zuvor waren es null.
Im Sommer gab Meta interessante Einblicke in die VR-Forschung. Bis zur Marktreife der technischen Konzepte werden allerdings noch viele Jahre vergehen. | Bild: Meta
Zum Jahresende gab es noch eine weitere Überraschung: John Carmack verließ Meta endgültig. Die Programmierlegende war gut zehn Jahre in der VR-Industrie tätig gewesen, trug zum Wiederaufleben der Technologie bei und prägte diese maßgeblich dadurch, dass er autarker Virtual Reality den Weg ebnete: von Samsung Gear VR (2015) über Oculus Go (2018) bis zur Meta Quest (2019).
Sein Weggang markiert den endgültigen Abschluss der Ära Oculus: Zehn Jahre, in der VR-Hardware nach einer Gestalt suchte, die das Fundament für einen Mainstream-Erfolg legen könnte und sie fürs Erste im autarken Formfaktor fand. Die Frage ist jetzt, wie weit Meta und andere Hersteller es mit der Carmackschen Formel bringen können. Sein Abschied aus der VR-Industrie ist nicht der Anfang des Endes für VR, es ist das Ende ihres Anfangs.
Was die Industrie 2022 versäumte, könnte sie 2023 nachholen: Mit Playstation VR 2 und Meta Quest 3 starten gleich zwei Headsets für Konsumenten. Hoffentlich mit beeindruckender First-Party-Software, denn an dieser Front enttäuschten die letzten beiden Jahre. Wagt auch Apple endlich den Markteintritt, dann könnte VR und AR so viel Aufmerksamkeit bekommen wie schon seit 2016 nicht mehr.
Die Berichte um Apples Headset-Launch sollte man nicht überbewerten. VR und AR benötigen Apple mehr als Apple VR und AR. Die Branche steckt noch in den Kinderschuhen und Apple hat alle Zeit der Welt, in den Markt einzusteigen: Sogar das iPhone hat derzeit fortschrittlichere Augmented-Reality-Features als die 1.800 Euro teure Meta Quest Pro.
Selbst im optimalen Fall: Große Sprünge in der Branche darf man auch 2023 nicht erwarten. VR und AR werden langsam und organisch wachsen, letztere in Form von Mixed-Reality-Headsets. Auf diese Technologie und was Playstation VR 2 an Highend-VR-Erlebnissen bringen wird, freue ich mich am meisten.
Dieser Beitrag erschien am 29. Dezember 2022 bei MIXED.