Kann Virtual Reality das Unbeschreibliche darstellen?

Eines Tages, so spekuliert der Historiker und Podcaster Dan Carlin, werde man Erfahrungen abspeichern können. In die Geschichtsbücher würden dann neben Texten, Bildern und Filmen auch Erlebnisse eingehen. Doch was genau vermittelten diese Erfahrungen?

Die VR-Erfahrung War Remains wird als „immersive Erinnerung“ beschrieben. Erinnert wird der Schrecken des Ersten Weltkriegs. In einer Reihe kurzer, ausschnitthafter Szenen erleben wir die grausamsten Facetten des Grabenkriegs: den fast schon sicheren Tod auf zerbombten Schlachtfeldern, den unablässigen Artilleriebeschuss und Giftgasangriffe. Begleitet wird die Erfahrung von der eindrucksvollen Stimme und teils wortgewaltigen Beschreibungen Dan Carlins, der mit seinem Podcast Hardcore History nicht von ungefähr ein Millionenpublikum gefunden hat.

War_Remains_Altes_Foto

Während wir im Korb eines fragilen Zeppelins durch undurchdringliches, graues Sturmgewölk fliegen, erklärt Carlin, was den Ersten Weltkrieg einzigartig macht: Er markierte den historischen Augenblick, in dem die romantischen Kriegsvorstellungen des 19. Jahrhunderts auf die beginnende industrielle Kriegsführung des 20. Jahrhunderts prallten. U-Boote, Flugzeuge, Panzer, schwere Artillerie: Die Soldaten, die in den Ersten Weltkrieg zogen, mussten angesichts all dieser stählernen, motorisierten Kriegsgeräte das Gefühl gehabt haben, in einen Jules Verne-Roman geraten zu sein, sagt Carlin.

War Remains lebt von solchen Beschreibungen und Einordnungen. Der historische Kontext kommt jedoch zu kurz und wahrscheinlich mit Absicht. Wer weshalb Krieg führt: Diese Frage gerinnt in der grausamen Realität des Schützengrabens zu einer abstrakten Idee, die für die Soldaten ebenso wie für uns keine Rolle spielt. Die kurze VR-Erfahrung kann und will den Krieg nicht erklären. Sie will ihn stattdessen – zumindest ein kleines Stück weit – erfahrbar machen. Ob sie das in angemessener Art macht, darf angezweifelt werden: War Remains verzichtet auf leise Töne und kommt im Gewand eines hochästhetisierten Hollywood-Spektakels, das allzusehr auf die Wirkung von Schützengrabenklischees vertraut.

War_Remains_Schuetzengraben

Dass die Szenen trotz ihrer Überinszenierung und technisch nicht immer einwandfreien Umsetzung unter die Haut gehen, verdankt sich ihrem heftigen Material und der Art, wie sie erlebt werden: durch die VR-Brille. Aus dem Medium hätte man dennoch mehr herausholen können. War Remains erlaubt weder Interaktion noch Fortbewegung. So hat man eher das Gefühl, ein unbeteiligter Geist zu sein, als ein Soldat, dem befohlen wird, aus dem Schützengraben zu springen und in Richtung des gegnerischen Mündungsfeuers zu laufen.

In einer anderen Szene finden wir uns in einem Unterschlupf wieder und erleben heftigen Artilleriebeschuss. Während des Kriegs konnte dieses Bombardement ganze Tage und Nächte andauern und traumatisierte Soldaten bis an ihr Lebensende. In der Virtual Reality sind wir ihm nur ein oder zwei Minuten ausgesetzt.

Dass War Remains die Kriegserfahrung nur ungenügend einfangen und nur eine ungefähre Vorstellung von deren Grausamkeit vermitteln kann, darf man der VR-Erfahrung nicht anlasten. Schließlich ist sie konsequenzlos wie jedes andere Medium. VR-Brille ab, alles gut. Carlin zitiert an mehreren Stellen Augenzeugenberichte, etwa jene des britischen Künstlers Paul Nash, der seine Kriegserfahrungen in eindrücklichen Gemälden und Worten zu verarbeiten suchte, wohlwissend, dass sie im Grunde unbeschreiblich sind.

War_Remains_Bunker

Wenn Bilder und Texte versagen: Was bleibt dann vom Krieg in einem, nach dem man War Remains erlebt hat? Was lernen wir aus einer solchen Erfahrung, was uns die Geschichtsbücher nicht lehren könnten? Gemälde, Texte, Musik und Filme: Sie müssen als Medien und Werke für sich stehen und können mit Worten nicht vollends ausformuliert werden, ohne dass man ihre Eigenheit dabei zerstörte. Das Gleiche gilt für Virtual Reality und VR-Erfahrungen. Sie stellt eine eigene Kategorie des Wissens dar, die sich nicht vollständig in Worte übertragen lässt.

Müsste ich den Inhalt und die Wirkung dieser VR-Erfahrung dennoch in Worten beschreiben, so würde ich sagen, dass War Remains besser als alle anderen Medien die volle Tragweite der Sinnlosigkeit dieses Kriegs vor Augen führt. Nicht in einem abstrakten, philosophischen Sinne, sondern ganz konkret: Der Erste Weltkrieg degradierte Menschen in einer noch nie dagewesenen Dimension zu Kriegsmaterial, das nicht mehr wert war als Kugeln, Bomben und Giftgas und dem Feind blind und ohne Aussicht auf dauerhaften Erfolg entgegengeworfen wurde. Selten erschien der Tod so sinnlos und der Wert des Lebens so gering wie hier und War Remains ruft diese menschliche Verrohung warnend in Erinnerung.

Dieser Beitrag erschien am 24. Mai 2020 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

„Museum of Other Realities“ – Das außergewöhnlichste Kunstmuseum der Welt

Ich stattete dem Museum of Other Realities oder kurz: MOR im vergangenen Sommer zum ersten Mal einen Besuch ab. Schon damals war ich beeindruckt von dem virtuellen Bau und seiner VR-Kunst.

Das Museum wurde seither stetig weiterentwickelt und Anfang des Jahres eröffnete es neu, mit komplett neuer, spektakulärer Architektur. Durch seine schiere Größe und architektonische Extravaganz ist das Museum selbst schon ein Kunstwerk und das Durchqueren und Erforschen ein wesentlicher Bestandteil des VR-Erlebnisses.

Viele Räume und Hallen wurden eigens für die VR-Kunstwerke gestaltet, die sie beherbergen. So gehen Architektur und Kunst eine Einheit ein. Ein Beispiel ist die monumentale Farb- und Formlandschaft Devalaya Rupanam des Hollywood-Tricktechnikers Kevin Mack. Hier tritt man in einen nach oben offenen Raum, in dessen Mitte ein organisch wirkender Klumpen schwebt, der dank stetig seine Formen und Farben verändert.

Museum-of-Other-Realitites-Architektur

Das Bauwerk ließe so manchen Stararchitekten vor Neid erblassen.

Mack nennt diese Gebilde “Blorts” und entwickelte mit Blortasia eine VR-Erfahrung, die endlose Varianten dieser hypnotisierenden Erscheinungen generiert. In diesem Raum kann man schwerelos durch die Luft schweben und sich das riesige, klingende Gebilde von allen Seiten und aus der Nähe ansehen – eine erhabene Erfahrung!

Das MOR ist ausladend groß und verwinkelt. Damit man den Überblick behält, findet man gleich im ersten Raum ein Hologramm des Museums, das den Grundriss zeigt. Sollte man die Orientierung verlieren, kann man sich jederzeit zum Hologramm hin- und zurückteleportieren. Auf der Karte sieht man außerdem, wo sich Freunde aufhalten und man kann eine Route planen oder direkt zu einem Kunstwerk springen.

Museum-of-Other-Realitites-Blort-Landschaft

Kevin Macks Riesenblort fasziniert durch seine sinnliche Erscheinung und die Art des Erlebnisses.

In der Lobby lernen Besucher, wie sie sich durch das virtuelle Museum bewegen, wie man mit anderen Museumsbesuchern und Kunst interagiert und wie man Fotos macht. Fremde Besucher erscheinen als geisterhafte Gestalt. Erst wenn man sich mit ihnen anfreundet, sie in eine Gruppe einlädt oder selbst eingeladen wird, nehmen ihre Avatare eine feste Form an und sind ansprechbar. Der eigene Avatar besteht aus abstrakten Formen und lässt sich anpassen. Lobenswert ist, dass die Entwickler fast vollständig auf flache Benutzeroberflächen verzichtet und intuitive Arten der Interaktion gefunden haben. So interagiert man durchgehend mit räumlichen Inhalten und den eigenen Händen.

Wer im MOR einen Rembrandt oder Van Gogh zu sehen hofft, ist an der falschen Adresse. Der Großteil der Kunst im MOR wurde für und mit Virtual Reality kreiert. Auf der offiziellen Internetseite gibt es ein Verzeichnis aller ausgestellten Künstler und Kunstwerke sowie der Werkzeuge, mit denen die digitalen Artefakte kreiert wurden. Hier ist die gesamte Palette an VR-Kreativprogrammen vertreten: von Google Blocks über Quill und Oculus Medium bis hin zu Gravity Sketch und Tilt Brush.

Museum-of-Other-Realitites-Tilt-Brush

In viele Kunstwerke kann man sich hineinteleportieren und so aus einer komplett neuen Perspektive erleben.

Die Kunstwerke wurden größtenteils händisch in 3D gezeichnet und gemalt und so sollen sie auch erleben werden: indem man sie von allen Seiten betrachtet oder sich in sie hineinteleportiert und durchquert. Dabei schrumpft man zuweilen auf die Größe einer Maus und steht plötzlich inmitten der handgezeichneten Miniaturwelt. Dieses Spiel mit Größenverhältnissen und Perspektiven macht VR-Kunst aus und ermöglicht ein neue Art, Kunst zu erleben.

VR-Kunst ist digitale Kunst und kann als solche Artefakte erzeugen, die in der physischen Realität nicht umsetzbar wären. Man denke an Hologramme, Partikelwolken, Blorts.

Das Besondere an VR-Kunst als einer Unterkategorie der digitalen Kunst ist, dass sie eine körperliche Erfahrung simuliert und annähernd wie das „echte Leben“ anmutet: Man starrt nicht bloß auf einen Bildschirm, sondern hat dank der VR-Brille das Gefühl, an einem realen Ort zu sein. VR-Kunst schlägt eine Brücke zwischen digitaler Kunst und einem annähernd analogen Wirklichkeitserlebnis und verbindet so das Beste zweier Welten. Genau das ist es, was das Museum of Other Realities so aufregend macht und kein anderes Kunstmuseum der Welt bietet: Man besucht einen Ort, der real wirkt, aber irreale Dinge beherbergt, Dinge, deren Sein nicht durch physikalische Gesetze eingeschränkt sind.

Museum-of-Other-Realitites-Hologramm-Künstler

Der US-Künstler Isaac Cohen spricht über seine Kunst – in Form eines wunderschönen anzusehenden Punkte-Hologramms.

Das Museum of Other Realities soll eine führende Plattform für Virtual-Reality-Kunst werden, ein Forum für die VR-Kunstgemeinschaft und kunstinteressierte VR-Nutzer und VR-Künstler unterstützen. Die ausgestellten Arbeiten werden wie von einer echten Kunstgalerie beworben und die Künstler nach Möglichkeit entlohnt. Wer ein Eintrittsticket kauft, unterstützt VR-Kunst und kann dem Museum immer wieder einen Besuch abstatten. Das soll sich lohnen, weil regelmäßig neue Kunstwerke hinzukommen und virtuelle Kunstparties veranstaltet werden, auf denen man die Künstler treffen kann.

Mich hat der Besuch im neuen MOR noch stärker beeindruckt als beim ersten Mal. Das liegt an der Museumsarchitektur, dem gelungenen VR-Interface und der erweiterten Kunstsammlung. Die Entwickler beweisen, dass sie den nötigen Ehrgeiz haben, um eine solche Plattform voranzutreiben. Das nächste Mal nehme ich jemanden auf meinen VR-Museumsbesuch mit, denn Kunst wird noch schöner, wenn sie gemeinsam erlebt und diskutiert wird.

Dieser Beitrag erschien am 17. Mai 2020 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

Die besten VR-Apps für virtuelle Reisen

Im Laufe der letzten Jahre testete ich eine Vielzahl von VR-Apps, die mich an fotorealistische Duplikate realer Orte führten. Viele dieser Landschaften und Kulturstätten wurden mithilfe von Fotogrammetrie digitalisiert. Bei diesem Verfahren wird eine Umgebung aus zahlreichen Perspektiven fotografiert und die Einzelbilder anschließend zu einem digitalen 3D-Ebenbild des Ortes vernäht. Mit einer VR-Brille kann man die digitale Kopie anschließend von allen Seiten betrachten und begehen.

Interessierten kann ich folgende VR-Apps empfehlen:

  • Blautopf VR
  • Blueplanet VR
  • Chernobyl VR Project
  • Everest VR
  • Il Divino: Michelangelo’s Sistine Ceiling in VR
  • The Last Goodbye
  • Nefertari: Journey to Eternity
  • Realities
  • The Homestead
  • Titanic VR
  • Versailles VR
  • Zen Universe

Mehr Informationen sowie Links zu den Apps stehen bei MIXED.