Im Juni 2016 sagte ich der Schweiz Lebewohl. Mit nichts als einem Koffer in der Hand, der so ziemlich alles enthielt, was mir aus der Schweiz geblieben war, bestieg ich das Flugzeug am Basler Euroairport und wanderte nach Kroatien aus.
Mein erster voller Sommer an der Adria war schön. So schön, dass er mich das Land, in dem ich aufwuchs und mein bisheriges Leben verbrachte, vorübergehend vergessen ließ. Das änderte sich, als der Herbst allmählich in den Winter überging und ich unverhofft Gelegenheit erhielt, Basel einen Besuch abzustatten. In der Grenzstadt hatte ich die letzten zehn Jahre meines Lebens verbracht, studiert und Freunde gefunden. Meine Reise nach Basel war ungewöhnlicher Natur: Ich reiste nicht etwa mit dem Flugzeug, der Bahn oder dem Bus in die Schweiz. Ich begab mich mittels VR-Brille nach Basel.
Im November 2016 erschien die VR-App Google Earth VR, eine neue Version von Googles digitalem Globus, die von Grund auf für Virtual Reality entwickelt wurde und blitzschnelle virtuelle Reisen an jeden Ort der Welt erlaubt. Da stehe ich also in meiner Wohnung, rücke mir die VR-Brille zurecht und starte voller Erwartung Google Earth VR.
Im nächsten Augenblick schwebe ich mitten im Weltall und sehe die Erdkugel erhaben vor mir schweben. Eine Seite des Planeten ist in Licht, die andere in Dunkelheit getaucht. Ich gehe etwas näher heran und erkenne im Dunkel die glitzernden Lichter der Zivilisation. Mit dem Controller greife ich nach der Kugel und drehe sie und sehe Afrika, Asien, Amerika in Sekunden an mir vorüberfliegen. Dann zeige ich auf einen Punkt an der Adria und stürze der Erde entgegen, die sich in alle Richtungen ausbreitet, während ich selbst kleiner und kleiner werde. Während meines Flugs werfe ich einen Blick zur Seite und erkenne, dass ich in jene magische Zone zwischen Himmel und Erde eintrete, in welcher die Planetenoberfläche rund und zugleich flach erscheint.
Als Erstes besuche ich die Küstenstadt Split, in der ich den Sommer verbrachte. Während draußen in der physischen Welt ein eiskalter Wind bläst, suche ich in Virtual Reality die sommerlichen Orte und Strände auf, in denen ich wenige Monate zuvor meine Freizeit verbrachte. Danach mache ich einen kurzen Abstecher nach New York und Paris und schaue mir Sehenswürdigkeiten an. Dabei stampfe ich wie Godzilla mit Riesenschritten durch die Städte, die sich wie eine Modellbauwelt um mich herum ausbreitet.
Mein letztes Reiseziel ist Basel. Dort angekommen, lasse ich mich auf die Größe eines Menschen schrumpfen und besuche der Reihe nach die Orte, die mir etwas bedeuten: das Universitätsgelände, die äußeren Quartiere, in die ich regelmäßige Ausflüge unternahm und den Kannenfeldpark, in dessen Nähe ich wohnte. Dabei wird mir bewusst, wie wenig ich in den vergangenen Monate an die Stadt und mein früheres Leben in der Schweiz dachte.
Wirkte das virtuelle Basel aus der Entfernung noch sehr real, verflüchtigt sich jetzt die Illusion, eine echte Stadt vor mir zu haben: Die 3D-Modelle wirken grob und deren Oberflächen eilig bemalt. Aus der Nähe sieht das virtuelle Basel aus, als hätte der Verhüllungskünstler Christo sie unter bunten Tüchern versteckt. Zum Schluss besuche ich die Kleinbasler Altstadt und laufe die Rheinpromenade hinab, die ich während der letzten zehn Jahre unzählige Male hinauf- und hinabging. Mit dem Controller greife ich nach der Sonne und schleife sie entlang ihrer Bahn bis zum Horizont, sodass es Nacht wird und die Sterne hervortreten.
Nun ist es ganz still. Und während ich so am Rhein sitze, allein in dieser Geisterstadt, die zugleich Basel ist und nicht ist, überkommt mich urplötzlich und unerwartet ein rasendes Heimweh, das noch Stunden andauert und mich in den folgenden Nächten wieder und wieder von der Stadt träumen lässt.
Die Macht dieser Erfahrung zeigt, dass Google Earth VR zu den stärksten Anwendungen der Virtual Reality gehört. Man könnte sagen, dass sie in der Technologie ihr ideales Medium gefunden hat: Weil die Welt räumlich und begehbar ist, funktioniert Google Earth in Virtual Reality viel besser als auf einem Monitor. Man sieht die Welt nicht bloß, man erfährt sie.
„Es liegen Welten dazwischen, ob man eine Beschreibung darüber liest, wie es ist, durch Paris zu spazieren, ob man ein Video über Paris anschaut, oder ob man Paris tatsächlich besucht“, sagt Clay Bavor, der Googles Abteilung für Virtual und Augmented Reality leitet. Bavor sieht in der Erfahrung die mächtigste und reichhaltigste Art von Information, für deren Vermittlung sich Virtual Reality wie kein anderes Medium eigne.
Es muss dieses ganzheitliche Erleben gewesen sein, dieses Gefühl von Anwesenheit, das so urgewaltig all die Erinnerungen an diese Stadt weckte. In Google Earth VR ist erst ein verschwindend geringer Teil der Erdoberfläche als 3D-Modell umgesetzt und selbst diese Gebiete spiegeln das Erscheinungsbild der Welt nur unzureichend wider.
Mit der fortschreitenden Digitalisierung der Welt dürfte sich das ändern, wodurch virtuelle Ausflüge und Zeitreisen denkbar wären, da man die architektonische Entwicklung von Städten beobachten können wird. Das heutige Google Earth VR kratzt derzeit nur an der Oberfläche dessen, was möglich wäre, wenn die Welt erst einmal vollständig digitalisiert ist.
Aber besteht dadurch nicht die Gefahr, dass die virtuelle die reale Welt eines Tages ersetzt? Werden Menschen überhaupt noch vor die Tür gehen wollen, wenn man mit der VR-Brille überallhin reisen können wird? Der französische Philosoph Jean Baudrillard sah in der fortschreitenden Digitalisierung eine große Gefahr. Die Menschheit würde an einen Punkt kommen, an dem sie zwischen dem Reellen und Virtuellen nicht mehr unterscheiden kann. Dann gäbe es nur noch das „Hyperreale“, das auf keinen realen Gegenstand mehr verweist, warnte der Philosoph.
Im Frühjahr 2017 stattete ich Basel erneut einen Besuch ab. Dieses Mal ganz konventionell mit dem Flugzeug. Ich war auf der Durchreise und hatte nur wenig Zeit, sodass es lediglich für einen kurzen Spaziergang am Rhein entlang reichte. Zu meinem Erstaunen hat das Wiedersehen mit dem echten Basel kein so starkes Heimweh ausgelöst wie meine virtuelle Reise wenige Monate zuvor. Womöglich lag das daran, dass das virtuelle Basel unvollendet und nur ein vergleichsweise grobes Modell der wirklichen Stadt war. In dieser abstrakteren Form konnte es, einem Traumgebilde ähnlich, zu einer Projektionsfläche meiner Erinnerungen, Gefühle und Sehnsüchte werden.
Am Ende war es also nicht das echte Basel, sondern sein virtuelles Gegenstück, das Erinnerungen an reale Orte und Begebenheiten hervorrief. Darin leben, das würde ich nicht wollen. Aber hin und wieder in das virtuelle Basel zurückkehren – in Ermangelung der Möglichkeit physischen Reisens – und in der Vergangenheit schwelgen. Kann das etwas Schlechtes sein?
Dieser Beitrag erschien am 18. März 2017 unter dem Titel „So real fühlen sich virtuelle Reisen“ in der Schweiz am Wochenende und am 21. März 2020 in überarbeiteter und erweiterter Form bei MIXED.