„Wenn Räume sprechen könnten” – Anne Franks Zuflucht in VR

Zu 89. Geburtstag Anne Franks veröffentlichte Oculus eine Erfahrung, die VR-Nutzer auf einen Rundgang durch das Hinterhaus mitnimmt, in dem sich das deutsch-jüdische Mädchen mit ihrer Familie und Freunden vor den Nazis versteckt hielt. Ich habe die Räume in der Prinsengracht 263 mit der VR-Brille besucht.

Die VR-Erfahrung beginnt mit einer historischen Kontextualisierung: Aus dem Dunkel tauchen Bilder und Filmaufnahmen in Schwarzweiß auf, die den Aufstieg des Nationalsozialismus und die beginnende Judenverfolgung dokumentieren. Man erfährt, dass die Familie Frank nach der Machtergreifung der Nazis nach Amsterdam übersiedelte und hier einige Jahre in Frieden lebte, bis der Krieg und die Besetzung des Landes durch die Nazis sie einholte. Um eine Deportation zu verhindern, tauchten die Franks im Hinterhaus eines Firmengebäudes unter.

Nach dieser kurzen Einführung findet man sich in einem schmalen Raum vor dem Bücherregal wieder, hinter dem sich der Eingang zum Hinterhaus versteckt. Hier lebte Anne Frank während mehr als zwei Jahren mit ihren Eltern, ihrer Schwester sowie vier Freunden der Familie. In der nächsten halben Stunde springt man von Raum zu Raum und kann sich dank VR-Brille frei umschauen. Die Umgebungen sind vorgerenderte 360-Grad-Bilder, die durch ihre Schärfe und ihren Detailgrad fast fotorealistisch wirken. Subtile Effekte wie aufwirbelnder Staub, der im einfallenden Licht der Fenster leuchtet, hauchen den statischen Schauplätzen Leben ein und verstärken die Illusion, an einem anderen Ort zu sein.

Anne_Frank_VR_Schreibtisch

Einen Nachteil hat dieses Darstellungsverfahren jedoch: Die Raumperspektive ist fix vorgegeben, sodass man den Kopf nicht in den Raum hinein bewegen kann. Das gilt selbst für die Oculus Rift-Version, die inhaltlich identisch ist mit den mobilen Varianten der VR-Erfahrung (nachträgliche Anmerkung des Autors: Die im Sommer 2019 erschienene Oculus Quest-Version ermöglicht räumliches Erkunden der Zuflucht).

Nach der Verhaftung durch die Nazis im August 1944 wurde das Hinterhaus von der Gestapo geräumt. Die Räume sind auf Wunsch des überlebenden Familienvaters Otto Frank unmöbliert geblieben. Das Besondere an der VR-Erfahrung: Die Inneneinrichtung wurde digital rekonstruiert und zeigt die Räume des Hinterhauses, so wie sie ausgesehen haben mochten, als sich die Franks und ihre Freunde darin versteckten. Anstatt kahler Wände wie im echten Anne-Frank-Haus sieht man hier Lebensräume.

Besonders eindrucksvoll: Das Zimmer, das sich Anne Frank mit dem Zahnarzt Fritz Pfeffer teilte und das mit Fotos von Filmstars und Kunstwerken aus der Postkartensammlung des Mädchens dekoriert ist. Hier hätte ich mir gewünscht, frei im Raum umhergehen, die Fotos in die Hand nehmen und aus der Nähe betrachten zu können – etwas, das nur in der Virtual Reality möglich ist.

Da man in der VR-Erfahrung zwischen vordefinierten Punkten von Raum zu Raum springt, fällt es mitunter schwer, sich eine durchgängige Vorstellung des vierstöckigen Verstecks zu machen. Bei der Orientierung hilft eine einblendbare Karte, die das Hinterhaus in einer Durchsicht und die einzelnen Räume im Grundriss zeigt. In jedem Raum hört man Ausschnitte aus Anne Franks Tagebuch, die von einer Synchronsprecherin in einer von sieben Sprachen, darunter auch Deutsch, vorgelesen werden. So erfährt man nach und nach, mit welchen Einschränkungen die Untergetauchten lebten: Dass sie mucksmäuschenstill sein und über längere Perioden die immergleiche Mahlzeit zu sich nehmen mussten.

Anne_Frank_VR_Zimmer

Ans Fenster treten, den Vorhang beiseiteschieben und hinausschauen – selbst dies war den Versteckten nicht gestattet, da sie auf keinen Fall gesehen werden durften. Die VR-Erfahrung lässt diese unbefriedigte Sehnsucht nach der Welt und dem Leben draußen ein Stück weit nachempfinden: Man vernimmt durch Geräusche, was draußen vor sich geht, doch durch die von der strahlenden Sonne hell erleuchteten Vorhänge sieht man nichts.

Eine Vorstellung von der Beengtheit dieses Lebensraums zu geben, das gelingt der VR-Erfahrung außerordentlich gut. So versteht man erst, was das Schreiben Anne Frank bedeutete: Eine Zuflucht in eine andere, innere, geistige Welt, die sie mit einer Freiheit erforschen konnte, die ihr in der echten nicht gestattet war.

„Anne Frank House VR“ erzählt die Geschichte des deutsch-jüdischen Mädchens ohne Pathos und Umschweife, indem es allein dessen Lebensräume und Tagebuch sprechen lässt. Die VR-App ist eine der bislang eindrucksvollsten Bildungserfahrungen für Virtual Reality und ein Erlebnis, das so in keinem anderen Medium umsetzbar ist. Wer eine kompatible VR-Brille besitzt, hat mit Anne Frank VR eine gute Möglichkeit, das ehemalige Versteck der Franks im Detail kennenzulernen, ohne dafür eigens nach Amsterdam zu reisen.

Dieser Beitrag erschien am 25. Juni 2018 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.