“Viens!” – ein erotischer VR-Kunstfilm

Virtual Reality ist das sinnlichste aller Medien. Das beweist ein fulminanter 360-Grad-Kunstfilm des französischen Filmemachers Michel Reilhac, der Zuschauer zum Mittelpunkt eines tantrischen Liebesspiels macht.

„Komm!“ sagt schon der Titel. Doch wohin? Ich finde mich in einem hellen Raum wieder, umgeben von weißen, flatternden Tüchern. Dahinter taucht plötzlich ein nackter Mann auf, daraufhin eine nackte Frau und wenige Sekunden später bin ich von nackten Menschen umkreist, die sich zärtlich berühren und küssen.

Die Darsteller sind keine Models mit perfekten Gesichtern und Körpern, sondern normale Menschen, wie man ihnen täglich auf der Straße begegnet. Darunter sind Weiße, ein dunkelhäutiger Mann und eine Asiatin. Bei manchen lässt sich schwer sagen, ob es sich um einen Mann, eine Frau oder etwas dazwischen handelt.

Der Film verwischt bewusst Grenzen: Das Geschlecht, die Ethnizität, ja selbst die sexuelle Orientierung spielt keine Rolle. Denn hier berühren und küssen sich alle. Und inmitten dieses sinnlichen Liebesreigens sitzt verblüfft der Zuschauer und weiß bald nicht mehr, wo ihm der Kopf steht.

Viens

Der Zuschauer taucht ein – in ein Meer aus Körpern. | Bild: Michel Reilhac

Der Film bietet nicht nur auf inhaltlicher Ebene Ungewohntes. Einzigartig macht ihn, wie er die Besonderheiten des Mediums ausnutzt. So wirkt die typische Rundumsicht besonders eindrucksvoll in einer Szene, in der die äußere Welt in einem Meer aus sich liebender Körper versinkt, die sich ineinander drehen und winden.

In einer weiteren Szene nutzt Reilhac einen ebenso einfachen, wie genialen Kunstgriff und lässt die Welt auf eine Weise aus den Fugen geraten, die selbst den abgebrühtesten VR-Nutzer nach Luft schnappen lässt – ein unglaublicher Effekt, der mit der menschlichen Wahrnehmung spielt und so in keinem anderen Medium umsetzbar wäre.

Der Filmemacher setzt außerdem gezielt auf Augenkontakt, um den Zuschauer in die erotische Handlung einzubinden. „Meine Hoffnung ist, dass über Augenkontakt eine Verbindung zwischen Darstellern und Zuschauern entsteht. Sie sollen sich wohl und willkommen fühlen in der Welt, in der sie sich aufhalten“, sagt Reilhac in einem Video-Interview.

Ist Viens! ein Porno? Der Regisseur verneint: „Es ist ein erotischer Film, es geht um Sex und Nacktheit, aber es ist keine Pornografie. Es geht nicht darum, den Zuschauer zu erregen. Der Film soll ihm stattdessen helfen, die sexuelle Energie in etwas anderes Höheres zu verwandeln“, meint der Regisseur. Die VR-Erfahrung ist laut Reilhac von der indischen Tantra-Philosophie inspiriert, die lehrt, wie Sex zu einer spirituellen Erfahrung wird.

Dieser Beitrag erschien am 18. April 2018 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.

Ich sah Menschen mit VR-Brillen und fand sie schön

Das Bild eines Menschen mit VR-Brille im Gesicht wirkt befremdlich: Die Person hat ein Gehäuse im Gesicht sitzen, schirmt sich bewusst gegen seine Umwelt ab und der Augenkontakt bleibt verwehrt. Noch abschreckender wirkt dieses Bild, wenn eine Horde Menschen VR-Brille trägt, wie auf einer berühmten Fotografie aus dem Jahr 2016. Sie zeigt Mark Zuckerberg auf dem Mobile World Congress, wie er an einem Heer von Messebesuchern mit VR-Brillen vorbeimarschiert.

Im Frühjahr 2018 besuchte ich das Lichter Filmfest in Frankfurt und wurde zum ersten Mal mit einem ähnlichen Anblick konfrontiert. Zu meiner Überraschung fand ich ihn alles andere als unheimlich.

Zuckerberg_VR_Brillen

Im Saal des Zoo Gesellschaftshauses hatten sich dreißig Menschen eingefunden, die sich im Rahmen des VR-Programms ausgewählte 360-Grad-Filme ansahen.

Im Saal war es andächtig still. Das lag zum einen daran, dass der Vorführraum für die Besucher des VR-Screenings reserviert war. Zum anderen hatten die Gäste Kopfhörer aufgesetzt und waren in die Filme vertieft. Was ich sah, erinnerte an die Stille von Kunstgalerien oder sakraler Orte, in denen sich Menschen einfinden, um nachzudenken oder zu beten.

Die Filme wurden auf allen VR-Brillen gleichzeitig abgespielt. Die Gäste nahmen voneinander keine Notiz, aber man hörte immer wieder, wie ein Raunen durch den Saal ging oder einzelne Besucher gleichzeitig lachten – als wären sie auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden.

Wie entstehen die Bilder, die wir uns von Menschen machen, die in ein Medium vertieft sind? Weshalb wirkt der Anblick eines lesenden Menschen meist schön? Und weshalb ist es weniger entzückend, wenn wir jemanden sehen, der in einen Computerbildschirm starrt oder auf ein Smartphone blickt? Liegt das an dem Medium selbst und den Inhalten, die konsumiert werden? Oder wird diese Wahrnehmung durch etwas Externes bestimmt, durch gesellschaftliche Erwartungen und individuelle Wertvorstellungen?

Leseszene_Park

Smartphone_Szene_U_Bahn

Die Massenmedien prägen das Bild, das sich die Gesellschaft und Individuen von Medienkonsum machen, ob sie uns gefallen oder unheimlich oder gar abschreckend wirken. Sie zeigen jedoch kein vollständiges Bild und stehen meist in einem Kontext, der das Motiv rahmt und ihm so eine bestimmte Bedeutung gibt.

Das berühmte Foto von Mark Zuckerberg aus dem Jahr 2016 ist womöglich deshalb verstörend, weil es eine Zukunft vorwegnimmt, in der Facebook mittels Virtual Reality das Bewusstsein seiner Nutzer beeinflusst.

Meine Erfahrung vom Lichter Filmfest zeigte mir, dass Menschen mit VR-Brillen im Gesicht auch ganz anders wirken können. Zum Beispiel dann, wenn sie Filme schauen und Kunst erfahren. Das war ein bewegendes Erlebnis.

Dieser Beitrag erschien am 10. April 2018 bei MIXED und wurde für dieses Blog überarbeitet.